Halbzeitwahlen in den USA: Von links aufgerollt

Nr. 25 –

Bei den Kongresswahlen im Herbst hoffen die DemokratInnen auf einen Aufschwung. Dabei kämpft eine junge Generation gegen das Parteiestablishment und will die Partei nach links ziehen. Eine Reise durch Pennsylvania im Wahlkampf.

  • Kümmert sich auch um Gegenden Lancasters, wo sich niemand Rucola für sechs Dollar leisten kann: Jess King will für die DemokratInnen ins Repräsentantenhaus.
  • Resultatemonitoring: In ganz Pennsylvania gewinnen Linke die Vorwahlen der DemokratInnen.
  • Rafael Diaz, Campaigner: «Wir sind eine Generation lang einer Lüge aufgesessen.»
  • Wo sich Amish-Kutsche und Farmer-Pick-up Gute Nacht sagen: Die DemokratInnen hatten die Distrikte um Lancaster aufgegeben.
  • Becca Rast, Wahlkampfmanagerin, setzt auf linken Populismus.
  • Bechern gegen das Establishment: Wahlgewinnerin Jess King verteilt Bier an ihrer Wahlparty.

Im Süden von Philadelphia: Vor einer Backsteinfassade flattert die US-amerikanische Flagge. Nikil Saval klopft an eine blaue Tür, eine Mittfünfzigerin macht auf. Saval bringt keinen ganzen Satz heraus, bevor sie ihm mit Verweis auf ihr Telefon die Tür vor der Nase zuknallt. «Hi, ich bin von der Demokratischen …» Savals hagere Schultern sacken enttäuscht zusammen. «Ich schreib mal ‹nicht zu Hause›», murmelt er und macht sich eine Notiz auf seinem Clipboard.

Wahlkampf in Pennsylvania und den ganzen USA. Die Demokratische und die Republikanische Partei loten diesen Mai in «Primaries» genannten Vorwahlen aus, wer im Herbst antritt, wenn die Hälfte des Parlaments neu gewählt wird. Die «Midterms», immer zur Hälfte der präsidialen Amtszeit, sind die Hoffnung der DemokratInnen, den RepublikanerInnen den Kongress zu entreissen. Alles deutet auf eine «blue wave», eine demokratische Welle, hin. Der Swing State Pennsylvania, der mal links, mal rechts wählt, gilt dabei als zentral. Die Midterms wecken aber auch die Hoffnungen von AktivistInnen wie Saval, der Parteielite die Kontrolle zu entreissen. Die demokratische Welle soll zu einer linken werden. Es ist ein erbitterter Kampf um die Zukunft der 200 Jahre alten Partei.

Heute hat Nikil Saval Glück. Ausser der telefonierenden Frau begegnen ihm an diesem sonnigen Nachmittag nur Fans. «Awesome!» oder «You guys totally have my vote!», sprudelt amerikanischer Enthusiasmus aus backsteinernen Einfamilienhäusern. Saval, sonst Redaktor des Literaturmagazins «n + 1», kandidiert als Bezirksvertreter der DemokratInnen. Eine unwichtige Position, denken die etablierten DemokratInnen: weit weg vom Machtzentrum in Washington, obwohl dieses nur eine Stunde Zugfahrt südlich liegt. Doch Saval hat einen Plan: Die Bezirke wählen die Parteivorsitzenden der Stadt. Die bestimmen, wer für höhere Posten kandidiert, etwa als Bürgermeister. «Philly ist fest in demokratischer Hand», sagt Saval, «doch das ist bedeutungslos mit so einer Partei.» Sein Bericht über demokratische Lokalpolitik klingt mehr nach stockbürgerlich als nach sozialdemokratisch. Die Partei unterstützt Charter Schools, steuerlich begünstigte Privatschulen, sperrt sich gegen die Anhebung des Mindestlohns und verfolgt eine Law-and-Order-Politik: mehr Polizei, strengere Haftstrafen, weniger Sozialarbeit. Die Demokratische Partei sei die älteste kapitalistische Partei der Welt, sagt Nikil Saval, oft stehe sie echten Verbesserungen im Weg. Darum will er Stufe für Stufe die Parteihierarchie für die Linke erobern.

