Jonas Lüscher: Müsste der Maschinenstürmer heute Serverfarmen angreifen?
Im ersten Roman seit seiner schweren Covid-Erkrankung reist Jonas Lüscher durch Raum und Zeit. Ein Gespräch über sein Leben als Cyborg und die unheimliche Macht von Big Tech.

WOZ: Herr Lüscher, im letzten WOZ-Interview mit Ihnen, im Sommer 2018, ging es um eine Grossdemo. Zusammen mit dem Philosophen Michael Zichy wollten Sie damals fünf Millionen Menschen in ganz Europa gegen Nationalismus auf die Strassen bringen. Was ist seither nur geschehen?
Jonas Lüscher: Es ist beinahe eine andere Welt. Damals war es die Sorge über das Erstarken des Nationalismus und den erodierenden europäischen Zusammenhalt, der uns angetrieben hat. Heute sind es ausgerechnet die USA mit ihrem Ultranationalismus, die den Europäern zeigen, dass es ohne Zusammenhalt über die Grenzen hinweg nicht geht.
WOZ: Der Begriff des «Mitmenschen», schreiben Sie in Ihrem neuen Roman, sei im Zuge der Pandemie «beinahe nutzlos» geworden. Inwiefern hat Corona, oder der Umgang damit, den autoritären Backlash, den wir heute erleben, begünstigt?
Jonas Lüscher: Enttäuschung und Ressentiments haben einen Teil der Menschen schon seit der grossen Finanzkrise sehr staatskritisch werden lassen. Sie verstehen sich gar nicht mehr als gestaltenden Teil unserer demokratischen Staaten. Die Coronamassnahmen waren dann eine willkommene Gelegenheit, sich in seinen Ressentiments bestätigt zu fühlen und sich in Verschwörungserzählungen unbehaglich einzurichten. Da geht es dann auch gar nicht darum, ob alle Massnahmen sinnvoll oder angemessen waren – darüber könnte man ja gerne diskutieren –, sondern es geht zuallererst darum, sich in Opposition zu «denen da oben» zu stellen. Hätte der Staat keine Massnahmen ergriffen, hätten sich genau diese Leute darüber beklagt. Die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel hat ganz zu Beginn der Pandemie wütend getwittert, der Staat tue zu wenig und müsse sofort harte Massnahmen ergreifen.
WOZ: Ihr letzter Roman, «Kraft», war teilweise im Silicon Valley angesiedelt. Acht Jahre später sitzen die versammelten Techmilliardäre bei Donald Trumps Inauguration in der ersten Reihe. Ist das eine Zäsur?
Jonas Lüscher: Es ist natürlich nicht ganz neu. Neu ist es nur in dieser unverschämten Offenheit. Klar, einer wie Elon Musk ist grössenwahnsinnig genug, sich täglich so offensiv zu zeigen. Aber Leute wie Peter Thiel mit seiner Firma Palantir, die viel Geld mit dem Staat verdient, und sein CEO Alex Karp: Die machen mir mindestens so grosse Sorgen wie Musk, weil sie ähnlich grossen Einfluss haben, aber viel schlauer agieren, indem sie sich nicht so offen zeigen. Und wir erinnern uns: Schon 2016, als Trump erstmals gewählt, aber noch nicht im Amt war, gab es eine legendäre Sitzung im Trump Tower, wo all die Techbosse mit ihm am Tisch sassen.
WOZ: Für Claudia Franziska Brühwiler, Professorin an der Universität St. Gallen, offenbar kein Grund zur Sorge: Weil es seine letzte Amtszeit sei, sagte sie im November 2024 im «Tages-Anzeiger», werde Trump quasi von Anfang an eine «lame duck» sein. Sieht nicht so aus.
Jonas Lüscher: Nein, überhaupt nicht. Diese neue Amtszeit von Trump wird die erste in allen Ungeheuerlichkeiten noch mal übertreffen. Sie tut es jetzt schon. Ich glaube, wir können nicht mal sicher sein, ob es seine letzte Amtszeit ist.
WOZ: Eine zentrale Figur in Ihrem neuen Roman ist der legendäre Maschinenstürmer Ned Ludd. Diese Idee, Maschinen anzugreifen: Ist die in einer globalisierten digitalen Ökonomie nicht vollends obsolet geworden? Oder würde Ludd heute Serverfarmen angreifen?
