Für Europa: «Es steht zu viel auf dem Spiel»

Nr. 33 –

Der Schriftsteller Jonas Lüscher und der Philosoph Michael Zichy wollen fünf Millionen Menschen gegen den Nationalismus auf die Strasse bringen. Ein Gespräch über das Schreiben, das Handeln und den richtigen Zeitpunkt.

Sie lernten sich vor einigen Jahren an einem Ethikinstitut in München kennen, und immer am Freitag nach der Mittagspause kletterten sie aufs Dach, um über die Welt zu sprechen: der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher, der sich mit seinen Romanen «Frühling der Barbaren» und «Kraft» sowie mit politischen Essays einen Namen gemacht hat, und der österreichische Philosoph Michael Zichy, der sich unter anderem mit Konzeptionen des Menschenbilds beschäftigt. «Jeden Freitag war die Welt danach ein bisschen besser», erinnert sich Zichy an die gemeinsamen Gespräche.

In Sorge über den autoritären Rollback in Europa haben die beiden nun etwas Grosses vor. Am 13. Oktober sollen sich in allen europäischen Staaten insgesamt fünf Millionen Menschen versammeln, um für ein demokratisches und geeintes Europa zu demonstrieren. Nächste Woche veröffentlichen Lüscher und Zichy einen Aufruf mit prominenten ErstunterzeichnerInnen. Die Kundgebungen sollen Menschen organisieren, die sich vom Aufruf angesprochen fühlen: dezentral, unabhängig, vielfältig.

Während der Vorbereitungsarbeiten in München erzählen Lüscher und Zichy von ihrer Idee. Sie fallen sich ins Wort, ergänzen sich, es ist zufällig Freitagnachmittag.

WOZ: Herr Lüscher, Herr Zichy, Sie planen auf den 13. Oktober in ganz Europa Kundgebungen, an denen fünf Millionen Menschen teilnehmen sollen. Das ist eine mutige Ansage – haben Sie schon schlaflose Nächte?
Michael Zichy: Durchaus. Es ist uns bewusst …

Jonas Lüscher: … dass es ein ambitioniertes Ziel ist …

Zichy: … hochgegriffen. Wobei fünf Millionen noch nicht einmal ein Prozent der europäischen Bevölkerung sind.

Lüscher: Und der Aufruf beschränkt sich nicht nur auf die EU. Zu Europa zählen für uns alle Mitglieder des Europarats, also auch Russland, die Ukraine, Belarus, die Türkei oder Aserbaidschan. Das sind 740 Millionen Menschen.

Zichy: Dann sind es noch nicht einmal ein Prozent.

Lüscher: Ob es nun fünf Millionen sind oder nicht, ist ja gar nicht so wichtig. Die Zahl ist so zu verstehen: Wir wollen viele sein.

Im Aufruf schreiben Sie: «Wir sind zwei Mitglieder der Zivilgesellschaft, denen das Nachdenken und Schreiben nicht mehr genügt und die ins Handeln kommen wollen.» Warum genügt Ihnen als Intellektuelle die Reflexion nicht mehr?
Zichy: Die Ohnmacht, von der viele sprechen, betrifft mich auch selbst. Und was ist das beste Mittel, um sie zu überwinden? Selbst ins Handeln zu kommen. Man kann nicht immer reden und dann von den anderen verlangen, dass die etwas machen.

Lüscher: Natürlich kann man sagen, dass auch das Denken und das Schreiben bereits Handlungen seien. Wenn ich einen politischen Essay schreibe, dann ist das eine Form des Handelns. Aber es gibt bestimmte Zeiten, die zusätzlich nach konkreterem Handeln verlangen. Das bedeutet nicht, dass ich dem Schreiben von politischen Romanen nichts mehr zutraue oder dem Schreiben von philosophischen Papieren.

Nun ist eine Demonstration noch keine Handlung. Nimmt man den Begriff wörtlich, ist eine Demonstration erst ein Hinweis.
Zichy: Genau das wollen wir schaffen: ein weithin sichtbares Zeichen. Wir möchten zeigen, dass noch immer eine Mehrheit eine liberale, soziale, proeuropäische Haltung teilt. Indem wir uns versammeln und gegenseitig Mut zusprechen: Schau, wir sind nicht allein!

Lüscher: An einer Demonstration erfährt man, dass man eine Stimme hat. Das ist schon etwas wert. Im Übrigen glaube ich, dass sich das konkrete Handeln sehr oft im privaten Bereich abspielt, in der alltäglichen Begegnung.

Wen wollen Sie ansprechen?
Zichy: Das ganze Spektrum, das nicht nationalistisch ist.