Saval ist Teil von Reclaim Philadelphia, einer Organisation von Freiwilligen, die für den Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders arbeiteten. Als Hillary Clinton Sanders besiegte, wollten die AktivistInnen die Partei nicht Clinton-nahen FunktionärInnen überlassen, die seit dreissig Jahren die Kontrolle ausüben. US-amerikanische Parteien haben keine Mitglieder, die Leitung ist keiner Basis verpflichtet, nur den GeldgeberInnen. Seit 2016 spriessen solche Organisationen aus dem Boden, als wäre im Herzen des Kapitalismus die Linke aus einem langen Winterschlaf erwacht.

Linke AktivistInnen mussten mühsam lernen, dass sie keine Chance haben, wenn sie nur von ausserhalb der Demokratischen Partei Druck machen, etwa indem sie eine neue Partei gründen. Das Mehrheitswahlrecht der USA bevorteilt die zwei grössten Parteien, alle anderen haben keine Chance: «Winner takes all», nennt man das. Und die zwei grossen Parteien sind so stark mit dem Staat verflochten, dass er offizielle Listen darüber führt, wer welche Partei unterstützt. Sogar die parteiinternen Vorwahlen sind staatlich organisiert, als wären ParteipräsidentInnen oder Kandidaturen schon Ämter im Staat. Doch das ist auch eine Chance für AktivistInnen wie Nikil Saval – oder damals Bernie Sanders: Auch wenn sie nichts mit der Demokratischen Partei zu tun haben, können sie sich einfach auf die staatliche Liste schreiben und als DemokratInnen antreten.

«Gerade hat man das Gefühl, alles ist möglich», sagt Saval. Wenn man freitagabends die Passyunk Avenue hochgeht, die Ausgehmeile, die das früher so kriminelle, aber heute sorgfältig aufgewertete South Philly schneidet, kommt man an Grüppchen Betrunkener vorbei, die angeregt über Politik diskutieren. Im Neonschein eines Take-outs streiten sich Familien über Trump, ob er von den Medien ungerecht behandelt werde oder ob nicht Sanders gegen ihn gewonnen hätte. In einem Land, in dem Politik als Thema gilt, das man in höflicher Gesellschaft besser meidet, sind die politischen Debatten plötzlich entbrannt.

«Krieg in der Demokratischen Partei»

Wer verstehen will, worum es beim Kampf um die Seele der DemokratInnen geht, muss weg aus den liberalen Städten und raus ins ländliche, konservative und wirtschaftlich abgehängte Herz Amerikas. Dieses oft abschätzig als «fly over country» betitelte Gebiet fängt schon kurz nach Philadelphia an. Mitten in diesem «Dutch country» genannten Landstrich liegt Lancaster, eine Kleinstadt, die gerade landesweit für Aufsehen sorgt. Denn ausgerechnet hier, wo Trump 57 Prozent der Stimmen holte, fechten zwei Politikerinnen den ideologischen Konflikt aus, der die DemokratInnen spaltet. Die Anwältin Christina Hartman steht dafür, wirtschaftsfreundlich aus der Mitte zu politisieren und kosmetische Verbesserungen im sozialen Bereich anzustreben. Sie erwartete einen einfachen Kampf gegen den amtierenden Republikaner; die von Trump angewiderten WählerInnen würden massenhaft zu den DemokratInnen wechseln. Überraschend erwuchs Hartman Konkurrenz von links: Auch Jess King bewirbt sich darum, für die DemokratInnen ins Rennen zu steigen. Die «progressive Populistin», als die sie sich auch selbst bezeichnet, fordert eine öffentliche Krankenversicherung, Gratisbildung an staatlichen Hochschulen, ein Ende der Konzernspenden an PolitikerInnen. Sie will Nichtwählende und Trump-AnhängerInnen mit einem linken Programm von sich überzeugen. Hartman war so überrumpelt, dass sie wenige Wochen vor der Wahl in einen anderen Wahlkreis wechselte, der einfacher zu gewinnen wäre. Als diese Volte bei den WählerInnen nicht gut ankam, legte sie überraschend ihre Kandidatur nieder. Weder Hartman noch ihr Kampagnenteam waren für die WOZ zu sprechen.

