Europäische Volkspartei: «Sicher, man hätte Orban auch totschlagen können»
Das Lavieren der EVP im Zwist mit dem ungarischen Premier ist ein Indiz für den ideologischen Rechtsschwenk von Europas Konservativen vor den Wahlen zum EU-Parlament – allerdings nicht das einzige.
Ein Charismatiker ist Manfred Weber nicht, eher versprüht der CSU-Politiker den spröden Charme eines Sparkassenangestellten – was wohl auch daran liegt, dass dem 46-Jährigen seine bayerische Herkunft deutlich anzuhören ist. So klingt es hölzern, wenn der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) im Hinblick auf die Ende Mai anstehenden Wahlen zum EU-Parlament eifrig betont, dass er mit seiner Kandidatur neue «Lust auf Europa» wecken und die Union «gegen die Nationalisten verteidigen» möchte. Immerhin: Es ist nicht selbstverständlich, dass solche Worte aus dem Mund eines prominenten Vertreters der rechtskonservativen CSU kommen.
Mit NationalistInnen hat Weber jedenfalls schon in den eigenen Reihen alle Hände voll zu tun, in der CSU wie in der EVP. Mitten im Wahlkampf sorgte zuletzt das schwierige Verhältnis der ChristdemokratInnen zu Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban für Aufsehen. Dessen Partei Fidesz zählte bis vor kurzem ebenfalls zur christdemokratischen Parteienfamilie: Mitte März entschied die EVP, die Mitgliedschaft des Fidesz zu suspendieren, nachdem die Partei in Ungarn eine antieuropäische Plakatkampagne gestartet hatte.
Autoritär und antisemitisch
Die christdemokratische Distanzierung vom Fidesz erfolgt ziemlich spät – spät allein schon deswegen, weil Orban die liberal-demokratischen Institutionen seines Landes schon lange mit Füssen tritt, die Opposition drangsaliert und eine antisemitische Kampagne dirigiert, die den in Ungarn geborenen US-Milliardär George Soros ins Visier nimmt.
Auf den jüngsten Plakaten, die zum Zerwürfnis mit der EVP führten, war ebenfalls der jüdischstämmige Soros abgebildet, gemeinsam mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der pikanterweise EVP-Politiker ist. Im Text unter den beiden Porträtierten hiess es, Juncker und Soros würden die illegale Einwanderung nach Ungarn fördern.
Damit hat Orban wohl den Bogen überspannt. Die EVP hat dem Fidesz das Stimmrecht in der Fraktion aberkannt, und die Partei darf auch keine KandidatInnen für zu besetzende Posten stellen. Bis auf weiteres zumindest: Ein definitiver Entscheid der ChristdemokratInnen in Sachen Orban ist nämlich erst nach der Europawahl zu erwarten. Was bedeutet das für den politischen Kurs der ChristdemokratInnen?
Viele KommentatorInnen kritisieren die Suspendierung des Fidesz als «halbherzig» – schliesslich ist sie noch kein Ausschluss. Bei der EVP selbst sieht man das ganz anders. «Halbherzig? Wieso das denn? Da wird jemand für unbegrenzte Zeit suspendiert, verliert alle Ämter, kann an Sitzungen nicht mehr teilnehmen – was soll man denn sonst noch machen?», echauffiert sich der deutsche CDU-Politiker Elmar Brok, der seit 1980 für die EVP im EU-Parlament sitzt. Überhaupt sei es ein Ausweis der Doppelmoral, dass nun wegen Orban alle über die EVP herfallen würden, während gleichzeitig nirgends etwas Kritisches über Europas SozialistInnen und deren Schweigen zum antidemokratischen Gebaren der sozialdemokratischen Regierung Rumäniens zu lesen sei (siehe WOZ Nr. 33/2018 ).
