Fotografie: Er zeigt das Grauen, nicht die Gräuel
Der Konflikt zwischen Israel und Palästina hat sich über Jahrzehnte in Köpfen und Körpern festgesetzt. Meinrad Schade zeigt in einem neuen Bildband, was Krieg anrichtet und wie er die Gesellschaften verändert.
Pro-israelisch? Pro-palästinensisch? Was immer das eigentlich auch heissen mag – es gibt kaum einen anderen Konflikt, bei dem die allermeisten Menschen so dezidiert und auch emotional Partei ergreifen. Über siebzig Jahre dauert dieser Krieg um Land, Macht und Ressourcen nun schon, und die Aussichten auf einen gerechten und dauerhaften Frieden schwinden immer mehr. «Unresolved», also ungelöst, heisst darum das neue Buch des Schweizer Fotografen Meinrad Schade mit Bildern aus dem Konfliktgebiet: aus Israel und den von Israel besetzten Gebieten in Palästina und Syrien.
Neben dem englischen Titel «Unresolved» finden sich im Buch auch die arabischen und hebräischen Schriftzeichen für «ungelöst». Die vier Sprachen Arabisch, Deutsch, Englisch und Hebräisch sind in dem Bildband absolut gleichwertig eingesetzt. Die kurzen Texte lesen sich, je nach Sprache, von rechts nach links oder von links nach rechts, und die Reihenfolge der Sprachen wechselt von Seite zu Seite, von Bild zu Bild. In einer Art historisch-völkerrechtlichem Glossar definiert Schade vorab kurz die vier geografischen und politischen Schlüsselbegriffe Israel, Westjordanland, Golanhöhen und Gazastreifen. Mit dieser strikten sprachlichen und politischen Neutralität bekundet Schade: Es geht ihm mit seinen Fotografien nicht um pro-irgendetwas. Er zeigt nur die Bilder dieses Kriegs, auf beiden Seiten.
Puppen, die bluten
Schade fotografiert weit hinter den jeweiligen Fronten. Er dokumentiert den Krieg in den Köpfen, den Krieg als konstituierendes Element der palästinensischen wie auch der israelischen Gesellschaft. Hinter den Fronten besteht der Krieg aus Kulissen und Attrappen, bedrohlichen wie beschönigenden: eine palästinensische Stadt, die gar nicht existiert – denn sie wurde als Trainingsgelände für israelische Einheiten für den Häuserkampf gebaut. Puppen, die bluten und die sprechen und schreien können – mit ihnen üben SanitätssoldatInnen Erste Hilfe für Anschlagsopfer. Ein Künstler, der sich selber als Kriegsopfer ausstellt. Ein Künstler, der einem Bunker eine blumige Fassade verschafft, im Auftrag der Behörden. Trostlose Szenerien auch: ein Ökohaus in einer illegalen Siedlung. Eine brennende Müllkippe im Westjordanland.
Dann die Museen und die Stätten der Erinnerung: Waffenkult und Kriegsverherrlichung, «Helden» und «Märtyrer», Trauer und Gedenken. Der ungelöste Konflikt muss seine ProtagonistInnen immer wieder neu produzieren – und die Konfliktparteien brauchen immer wieder neue Legitimierungen für ihren Krieg, über Generationen hinweg. Zur deshalb notwendigen Glorifizierung des Kriegs gehören das Ansehen und der schauerliche Appeal von israelischen Eliteeinheiten und vermummten palästinensischen Kämpfern. Das vielleicht groteskeste Bild zeigt palästinensische Paintballspieler. Offen bleibt, ob sie von Krieg und Waffen einfach nicht genug bekommen können oder ob sie angesichts ihrer militärischen Ohnmacht als Ersatzhandlung Krieg spielen.
Im Namen der Sicherheit
Schade richtet den Blick auf die Normalität, die dieser Krieg in beiden Gesellschaften angerichtet hat. Er zeigt eine Tanzaufführung von kriegsversehrten RollstuhlfahrerInnen, ArmeemusikerInnen beim Stimmen der Instrumente, Läufer am Palästinamarathon zwischen der Mauer und einem Flüchtlingslager. Und er zeigt die Demütigungen, die die PalästinenserInnen aushalten müssen; die Kollektivstrafen, die sie im Namen der Sicherheit erleiden. In der israelisch-palästinensischen Wirklichkeit bleibt jederzeit sichtbar, wer Besatzer und wer Besetzte sind und wie die Machtverhältnisse liegen. Schades Verzicht auf Parteinahme verschleiert diese Realität nicht.
Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich Schade mit Konflikten, mit kalten und heisseren, mit ruhenden und oberflächlich überwundenen. Trotzdem ist er kein Kriegsreporter. Schade sucht vielmehr nach den Langzeitfolgen von Konflikten, den Schäden, die sie in Köpfen und Körpern anrichten, den Mutationen in der Gesellschaft. So kann er das Grauen des Kriegs zeigen, ohne die Gräuel selbst abbilden zu müssen. «Krieg ohne Krieg» heisst sein Langzeitprojekt. Er fotografierte schon in Bergkarabach, Tschetschenien, Inguschetien, in der Ukraine, in Russland und Kasachstan. Und seit 2013 eben auch in Israel und Palästina.
Perspektiven, die sich gegenseitig ausschliessen, gehören wohl zu jedem Konflikt. Obwohl «Unresolved» viersprachig erschienen ist, ist deshalb kaum anzunehmen, dass Schades Bilder, der Blick des Schweizer Fotografen also, von israelischen und arabischen BetrachterInnen gleich gesehen werden. Dennoch möchte man gerne wissen, wie dieses Buch in Palästina und Israel aufgenommen wird.
Meinrad Schade: Unresolved. Bildessay. Verlag Scheidegger & Spiess. Zürich 2018. 188 Seiten, 76 farbige Abbildungen. 49 Franken