Die Gegenseite ist offener: Die Kampagne von Jess King organisiert im Haus ihrer Kampagnenleiterin eine «phone bank», wo WählerInnen am Telefon davon überzeugt werden sollen, für King zu stimmen. In einer Strasse, in der sich identische Backsteinhäuser mit Holzveranden reihen, erkennt man das Haus an den Schildern, die für Jess King werben, oder auf Englisch, Spanisch und Arabisch für Toleranz: «Egal woher du kommst, hier sind alle willkommen.» Auf einem raumfüllenden Sofa hängen vier junge AktivistInnen herum, die mit Headsets Listen auf ihren Laptops abtelefonieren. Eine Aktivistin mit rotbraunen Haaren winkt strahlend: Becca Rast, die Wahlkampfmanagerin. Sie habe lange in Oakland neben San Francisco gewohnt, erzählt sie. Die vielen Gruppen gegen Rassismus oder Ungleichheit würden nichts erreichen. «Was bringt Gemeindearbeit, wenn Silicon Valley die Politik in der Tasche hat?» Also sei sie in ihre Heimatstadt zurückgekommen, von hier aus will sie die Demokratische Partei aufrollen. Die 28-Jährige hat Jess King überzeugt, gegen das Parteiestablishment anzutreten. Das sei nicht einfach gewesen. «Sie verzichtet für Jahre auf ihr Leben ausserhalb der Politik», sagt Rast, «aber dieses Engagement zeigt, wie wichtig es ihr ist, für mehr soziale Gerechtigkeit zu kämpfen.» King hat lange in einer NGO gearbeitet, die wirtschaftlich vernachlässigten Minderheiten hilft, kleine Firmen zu gründen, Lebensmittelläden oder Handwerksbetriebe. Sie kennt die Probleme in den Armenvierteln, wo sie selbst lebt. Und als religiöse Mennonitin aus einer konservativen Familie wisse sie, wie man mit Andersdenkenden spreche, ohne herablassend zu sein – das sei das Prinzip der ganzen Kampagne.

Wie zum Beweis ruft jemand begeistert: «Ich habe gerade einen Trump-Wähler überzeugt!» Alle jubeln. «Er hat gesagt: Geht es um Politik? Ich hasse Politiker!», gibt der Aktivist sein Erfolgserlebnis weiter, als er in die Küche spaziert, wo zwei tischplattengrosse Family-Schachteln Pizza auf dem Tresen stehen. «Ich hab geantwortet: Ich auch … ausser Jess King!» Das ziehe am meisten, erklärt Jonathan Smucker, Rasts Ehemann und einer der Gründer der linken Aktionsgruppe Lancaster Stands Up (LSU). Diese will die öffentliche Debatte nach links ziehen. In den letzten zwei Jahren organisierte LSU die grössten Demos in der Geschichte Lancasters: Tausende protestierten in der angeblich so konservativen Kleinstadt gegen den «Muslim ban», für ein Waffenverbot und gegen rechte Gewalt.

Der jugendlich wirkende Vierzigjährige hat seit den Neunzigern antikapitalistische Demos im ganzen Land mitorganisiert, war Mitglied in vielen linken Verbänden. Die Lehren aus dieser jahrelangen Erfahrung hat er in einem «Handbuch für Radikale» kondensiert. Der Titel: «Hegemony How-To». Zwischen Pizza und Telefon erklärt Smucker, der sonst gerade an einer soziologischen Dissertation an der kalifornischen Berkley-Universität arbeitet, den theoretischen Hintergrund. Die Strategie geht auf die PhilosophInnen Chantal Mouffe und Ernesto Laclau zurück: Ziel sei es, an die Regierung zu kommen, statt sich in ausserparlamentarischer Machtlosigkeit zu gefallen. Man müsse von oben, aus der Regierung, und von unten, von der Strasse, gleichzeitig den Staat erobern. Dafür müsse man breite Koalitionen schmieden – Mouffe und Laclau wollen dafür den Populismus rehabilitieren. Er sei zentral für jede Demokratie, Probleme und Antworten seien einfach zu formulieren, Pläne dürften allgemein bleiben, denn die Situation ändere sich ständig, nur das Ziel sei klar: die Macht zu erobern, um Dinge zum Besseren zu wenden. Die erste Burg, die man in den USA erobern muss: die Demokratische Partei. «Es tobt ein Krieg in der Partei», sagt Smucker. In Lancaster gewann Sanders die Primary gegen Clinton – die dann nur dreissig Prozent gegen Trump machte. «Viele müssen erst Bernie gewählt haben», sagt Smucker, «aber dann Trump.» Das zeige: «Die Menschen hier hassen die Demokraten!»

