Swamp Dogg: Hart am Terror der Intimität
Ein 76-jähriger Soulsänger entdeckt die psychoakustische Teufelsdroge Autotune. Mit dem Album «Love, Loss, and Auto-Tune» treibt Swamp Dogg dem Soul jede falsche Nostalgie aus.
Kann das sein? Dass das gegenwartshaltigste, deprimierendste und gleichzeitig euphorisierendste Album der Saison von einem 76 Jahre alten Afroamerikaner kommt, der von ein paar Aficionados als Exzentriker des Southern Soul verehrt wird? Der Mann heisst Jerry Williams und landete ein paar kleinere Hits, bevor er 1970 als Swamp Dogg einen Neustart wagte. Auf seinem neuen Album «Love, Loss, and Auto-Tune» stellt sich Swamp Dogg nun der Frage, wie er in Zeiten von Autotune über Liebe und Verlust singen kann.
Die Autotune-Software wurde 1997 als digitaler Effekt zur Optimierung der Intonation der Gesangsstimme auf den Markt gebracht. Dass der Effekt auch ein verfremdendes Stilmittel sein kann, wissen wir spätestens seit «Believe», dem Welthit von Cher von 1998. Heute wird er offensiv als schmückendes Accessoire eingesetzt, als «body extension», als akustisches Pendant zum Goldschmuck. Autotune ist Sonic Bling, geschminkte Stimme.
Brechreiz bei AuthentikerInnen
Mittlerweile gibt es kaum noch Pophits, die ohne Autotune produziert werden. Und damit kommt auch der konservative Reflex. Bei FreundInnen sogenannter authentischer Rockmusik löst das surrende Vibrieren des Geräts Brechreiz aus. Autotune-HasserInnen benehmen sich wie Leute, die nie verwunden haben, dass Bob Dylan 1965 seine Gitarre unter Strom setzte.
Wie kommt nun ausgerechnet Swamp Dogg an diese psychoakustische Teufelsdroge? Ein Protagonist jener Musik, die von ihren weissen LiebhaberInnen gern als unmittelbarer, unverfälschter Ausfluss der schwarzen Seele unter Ausschaltung von Hirn und Technik missverstanden wird: Soul!
Statt diesen neumodischen Technokram altersgemäss zu verabscheuen, stürzt Swamp Dogg sich einfach drauf. Oder, besser, lässt sich drauf stürzen, denn hier kommen seine Partner ins Spiel: zwei weisse Männer, halb so alt wie er – Ryan Olson von der Elektropop-Band Polica und Justin Vernon alias Bon Iver, Posterboy des introvertiert-sensiblen Vollbartpop. Mit diesen unwahrscheinlichen Kandidaten tut sich der berüchtigte Quertreiber zusammen, weil er auf keinen Fall mehr wie Swamp Dogg klingen will: «I want to shock the shit out of them.» Und er wolle sich neu erfinden – eine Formel, die ja längst mehr Drohung als Versprechen ist. Wer sich nicht ständig neu erfindet, ist im Hamsterrad der Kreativindustrie nicht konkurrenzfähig. Doch von dieser verzagt-disziplinierten Selbstoptimierung hat die Neuerfindung des Swamp Dogg via Autotune so gar nichts.
Und wie klingt das? Aus dem Nebenzimmer croont eine Männerstimme herüber, leicht zitternd: «Answer me, oh, my love, just what sin have I been guilty of.» Eine unbestimmte Wehmut steigt auf, angenehm warm. Aber dann, aus der Etage darüber: übersteuerte Streicher, Fanfaren. Hört der Nachbar wieder Schönberg? Plötzlich beginnt die schmeichelnde Croonerstimme zu leiern. Hat jemand den Plattenspieler von 33 auf 45 Umdrehungen gestellt? Nix da, Schwermut und Störgeräusch kommen aus demselben Raum.
«Answer Me, My Love» ist ein Standard des American Songbook, unsterblich gemacht von Nat King Cole und Joni Mitchell in ihrer tieftraurigen Altersbilanz «Both Sides Now». Auch Swamp Dogg legt die Trauer über die Vergänglichkeit von Leben und Liebe in seinen Vortrag – und schickt die Aufnahme an seine Koproduzenten. Die bearbeiten den Vokalpart mit digitalem Sperrfeuer, pitchen die Stimme nach 53 Sekunden ins Groteske und erzeugen einen Verfremdungseffekt. Nein, länger als 53 Sekunden kann man «Answer Me, My Love» heute nicht mehr schönsingen wie Nat King Cole vor 64 Jahren, ohne die Todsünde des alternden Sängers zu begehen: Nostalgie nach einer Idylle, die so nie existiert hat.