Jonas Lüscher: Ja, es ist nicht mehr so leicht zu sagen, was man angreifen sollte, wenn man das machen möchte. Wahrscheinlich tatsächlich die Serverinfrastruktur oder eben die Unterseekabel – die sind ja das Verletzlichste in der digitalen Infrastruktur. Auf den ersten Blick scheint es vielleicht, die Technik sei unverwundbar geworden, weil sie so diversifiziert ist und sich auf alle Kontinente verteilt hat und auch so abstrakt geworden ist. Die meisten von uns verstehen gar nicht, wie diese Serverfarmen funktionieren. Aber diese Infrastruktur ist ziemlich vulnerabel, und die Angriffe drohen nicht von Maschinenstürmern, sondern eher von Staaten, als kriegerischer Akt. Das geschieht ja bereits. Ich hatte mal eine Skizze für ein Kapitel im neuen Buch, das ich dann nie ausgeführt habe, wo es zu einem Krieg kommt. Dieser Krieg, so stellte ich mir vor, dauert nur 24 Stunden, weil danach alle gegenseitig ihre digitale Infrastruktur zerstört haben – und dann sowieso gar nichts mehr funktioniert.
WOZ: Nochmals im Sinne von Ned Ludd gefragt: Sollten wir uns gegen technologische Entwicklungen wehren?
Jonas Lüscher: Gegen das, was wir jetzt in den USA erleben, wo sich die Techwelt mit ihrer ganzen finanziellen Kraft in die Politik einmischt, müssen wir uns auf jeden Fall wehren. Wir vergessen immer, dass wir, als Kollektiv, der Staat sind. Und wenn der Staat, das heisst wir, zum Beispiel wegen Kryptowährungen die Kontrolle über das Geld verliert, dann finde ich das, anders als viele, überhaupt nicht wünschenswert, sondern höchst bedrohlich. Denn die Erzählung, dass die Herrschaft und das Geld dann irgendwie bei der Allgemeinheit wären statt bei den Zentralbanken, stimmt ja auch nicht. Es sind dann einfach ein paar wenige ganz grosse Player, die die Macht haben – unkontrollierte Macht.
WOZ: In einer der suggestivsten Passagen im Roman ziehen Sie eine direkte Linie vom Maschinensturm eines Textilarbeiters zum Unabomber Ted Kaczynski. Ironischerweise sind es heute Leute wie Elon Musk, die erklärtermassen die Institutionen zerstören wollen, auch diejenigen des Wissens – nur dass sie es nicht mit Bomben tun. Bei denen heisst das jetzt: Disruption.
Jonas Lüscher: Paradoxerweise taucht Kaczynskis Manifest in Silicon-Valley-Kreisen immer wieder mal als Leseempfehlung auf, obwohl er ein radikaler Technikfeind war. Techbros und der Unabomber teilen das Unbehagen an den Institutionen, allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen. Kaczynski sah gewisse Institutionen als Förderer gefährlicher Technik, während das Silicon Valley fürchtet, die Institutionen beschränkten die technologische Entwicklung – und damit natürlich das ungehinderte Geldverdienen. Die Ideologien des Silicon Valley waren schon immer ausgesprochen eklektisch, um nicht zu sagen opportunistisch. Man bedient sich irgendwelcher philosophischer Versatzstücke, um zu begründen, dass das Anhäufen von Geld ein legitimes Ziel ist. Die meisten dieser Leute sind deshalb auch relativ durchschaubar in ihren Handlungen.
WOZ: Leute wie Mark Zuckerberg.
Jonas Lüscher: Ja, wobei man gerade an seinem Beispiel sieht, dass es nicht nur um Geld geht. Bei Zuckerberg dringt jetzt auch ein beängstigendes Weltbild durch, wenn er sagt, die Wirtschaft müsse wieder maskuliner werden. Auch Elon Musk und Peter Thiel stecken voller seltsamer, teilweise religiöser oder religiös anmutender Überzeugungen, Thiels Wunsch nach Unsterblichkeit zum Beispiel. Es sind oft grössenwahnsinnige Vorstellungen. Macht und Geld, das sind halt vielleicht doch nur zwei Seiten derselben Medaille. Jedenfalls werden unsere hiesigen Wirtschaftsführer zum Teil auch ganz hibbelig, wenn sie von der neuen Härte hören, und stimmen gleich mit ein: Gürtel enger schnallen, mehr arbeiten, mehr leisten, weniger jammern, weniger krank sein … Das führt am Ende natürlich zu einem immensen sozialen Backlash.