«Elitäre Arroganz»

Am Fernseher erzählt währenddessen ein telegener Endvierziger strahlend, ein neues Medikament helfe gegen die Verstopfungen, die ihn plagten, seit er ein Opioid nehme. Zur Klasse der Opioide gehören neben Heroin Schmerzmittel wie Morphium oder das in den USA verbreitete Fentanyl. Die Werbung für das verschreibungspflichtige Medikament zielt auf eine Region, in der Schmerzmittelmissbrauch zu einer Suchtepidemie angeschwollen ist. 2017 starben in Lancaster County über hundert Menschen an einer Überdosis, im Kanton St. Gallen mit ähnlich grosser Bevölkerung nur elf. Die Epidemie ist so gross, das Gesundheitssystem für viele so unerreichbar teuer, dass in den USA die Lebenserwartung zu sinken anfängt. In keinem anderen Land ist diese in Friedenszeiten je gesunken – ausser in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

«Trump war der Einzige, der darüber gesprochen hat», sagt Smucker. «Die Menschen erleben so viel Leid, doch der politische Diskurs spiegelt ihr Leben in keiner Weise.» Trump habe echte Probleme angesprochen, nicht von der Kanzel herunter getadelt, wie die DemokratInnen es gerne täten: Man müsse sich besser bilden, dann finde man schon einen Job im Silicon Valley. «Wir werden nie gewinnen, solange Progressive mit dem Finger auf das halbe Land zeigen und sagen: ‹Die sind so rückständig!›» Diese Herablassung komme daher, dass die DemokratInnen von einer Klasse gut ausgebildeter Professionals gekapert worden seien. Sie besuchten Eliteunis, arbeiteten danach in der Finanzindustrie oder im Technologiesektor. Beide Branchen spenden den DemokratInnen mehr als den RepublikanerInnen. Immer wieder arbeiten sie auch für die DemokratInnen, als Berater oder Wahlkampfleiterinnen, bevor sie wieder in die Privatwirtschaft wechseln. «Revolving door» nennt man das, die Drehtür.

«Hartman war die Verkörperung dieser elitären Arroganz», sagt Jonathan Smucker. Die Anwältin erzählte im Wahlkampf gern folgende Geschichte: Als sie nach Jahren in ihre Heimatstadt zurückgekehrt sei, habe sie aus einem hippen Café heraus ein neues Yogastudio bemerkt. «Wow, guter Kaffee? Yoga?», setzte sie zur Pointe an. «Lancaster hat sich wirklich verändert, jetzt leben hier ja Demokraten!» Ihr Publikum von Anwältinnen oder Ärzten lachte artig. Die Menschen, die schon hier lebten, bevor Third Wave Coffee und Yogastudios die Mieten in die Höhe trieben, konnten darüber nicht lachen. Die Rede hatte ein hoch bezahlter Politberater aus Washington geschrieben.

«Die Demokraten haben uns vergessen!»