Selten war die Rede von der Dekonstruktion so angebracht wie hier. Selten war ein Song gleichzeitig derart deprimierend wie euphorisierend. Angeblich wusste Swamp Dogg nicht, was Olson und Vernon mit seinem Rohmaterial anstellen würden, aber das Resultat habe ihn überzeugt.
Der Pool so leer wie sein Blick
Es braucht Courage, sich auf so etwas einzulassen und Kontingenz zuzulassen. In steinerweichenden Elektroballaden betrauert Swamp Dogg die Liebe seines Lebens, seine Frau und Exmanagerin Yvonne Williams, die 2003 starb. Aber «Love, Loss, and Auto-Tune» ist auch ein Album über schwindende Männlichkeit. Was bedeutet es, wenn die gebrechliche Stimme des einst so virilen Sängers per Autotune verfremdet wird? Versteckt er sich? Schämt er sich?
Im grandiosen «I’ll Pretend» trauert Swamp Dogg um eine Frau, die ihn für einen anderen verlassen hat. Im Video sitzt der alte Mann im goldgelben Kimono auf dem Doppelbett, später am Rand des Pools – der so leer ist wie Swamp Doggs Blick. Schliesslich wirft er sich in Schale, Dreiteiler und Hut in Pink und Bling-Bling, und macht sich schweren Schrittes auf zum Dinner for One in der Stadt. «Ich tue so, als wärst du im Urlaub», singt er zur Bluesgitarre, «ich tue so, als würde ich nicht durchdrehen wegen des Verlusts.» Am Ende zieht der alte Mann sich aus, zeigt seinen nackten Bauch, singt «Please come back, I can’t live like that» und steigt in Unterhosen ins Bett.
Die Selbstentblössung beschämt den Betrachter, mutet aber – weil die Bluesgitarre in eine topmoderne Soundkulisse transportiert wird und Swamp Doggs Stimme mit Autotune verjüngt wird – auch versext an. Auf wundersame Weise wirkt die Trauer euphorisierend. Es ist auch die Trauer eines Mannes, der sich erinnert, wie er früher jeden neuen Scheiss mitgemacht hat, der spürt, wie toll dieser Autotune-Kram sein kann, aber auch weiss, dass er nicht für ihn gemacht ist.
Dabei hatte Jerry Williams sich schon 1970 neu erfunden, als Hund aus den Sümpfen des Südens. Der zusätzliche Konsonant am Ende von Dogg markiert den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen und dem harten Hund. Swamp Dogg steht auf Doggystyle, Jahrzehnte vor Rappern wie Nate Dogg oder Snoop Dogg. Auch mit 76 redet der Hund gern über Sex. Im beschwingten «I’m Coming with Lovin’ on My Mind» kehrt er heim zur Geliebten, er hat ihr ein schwarzes Negligé gekauft, sie möge Chanel 69 auflegen und den Dom Pérignon 69 öffnen. Wieder so ein Spagat zwischen Peinlichkeit und Euphorie, die expliziten Details der sexuellen Vorfreude mit der undezent doppelten Neunundsechzig. Höher und höher fliegt dazu die Autotune-Stimme.
Fast scham- und schonungslos
Noch irrer: «Sex with Your Ex». Es ist in Ordnung – wenn die Chemie stimmt, löst Sex mit der Ex die Spannung, auch ohne Liebe. Diesen Rat gibt Swamp Dogg zu dissonantem Synthielärm und Gitarrenfreakouts, die Eddie Hazel von Funkadelic zur Ehre gereicht hätten. In «$$$Huntin’» wiederum klingt «Funky Dollar Bill» von Funkadelic an, Swamp Dogg berichtet aus der Welt der «Bullshit Jobs» (David Graeber), der Jagd nach den grünen Scheinen, jeder Freitag ist Black Friday, und im Knast war er auch schon. Das Surren des Autotune-Bling spiegelt sonisch den Glanz der Bling-Waren, die er sich nicht leisten kann.
Swamp Dogg ist vier Jahre älter als der Mann im Weissen Haus, den der Regisseur Spike Lee «Agent Orange» nennt. Swamp Dogg ist nicht so reich wie der Mann, der für Sex mit Pornostars Schweigegeld zahlt, aber in seiner pornoiden Drastik hart am Terror der Intimität, hart am Obszönen, fast scham- und schonungslos. Aber nur fast – denn in all dem ist «Love, Loss, and Auto-Tune» auch ein Kommentar zur Lage der Nation in Zeiten des Tangerine Mussolini.
Swamp Dogg: Love, Loss, and Auto-Tune. Cargo. 2018