WOZ: Sie selbst, als bekennender Technikskeptiker, mussten nach Monaten auf der Intensivstation einsehen, dass Sie der Hightechmedizin Ihr Leben verdanken. «Ich war ein Cyborg», heisst es im Roman. Haben Sie gelernt, die Technik zu lieben?
Jonas Lüscher: Es stimmt eben nicht, dass ich ein einseitiger Technikkritiker sei, das bin ich nie gewesen. Ich bin kritisch gegenüber gewissen technologischen Entwicklungen, aber eigentlich habe ich die Technik immer schon geliebt und bewundert. Ich interessiere mich sehr für technologische und wissenschaftliche Entwicklungen, für Maschinen und Geräte, gelegentlich bin ich sogar ein Early Adopter. Mein Problem ist nur, dass diese Entwicklungen sich heute, wie alles, unter den Bedingungen des Kapitalismus vollziehen. Und es gibt schon technologische Entwicklungen, die ich bedauere und wo ich auch merke, dass ich eine grosse Abhängigkeit entwickelt habe.

WOZ: Zum Beispiel?
Jonas Lüscher: Ich hänge ziemlich viel am Handy. Ich bin ein Newsjunkie und lese auch wesentlich weniger Romane als früher. Ja, ich leide unter einem zerbröselnden Hirn, wie die meisten von uns. Ich verlasse mich beim Reisen auch gerne auf die Übersetzungsapps und Google Maps. Das ist alles unglaublich praktisch. Trotzdem: Wenn jetzt herauskäme, dass Mobilfunkstrahlen doch plötzlich gefährlich sind, und wir gezwungen wären, alle Handymasten abzustellen – mir würde zwar vieles fehlen, aber ein Teil von mir würde sich auch freuen, weil er glaubt, dass unser Leben wieder besser würde.
WOZ: Überwachungskritische Leute sagen ja gerne, dass unsere Handys in erster Linie Peilsender seien, die wir immer mit uns tragen.
Jonas Lüscher: Wie fast alle neige ich dazu, den Überwachungsaspekt zu verdrängen. Das können wir so lange tun, wie wir in freien Gesellschaften leben. Wobei offenbar auch in repressiven Überwachungsregimes die Bequemlichkeit der Durchschnittsbürger obsiegt. Ich war vergangenen Herbst in China, wo ja fast alles über Apps von Alibaba läuft, einer Firma, die sehr stark vom Staat kontrolliert wird. Mit diesen Apps wird bezahlt, werden Taxi und Essen bestellt, Fahrräder gemietet, Versicherungen abgeschlossen, Bankgeschäfte betrieben, Flüge gebucht. Ein junger chinesischer Germanistikprofessor hatte mich eingeladen, vor seinen Studierenden zu lesen, und vor der Lesung hat er mir auf dem Campus noch ein Wasser besorgt. Dazu hat er sich einfach vor die Kamera des Getränkeautomaten gestellt und die Taste für Wasser gedrückt. Bezahlt hat er per Gesichtserkennung, er musste nicht einmal mehr sein Handy aus der Tasche nehmen. Das geht so lange gut, wie wir brav sind und der Staat nicht autoritär. Und ich neige eben auch zu dieser bequemen Unbesorgtheit. Oft habe ich allerdings auch den Eindruck, dass wir gar nicht so gläsern sind, wie das die Werbewirtschaft gerne behauptet. Ich bekomme auf Youtube dauernd Autowerbung eingespielt, dabei habe ich nicht einmal einen Führerschein.
WOZ: Bei der Lesung in Zürich sagten Sie, dass Sie ursprünglich einen Roman über künstliche Intelligenz hätten schreiben wollen. Wieso fanden Sie das dann gar nicht mehr so interessant?