Wie Lancaster jenseits der hübsch herausgeputzten viktorianischen Innenstadt aussieht, erlebt man auf einer Autofahrt mit Rafael Diaz. Er arbeitet für eine andere linke Aktionsgruppe, Keystone Progress, die versucht, Menschen, die sich vom politischen Prozess ausgeschlossen fühlen, wieder dafür zu begeistern. Auch Keystone Progress unterstützt Jess Kings Kampf gegen das demokratische Establishment. «Wir merken gerade, dass wir eine Generation lang einer Lüge aufgesessen sind», sagt der 27-Jährige. «Dass wir nichts ändern müssen, dass alles so schon okay ist.» Diaz trägt eine schwarze überdimensionierte Hipsterbrille und ein Flanellhemd, seine Haare sind zu einem Afro aufgetürmt. Wenn er zustimmt, ruft er enthusiastisch «A hundred percent!» oder «Hell yeah!». Er steuert das ärmste Viertel im Südosten der Stadt an, man sieht keine Weissen mehr, die Trottoirs sind zerlöchert. Ein Rabe fliegt mit einem orangen Erdnussflip im Schnabel vorbei. «Willkommen in Amerika», scherzt Diaz, «wo selbst Vögel Chips essen.» Hier schloss der letzte Supermarkt, weil die arme Kundschaft zu wenig Geld ausgab. Das graue Gebäude lauert verrammelt und kameraüberwacht mitten im Quartier. Es ist zu einer «food desert» geworden, einer Lebensmittelwüste. 24 Millionen AmerikanerInnen leben in Gebieten, wo man nirgends Früchte oder Gemüse kaufen kann, nur Chips oder Dosenfutter in 24-Stunden-Shops. In den nördlichen Vorstädten hingegen hat eine Filiale der Biosupermarktkette Whole Foods eröffnet, wo es 150 Gramm Rucola für sechs Dollar gibt. Um das Viertel hier kümmert sich niemand, laut offizieller demokratischer Strategie wählen Schwarze, Latinos und Arme ohnehin demokratisch. Die professionelle Mittelschicht, die sich Biorucola leisten kann, gilt es zu gewinnen, sie könnten sonst für einen moderaten Republikaner stimmen, der Steuern auf hohen Gehältern senken will. Ohne politisches Angebot hörten die Armen, die Schwarzen und die Latinos jedoch auf zu wählen – und gaben ihre Stimme weder Clinton noch Hartman. «Die Demokraten haben Lancaster völlig vergessen», sagt Diaz.

«Die gewinnen doch nicht mal Wahlen!»

Diaz fährt durch kleine Dörfer mit seltsamen Namen wie «Intercourse» oder «Bird-in-Hand», in denen viele Amish wohnen, Angehörige einer christlichen Sekte, die die Moderne ablehnen und so leben wie im 17. Jahrhundert. In diesen Gemeinden stellen die DemokratInnen seit Jahren keine KandidatInnen für offene Posten als Ombudsmann oder Finanzvorsteherin mehr auf. Sie haben sich aus strategischen Erwägungen vom Land zurückgezogen. «Die Kampagne von King ist ein Test, ob progressiver Populismus hier Wahlen gewinnen kann», sagt Diaz und steckt sich eine Marlboro an. Man könne mit einem Programm wirtschaftlicher Gerechtigkeit diejenigen zurück an die Urnen holen, die heute zu Hause blieben. Man könne langfristige politische Bindungen aufbauen, die Mitte nach links ziehen, indem man mit Menschen spreche, ihnen zuhöre, sie dazu motiviere, selber aktiv zu werden. Doch bisher hat das demokratische Establishment Kampagnen progressiver KandidatInnen im Keim erstickt.

2016 veröffentlichte Wikileaks Tausende E-Mails, die zeigen, dass die eigentlich neutrale Parteileitung für Clinton Stellung bezogen und gegen Sanders opponiert hatte. Die Parteivorsitzende nannte ihn ein «Arschloch» und einen «Lügner». Sie plante laut den E-Mails, in streng christlichen Gegenden das Gerücht zu streuen, Sanders sei ein Atheist. Das Leak löste einen Skandal aus, die Parteivorsitzende musste zurücktreten – und erhielt einen Posten in der Clinton-Kampagne, «revolving door». Die Praktiken sind unverändert: Diesen April veröffentlichte die Investigativpublikation «The Intercept» verdeckt aufgenommene Audiofiles. Darauf ist zu hören, wie ein hoher demokratischer Funktionär einem linken Kandidaten in Colorado sagt, die nationale Organisation unterstütze nicht ihn, sondern seinen parteiinternen Gegner. Der linke Kandidat vertrete Positionen, mit denen man «nicht gewinnen kann». Dabei haben diese ExpertInnen ein ausgesprochen schlechtes Händchen dabei bewiesen, KandidatInnen zu finden, die gewinnen können. Während Obamas Amtszeit verloren sie über tausend Posten. Mehr als die Hälfte aller Legislativen und Exekutiven im Land sind fest in republikanischer Hand.