Lüscher: Deshalb ist der Aufruf bewusst etwas schwammig formuliert. Letzten Endes geht es gegen eine bestimmte Haltung: Sei es «America first» oder «Hungaria first» oder hier in Bayern: «Bavaria first». Gegen die Rede, die Zeit des Multilateralismus sei vorbei, nun brauche es illiberale Demokratien.

Zichy: Es ist nachvollziehbar, dass sich Menschen in bedrohlichen Zeiten auf das Eigene besinnen. Dabei wissen wir, dass es die falsche Antwort ist. Wir können der neuen Weltunordnung und der Klimakrise nur begegnen, wenn wir uns zusammenschliessen.

Lüscher: Was auch bereits passiert. Ich rege mich immer so auf, wenn von der europäischen Idee die Rede ist. Europa ist doch keine Idee mehr, es ist eine Realität!

Zichy: Gerade unter den Jungen, die kennen gar nichts anderes.

Lüscher: Das zu verleugnen, ist bigott. Und das ist natürlich in der Schweiz am offensichtlichsten: Wenn es um den Freihandel geht, wenn es darum geht, Geschäfte zu machen, ist die SVP zuvorderst mit dabei. Diese Verlogenheit: Man will überall Urlaub machen, man will das exotische Obst von überall und die billigen Kleider aus Bangladesch, aber man will bloss nicht politisch Teil der Welt sein.

Wie überzeugt man Leute, dass der Rückzug aufs Eigene gefährlich ist?
Lüscher: Ich plädiere für ein stärkeres linkes Selbstbewusstsein. Dass man als Linker hingeht und sagt: Ja, die Dinge sind kompliziert, aber ihr seid doch alle klug genug.

Zichy: Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich die Linke schwertut, mit Phantasmen umzugehen. Diese Idee: Alle kommen, nehmen uns die Jobs weg, überschwemmen uns, das ist ein Phantasma. Wie du einmal geschrieben hast: Ein Kind hat Angst vor einem Monster unter dem Bett, und die Populisteneltern antworten: Bist du sicher, dass es nicht zwei sind?

Lüscher: Und doch nützt es etwas, immer wieder die Fakten zu bringen, die Kriminalitätsstatistiken zum Beispiel. Hier in Bayern ist die Kriminalität auf einem Tiefstand, aber die CSU fordert jetzt im Wahlkampf 200 Polizeipferde. Die Polizei hockt dann auf ihren Gäulen, damit sie alle sehen können. Das ist reine Symbolpolitik.

Zichy: Die Rechtspopulisten lösen keine Probleme, die bewirtschaften sie nur.

Ihr Aufruf verzichtet weitgehend auf ökonomische Forderungen. Gibt es für Sie keinen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftssystem und dem Vormarsch des Rechtspopulismus? In Ihren Romanen, Jonas Lüscher, ist der Finanzkapitalismus doch ein Thema.
Lüscher: Die angebotsorientierte Wirtschaft hat zu riesigen Problemen geführt. Wir müssen langfristig noch viel mehr über die Ressourcenknappheit nachdenken. Ich habe ab und an das Gefühl, dass wir gerade schauen müssen, wie wir nochmals die Kurve kriegen. Es steht zu viel auf dem Spiel.

Zichy: Wenn die Basis wegbricht, auf der man eine Wirtschaftspolitik überhaupt gestalten kann, muss man darüber auch keine Diskussion mehr führen. In Ungarn sind wirtschaftspolitische Fragen kein Thema mehr. Die Antworten diktiert dort die Regierung, und die ist hoch korrupt. Wir müssen im Moment die Basis sichern.

Wie sind bisher die Signale auf Ihren Aufruf?
Lüscher: Die sind gut. Der Historiker Christopher Clarke, die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke, der ehemalige französische Kulturminister Jack Lang, viele haben schon unterschrieben.

Zichy: Entweder wir erwischen den richtigen Zeitpunkt, und die Sache fängt Feuer, oder sonst hat es halt nicht funktioniert.

Lüscher: Wir sind darauf angewiesen, dass sich die Leute in einem ähnlichen Gemütszustand befinden wie wir. Dass sie noch einen kleinen Anstoss brauchen, um wenigstens samstags einmal auf die Strasse zu gehen oder selbst eine Demonstration zu planen. Ich weiss nicht, was es mit mir macht, wenn es nicht klappt.

Dann freuen wir uns über neue Bücher und Aufsätze von Ihnen.
Lüscher: Vermutlich werden die dann aber noch pessimistischer, als sie es heute schon sind.

Mehr Infos: www.13-10.org