Jonas Lüscher: Ich fand es literarisch nicht so interessant. In meinem Roman «Kraft» gibt es eine kleine Passage, wo es um die Frage der «Singularität» geht – also um die Idee, dass ein Moment kommt, wo die künstliche Intelligenz intelligenter wird als der Mensch und dann auch in der Lage sein wird, sich selber zu verbessern. Die biologische Evolution wird durch eine digitale Evolution ersetzt, und die wird sich nicht mehr linear entwickeln, sondern exponentiell, die künstliche Intelligenz wird sich also in unfassbarem Tempo entwickeln, so die Theorie. Unsere menschliche Vorstellungskraft sei nicht ausreichend, um sich vorzustellen, was nach dem Moment der Singularität geschehe. Das reizte mich natürlich, weil ich dachte: Ich bin Schriftsteller, ich kann mir alles vorstellen. Aber dann habe ich schnell begriffen, dass ich voll in die Falle getappt bin.
WOZ: Warum in die Falle getappt?
Jonas Lüscher: Weil das genau dieses Techbro-Denken ist: Ich kann alles, und ich gehe in diesen Wettbewerb rein. Daran will ich mich gar nicht beteiligen. Ich will eben auch zugeben, dass es durchaus Dinge gibt, die wir uns vielleicht nicht vorstellen können. Zudem ist die Sache mit der künstlichen Intelligenz gerade sehr volatil, weil man überhaupt nicht weiss, in welche Richtung sich das entwickelt. Es wird ja behauptet, dass das jetzt wahnsinnig schnell einfach so weitergehen würde wie in den letzten drei, vier Jahren. Da habe ich meine Zweifel, weil das auch viel Marketingtalk ist. Diese Firmen brauchen enorm viel Geld, um ihre riesigen Rechenzentren zu bauen. Wobei, mit der chinesischen App Deepseek hat sich das noch mal relativiert. Das finde ich schon beeindruckend, auch wenn ich nicht weiss, ob mir das Hoffnung machen soll oder noch mehr Angst. Wahrscheinlich Hoffnung.
WOZ: Wieso Hoffnung?
Jonas Lüscher: Wenn es wirklich möglich wird, diese Modelle mit viel weniger Energieverbrauch und viel weniger Rechenleistung und Hardware laufen zu lassen, wird das zu einer Diversifizierung führen, die nur gut sein kann. Denn die grosse Bedrohung ist, dass alles auf drei, vier grossen Modellen basiert, die den grossen Konzernen gehören, also Google, Open AI, Meta und X. Trotzdem bleiben grundsätzliche Fragen, bei denen ich zweifle, ob man sie in den nächsten Jahren so locker lösen wird. Dieses Problem des Halluzinierens der künstlichen Intelligenz: Ich bin mir nicht sicher, ob das einfach ein Rechenproblem ist. Die Frage, was eigentlich wahr ist und was nicht: Eventuell ist das etwas, das sich mit Rechnern gar nicht lösen lässt. Vielleicht müsste die KI tatsächlich ein Gefühl dafür entwickeln, was wahr ist und was nicht.
WOZ: Ein Gefühl für das, was wahr ist? Wie meinen Sie das?
Jonas Lüscher: Dass es eben Fragen wie die nach der Wahrheit gibt – typischerweise Fragen, über die Philosophie und Wissenschaften seit Jahrtausenden streiten –, die sich nur sinnvoll stellen und damit auch nur beantworten lassen, wenn man ein Bewusstsein hat; wenn man also ein Gefühl dafür hat, wie es sich anfühlt, sich selbst zu sein. Mir scheint, dass wir da die Frage der Leiblichkeit komplett vergessen.
WOZ: Inwiefern?
Jonas Lüscher: Wir sind eben nicht nur Gehirn, nicht nur neuronale Zustände, wir sind Lebewesen mit einem Leib und komplexen Wechselwirkungen zwischen körperlichen Empfindungen und psychischer Verfassung. Wir sind Personen, die sich als Ich wahrnehmen und reflektieren können. Und das spielt eine Rolle, wenn es darum geht, schwierige Fragen richtig zu beantworten. Die schwierigen Fragen sind ja nicht die nach der Quadratwurzel von 2476 oder nach der Faltung eines bestimmten Proteins. Schwierig sind Fragen wie die, ob ich in meine Partnerin verliebt bin und ob diese Liebe tragfähig genug ist, um Kinder zu bekommen. Ich zweifle nicht grundsätzlich daran, dass wir Leiblichkeit eines Tages nachbilden oder simulieren können und dass die Modelle so komplex werden, dass dann so etwas wie ein Bewusstsein und eine Psyche entsteht. Aber mit Chat GPT und den tanzenden Robotern von Boston Dynamics sind wir davon noch ziemlich weit entfernt.