Die erste Kampagne der Mittekandidatin Christina Hartman ist dafür das beste Beispiel: Sie trat parallel zur Präsidentschaftswahl 2016 schon einmal gegen den republikanischen Kongressabgeordneten an. Hartman sammelte enorm viele Spenden. In den Augen der Parteigranden in Washington machte sie alles richtig. Im Schlepptau von Clintons angeblich sicherem Sieg gegen Trump sollte auch Hartman gewählt werden. Sie zielte auch auf moderate RepublikanerInnen. Sie würden vom ungehobelten Trump angewidert weder ihm noch dem republikanischen Kongressabgeordneten ihre Stimme geben. Doch Clinton verlor den Bezirk. Und Hartman gewann sogar noch weniger Stimmen. «Der Machtanspruch der Parteielite ist», sagt Diaz, «dass sie wissen, mit welchen Strategien und welchen Positionen man gewinnt.» Plötzlich strahlt er und wirft seine Hände in die Luft: «Dabei gewinnen sie ja nicht einmal Wahlen!» Es sei endlich Zeit, richtig linke KandidatInnen aufzustellen.

«Jess we can!»

Am Wahltag fährt Jess King mit Wahlkampfleiterin Becca Rast durchs County und besucht Wahllokale in Schulen oder Feuerwehrposten. Es gehe nicht darum, noch in letzter Sekunde Wahlkampf zu machen, sondern ins Gespräch zu kommen. «Hi, I’m Jess!», ruft sie sogar WählerInnen entgegen, die offensichtlich RepublikanerInnen sind. Sie steigen aus riesigen Pick-up-Trucks mit Stickern drauf, die für Waffenbesitz werben, oder tragen T-Shirts mit Adlerprint. Sie sind so überrascht, hier eine Politikerin in einem simplen blauen Kleid und Ledersandalen zu treffen, dass sie kaum über die Lippen bringen, was sie stört: dass die Löhne seit der Krise nicht gestiegen seien etwa oder dass Lobbygruppen zu viel Einfluss hätten.

King hört zu, nickt – bei vielem stimmt sie überein. Auch wenn ihre Positionen sonst sehr weit auseinanderliegen mögen: King will Waffenbesitz stärker regulieren, die Situation von MigrantInnen verbessern und verteidigt ein Recht auf Abtreibung. Bei Differenzen schwächt sie ihre Meinung nicht ab, versucht aber, auf Gemeinsamkeiten hinzuweisen, auf ihren Kampf gegen die Eliten und für mehr sozialen Ausgleich. Wenn man diese WählerInnen und ihre Meinungen nicht verteufle, findet sie, könne man sie langfristig auf die eigene Seite ziehen.

Als der strahlend blaue Himmel plötzlich in Donner und Hagel kippt, springen die zwei ins Auto. «Ein Tornado! Das drückt bestimmt die Wahlbeteiligung», sagt Rast, voll im Wahlkampfmodus. Zurück in Lancaster, werden sie schon von fünfzig King-AnhängerInnen im mit Spannteppich ausgelegten Kampagnenbüro erwartet. Die Ersten haben sich rote Plastikbecher mit alkoholischen Getränken geschnappt. Auf Tischen stehen Chips und Guacamole, in einem Plastikeimer voller Eis ist Bier kühl gestellt. In Regalen stapeln sich Flyer auf Englisch und Spanisch. Noch an der Tür sammelt eine junge Aktivistin E-Mail-Adressen von freiwilligen HelferInnen. Die Ergebnisse aus dem ganzen Staat sind auf eine grosse Leinwand projiziert, doch zittert hier niemand: Weil Hartman ausgeschieden ist, gewinnt King automatisch. In ganz Pennsylvania gewinnen an diesem Dienstag linke KandidatInnen. In der Industriestadt Pittsburgh besiegen zwei offen sozialistische Kandidatinnen zwei demokratische Amtsinhaber. Nikil Saval steigt in Philadelphia zum Bezirksvertreter seiner Partei auf. In Lancaster tritt Jess King auf die Treppe. «Wow», beginnt sie, «meine erste Siegesrede!» Endlich könnten sich die WählerInnen zwischen zwei wirklichen Alternativen entscheiden. Das Publikum unterbricht sie immer wieder mit Sprechchören: «Jess we can! Jess we can!» Bereits am Samstag starte der Wahlkampf für den Herbst offiziell. «Um ein Amerika für uns alle zu bauen, braucht es …», ruft King und zeigt aufs Publikum – «… uns alle!», jubelt der ganze Raum. Die blaue Welle schwillt zu einer linken Welle an. Doch die wirkliche Prüfung folgt an den Midterms im November.