Ähnlich argumentierten zuletzt auch Weber und andere Vertreter der EVP – gemäss dem Motto: Schaut doch mal auf die anderen, die sind auch nicht besser! Auf den Einwand, dass unabhängig von der politischen Konkurrenz und deren Problemfällen die ChristdemokratInnen Orban hätten ausschliessen können, erwidert EVP-Politiker Brok sarkastisch: «Sicher hätte man das tun können, man hätte Orban auch totschlagen können.» Von einem Rechtsruck der europäischen Konservativen will er nichts wissen: «Wir sind eine Volkspartei der Mitte – ohne jede Gefahr, nach rechts zu rutschen.»
Machtpolitisches Kalkül
Eine ganz anders lautende Einschätzung bekommt man dagegen zu hören, wenn man bei Gilbert Casasus nachfragt. Der Professor für Europastudien an der Universität Fribourg hält die Suspendierung des Fidesz für eine «Mogelpackung»: «Es wird hier der Anschein einer Sanktion erweckt, aber es ist durchaus möglich, dass die EVP nach der Europawahl einfach wieder alles vergessen hat und sagt: Wir machen mit Orban weiter», so der Politologe.
Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die EVP einen totalen Bruch mit Orban aus taktischen Erwägungen nicht riskieren will – zumindest nicht bei den derzeitigen Kräfteverhältnissen in Europa. Bei den Wahlen zum EU-Parlament drohen nicht nur den Sozial-, sondern auch den ChristdemokratInnen Verluste. Die EVP will jedoch weiter den Präsidenten der Europäischen Kommission stellen; noch hat Juncker diesen Posten inne, der Luxemburger soll aber von CSU-Mann Weber beerbt werden.
Der Kommissionspräsident wird vom EU-Parlament gewählt; es könnte also sein, dass die EVP auf die Stimmen der Fidesz-Abgeordneten angewiesen ist. Dies gilt umso mehr, da es in Europa bedeutende Kräfte gibt, die auf keinen Fall einen Deutschen auf Juncker folgen sehen möchten – allen voran Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich seit Monaten in seinen Reformplänen für die EU von Berlin ausgebremst sieht. Auch in Südeuropa, wo man unter der von Deutschland eisern durchgesetzten Sparpolitik ächzt, dürfte Weber nicht viele Fans haben. Das erklärt, warum die ChristdemokratInnen davor zurückschrecken, die Brücken zu Orban abzubrechen.
Hardliner geben den Ton an
Politologe Casasus warnt allerdings davor, sich zu sehr auf die Causa Orban zu fokussieren. «Man muss sich klarmachen, dass derzeit ein deutlicher Rechtsruck innerhalb der EVP stattfindet, ganz unabhängig von der Frage, wie sich die Partei nun genau gegenüber dem Fidesz positioniert», sagt der Europawissenschaftler. Ein Indiz für diese These findet man etwa in Frankreich: Unter Laurent Wauquiez sind dort die konservativen Républicains weit nach rechts gerückt, auch weil sie von Macrons zentristischer Partei in die Enge getrieben wurden. In Österreich regiert derweil mit Sebastian Kurz ein konservativer Hardliner, der sich zwar ein jugendliches Image verpasst hat, aber mit Rechtsaussen koaliert.
Und auch in Deutschland blinken die Konservativen rechts. Beleg dafür ist, dass Annegret Kramp-Karrenbauer Angela Merkel als CDU-Vorsitzende beerbt hat und ihr auch als Kanzlerin nachfolgen könnte. «Kramp-Karrenbauer ist aber nicht einfach eine 1 : 1-Kopie von Merkel», sagt Casasus. Das habe etwa kürzlich ihre schroffe Absage an Macrons Vorstoss, mehr europäische Kooperation in der Finanz- und Sozialpolitik zu forcieren, gezeigt. «Vor ein paar Monaten hätte man vielleicht glauben können, Frankreich und Deutschland könnten womöglich eine neue Grundlage für die Erneuerung Europas schaffen. Heute aber ist klar, dass diese Hoffnung in weite Ferne rückt», sagt Casasus.
Viktor Orban jedenfalls zeigt sich von der Suspendierung durch seine europäischen ParteifreundInnen wenig beeindruckt. Erst vor einigen Tagen polemisierte er erneut gegen Brüssel: Die «Bürokratenelite» dort habe den «Bezug zur Realität verloren».