WOZ: Sie fragen sich im Roman einmal, warum die Literatur Dystopien am Laufmeter produziert. Haben Techvisionen unsere Zukunftsträume kassiert – und der Literatur bleibt nur noch die Rolle der Warnerin?
Jonas Lüscher: Das ist eine schwierige Frage. Ich träume ja davon, mal einen grossen utopischen Roman zu schreiben. Das ist, fürchte ich, das Schwierigste überhaupt: eine wirklich gute Utopie zu schreiben, die nicht naiv und langweilig ist. Da gibt es natürlich viele Vordenker. Boris Vian zum Beispiel hat früh darüber nachgedacht: Was kann Technologie nach Hiroshima noch bedeuten? Wobei man diesen technologischen Sündenfall auch schon früher ansetzen kann, beim Gaskrieg oder vielleicht bei Stanley Kubricks Knochen in «2001: A Space Odyssey». Im Zusammenhang mit dem Klima stellt sich die Technologiefrage noch einmal ganz neu. Die Vorstellung, dass die ganze Welt an den Technologien partizipiert, war früher eine Utopie: dass also jeder in einem schönen Haus wohnen wird, mit einer Klimaanlage für den Sommer und einer Heizung für den Winter, und dass jeder durch die Welt fliegen kann. Das war eine gemeinsame globale Vision: Die Welt ist eine gute Welt, wenn das alle überall können.
WOZ: Und heute?
Jonas Lüscher: Heute ist das die absolute Dystopie geworden. Wir haben gar keine Vorstellung mehr davon, wie eine gute Zukunft für alle Erdenbürger aussehen könnte. Und die brauchen wir natürlich. Das könnte einer der Gründe sein, warum dieses isolationistische, nationalistische Denken wieder so populär wird. Viele Leute spüren, dass wir keine Idee mehr haben, wie es für die ganze Welt besser werden könnte. Dann gucken wir halt, dass es hier in der Schweiz gut ist, und kümmern uns nur noch um den Nahbereich. Das ist eigentlich eine Preisgabe jeglicher Idee von Humanismus und Aufklärung.
WOZ: Im futuristischen Kairo in der zweiten Hälfte Ihres Romans geht es auch um Stand-up-Comedy. Lachen stiftet Gemeinschaft, heisst es da einmal. Kann es nicht auch trennen?
Jonas Lüscher: Das kann es auch, das schäbige, gemeine Lachen, das Auslachen. Aber es ist, glaube ich, schon richtig, dass Lachen eine Sache der Gemeinschaft ist. Wir lachen nicht alleine für uns. Wir neigen ja sogar dazu, jemanden, der alleine laut lacht, für verrückt zu erklären. Im Englischen gibt es den Begriff des «comic relief», den ich gerne mag. Ich stelle mir darunter eine kollektive Katharsis vor: sich gemeinsam den Schmerz von der Seele lachen. Das geht aber eben nicht, ohne auch über sich selbst lachen zu können. Trump zum Beispiel sieht man nie lachen. Er kann weder über sich selbst lachen, noch kann er in die Gemeinschaft des Lachens eintreten.
WOZ: Unser Interview von 2018 endete mit Ihrer Prognose, dass Ihre Bücher noch pessimistischer werden könnten. Aber im Gegenteil: In Ihrem neuen Roman steht am Ende die Liebe zwischen zwei Frauen, wobei die eine ein Cyborg ist. Etwas so Optimistisches habe ich noch nie von Ihnen gelesen.
Jonas Lüscher: Ja, vielleicht – wobei es in diesem letzten Teil des Buches auch viel ums Sterben geht und um das Verzweifeln an der Welt. Trotzdem stimmt es, was Sie sagen: Es endet mit einer romantischen Idee. Was wirklich für mich zählt, ist die Liebe. Und zwar nicht nur die Liebe in einer konventionellen Liebesbeziehung, sondern auch Freundschaften und die Menschenliebe per se. Gerade in dieser Zeit, wo die neue Härte nicht nur propagiert, sondern auch gelebt wird, muss jeder von uns in seinem Wirkungsbereich dafür sorgen, diese Härte mit so etwas wie Liebe und Zuneigung und Güte abzufedern. Das ist unsere Aufgabe.
WOZ: Liebe kann es aber, so heisst es im Roman, nur geben im Wissen um die eigene Sterblichkeit.
Jonas Lüscher: Ja, das glaube ich. Was wäre die Liebe wert, wenn wir ewig leben würden? Es ist eine sehr seltsame Vorstellung, dass sich das jemand wünscht. Und ein unglaublicher Narzissmus: Man muss sich wahnsinnig gern haben, dass man ewiges Leben möchte.
«Verzauberte Vorbestimmung»: Zeitreise durch die Hintertür
Sightseeing in Südfrankreich, Maschinensturm in Varnsdorf und eine Komikerin, die im Kairo der Zukunft nebenbei ein vergessenes Archiv bewirtschaftet: Das sind nur drei Schauplätze und Episoden in «Verzauberte Vorbestimmung», dem neuen Roman des in München lebenden Schweizers Jonas Lüscher. Das kurze erste Kapitel, eine Art humanistische Fantasie über einen Deserteur im Ersten Weltkrieg, hatte Lüscher noch vor der Pandemie geschrieben. Dann kam Covid, der Autor lag fast zwei Monate auf der Intensivstation im künstlichen Koma, von Maschinen am Leben erhalten.
«Ich war ein Cyborg», notiert er an einer Stelle im neuen Roman, der nun seinerseits ein literarisches Mischwesen ist. Wir begleiten einen Ich-Erzähler, den man getrost mit Lüscher identifizieren darf, bei seinen Reisen auf den Spuren des Schriftstellers Peter Weiss, wobei der Text immer wieder unvermittelt die Ebenen wechselt. Etwa bei den Streifzügen durchs tschechische Varnsdorf, wo wir durch eine Hintertür ansatzlos im 19. Jahrhundert landen, inmitten der Umtriebe aufständischer Fabrikarbeiter.
In den ausführlichen Wegbeschreibungen zieht sich das manchmal, aber das motivische Netz, das Lüscher in diesem Buch spannt, ist schwindelerregend und, ja, auch anspruchsvoll: vom proletarischen Angriff gegen die Webmaschinen bis zum Maschinensturm eines verliebten Cyborgs; vom «Westentaschen-Pharao» Ferdinand Cheval mit seinem monumentalen Privattempel in Hauterives bis zum stadtplanerischen Irrsinn in Pharao City, dieser futuristischen Metropole, die schon vom Zerfall heimgesucht wird, obwohl sie noch kaum fertig gebaut ist. Hier wird das erzählende Bewusstsein immer durchlässiger, und die Reise wandelt sich, überlagert vom medikamentösen Delirium des Komapatienten, zum Fiebertraum an der Grenze zum Tod.
Die skeptische Erzählhaltung, die Lüscher schon in «Frühling der Barbaren» (2013) und in «Kraft» (2017) in weit ausgreifende Satzkonstruktionen fasste, erreicht hier nochmals eine neue Stufe. Der etwas sperrige Titel übrigens geht auf den US-Wissenschaftshistoriker Alexander Campolo zurück, der die problematischen Verheissungen der künstlichen Intelligenz auf die Formel eines «enchanted determinism» gebracht hat: Es mag uns vorkommen wie Zauberei, dabei sinds nur errechnete Wahrscheinlichkeiten. Dem setzt Lüscher hier eine Literatur entgegen, die das Gegenteil einer Blackbox ist. In seinen epischen Suchbewegungen ist das ein Roman, der seine Umstände jederzeit transparent und zum Thema macht – und dem man so förmlich bei seiner Entstehung zuschauen kann.
Jonas Lüscher: «Verzauberte Vorbestimmung». Roman. Hanser Verlag. München 2025. 352 Seiten.
Jonas Lüscher liest in: Bern, Buchhandlung Stauffacher, Fr, 14. März 2025, 20 Uhr; Rapperswil-Jona, Alte Fabrik, Sa, 22. März 2025, 17 Uhr; St. Gallen, Literaturhaus, Mi, 2. April 2025, 19 Uhr. Weitere Lesungen in Winterthur (26. Mai 2025), Liestal (27. Mai 2025) und Zug (28. Mai 2025).