Dirty Projectors: Mainstream? Indie? Rock? Auteur? Bullshit!
Bei der Aneignung nichtweisser Musik bringt Dave Longstreth die eigenen Skrupel zum Ausdruck. Sein Soloalbum ist ein Quantensprung.
Nach dem Women’s March auf Washington am 21. Januar gab es ein Konzert von Sleater-Kinney im Club 9.30. Zum Finale bekommen die Riot-Grrrl-Pionierinnen Verstärkung: Cecile Richards von Planned Parenthood, die den March mitorganisiert hatte, Matt Berninger von The National und Dave Longstreth von Dirty Projectors. Gemeinsam singen sie ein Lied, das älter ist als alle Anwesenden: «Fortunate Son» von Creedence Clearwater Revival. «Ich bin kein Sohn aus wohlhabendem Haus, ich bin kein Senatorensohn», den Refrain grölen alle mit, Fäuste fliegen, Wut in der Luft. Nur Dave Longstreth am rechten Bühnenrand wirkt seltsam fehl am Platz. Linkisch schwenkt er den linken Arm, als brächte er es nicht fertig, ihn durchzustrecken und eine Faust zu ballen.
«Fortunate Son» war schon ein Leitmotiv bei der «Vote for Change»-Tour 2004, dem gescheiterten Versuch, die Wiederwahl des Präsidentensohns George W. Bush zu verhindern. Ich sah damals John Fogerty, den Autor des Songs, in einer Arena in Philadelphia. Mit seinem ewigen Karohemd wirkte er immer noch wie ein Trucker, kein Fortunate Son. Den Text hatte er aktualisiert: «Ich bin kein Präsidentensohn», sang er. Es war der zweitbeste Moment des Abends, nach «Born to Run», Bruce Springsteens Mutter allen Stadionrocks. Hinterher in der Bahn kernige Springsteen-Fans: «Ja, der Boss war super, aber wir wählen trotzdem Bush.» Gelächter unter Männern.
Im Washingtoner 9.30-Club sind garantiert keine WählerInnen von Donald Trump, dem Millionärssohn. Könnte allerdings sein, dass einige begünstigte Söhne und Töchter in den Refrain einstimmen. Hält sich Yale-Absolvent Dave Longstreth deshalb zurück? Fehlt ihm die Überzeugung für ein solches Testimonial: «Ich bin kein Senatorensohn»? Oder ist es das Unbehagen an der falschen Harmonie: Zu einem fünfzig Jahre alten Song versichern wir uns gegenseitig, auf der richtigen Seite zu stehen. Bräuchte es nicht andere Musik, um der komplexen Gegenwart gerecht zu werden?
Auf dem Kollabogipfel
Gern hätte ich Dave Longstreth danach gefragt, aber der Mann, der jetzt allein Dirty Projectors ist, lehnt Gespräche mit JournalistInnen ab. Es gibt bloss ein schriftliches Interview. So kontrolliert man Image und Rezeption und erreicht, dass alle dasselbe schreiben, zum Beispiel: «In Amerika wirken alle populären Songs wie aufgeputscht.» Es gehe immer nur ums Gewinnen und materiellen Reichtum, davon handle sein Song «Winner Take Nothing».
«Dirty Projectors» ist ein Trennungsalbum. Seine Freundin Amber Coffman hat Longstreth verlassen und die Band Dirty Projectors gleich mit, was ihn nicht daran hinderte, ein gleichnamiges Soloalbum zu produzieren. «Die Dinge sind sehr verschlungen», schreibt Longstreth, das gelte auch für seine Musik, die sich jeder Kategorisierung entziehe. Als kollaboratives Album bezeichnet er «Dirty Projectors», er arbeitete dafür mit Tyondai Braxton, ehedem Battles, mit der R-’n’-B-Sängerin Dawn Richard und Solange Knowles zusammen.
Das fordistische Organisationsmodell (Männer-)Band hat Longstreth hinter sich gelassen zugunsten temporärer kollaborativer Strukturen mit flexiblen Solitären in wechselnden Konstellationen. Arbeitskraftunternehmer schlägt Bandkumpel. Da kommt es dann auch mal zu rätselhaften Seitensprüngen wie einer EP mit Björk aus dem Jahr 2010. Fünf Jahre später erreichte Longstreth den Kollabogipfel mit «Four Five Seconds», einem Gemeinschaftswerk von Rihanna, Kanye West und Paul McCartney. Sein Kommentar: «Rihanna hat meine Melodie gesungen! Jetzt war ich bereit zu sterben.» Allein die A-Prominenz von Longstreths TeilzeitpartnerInnen macht deutlich, wie obsolet es ist, Dirty Projectors mit gängigen Kategorien oder Genrebezeichnungen beikommen zu wollen. Indie? Mainstream? Rock? R ’n’ B? Band? Auteur? Bullshit!
Als wichtigste AutorInnen der letzten Jahre nennt Longstreth: Karl Ove Knausgard, Joni Mitchell und Drake. Lassen wir den Schriftsteller Knausgard mal raus, bleiben mit den MusikerInnen Drake und Mitchell zwei Figuren, die nach binären Zuordnungslogiken als gegensätzlich oder zumindest sehr unterschiedlich gelten. Dabei haben beide mehr gemeinsam, als in gängige Formatradioschubladen passt. Beide agieren mehrstimmig: Mitchell singt im Alter mit ihrer nikotinvertieften Stimme noch mal Songs ihrer Jugend, sie kann wie Drake auf engstem Raum von der Höhe in die Tiefe wechseln und damit auch: die Sprechhaltung wechseln. Und beide transzendieren die Colour Lines: Die als erzweiss-introspektiv markierte Mitchell sampelt Burundi Beat und widmet dem Jazzgiganten Charles Mingus ein ganzes Album, der schwarz markierte Drake lässt sich mit den allenfalls schwarz gekleideten The XX ein.
Es gibt eine Klammerfigur zwischen Joni Mitchell und Drake, die «Dirty Projectors» zu verstehen hilft. Ihr Name ist Prince, der in einem Song fragt: «Wenn ich deine Freundin wäre, dürfte ich dich küssen?» Die KünstlerInnen eint eine polymorphe, uneindeutige Gender-Performance. Ein modernes Hilfsmittel, sich ins Uneindeutige zu verwandeln, ist Autotune. Drake ist ein virtuoser Player dieser Soundtechnik zur automatischen Tonhöhenkorrektur, die Grenzen von Genre, Geografie, Geschlecht und Hautfarbe zum Verschwimmen bringt.
Verlassen wir die Selbstauskünfte, und verlassen wir uns auf das, was wir von Dirty Projectors hören. Kirchenglocken, Klavier und dann: «Ich weiss nicht, warum du mich verlassen hast, du warst meine Seele und meine Gefährtin», klagt der verlassene Liebende in neuer Tonlage: Bariton. Später croont er, wechselt ins Falsett, in eine Art Rap und ins koloraturhaft Ausgezierte – dank Autotune.
Im Gegensatz zu populären liebeskranken Autotunern weisser Hautfarbe wie James Blake und Bon Iver kann man Longstreth als einen «Blue Eyed Soul Boy der Post Racial Pop Elite mit Skrupeln» bezeichnen. Blue Eyed Soul ist einer dieser gut gemeinten Euphemismen entlang der Hautfarbengrenze. Danach ist Soul schwarze Musik, und wenn Weisse sich daran versuchen, dann ist es, taktvoll umschrieben: Blue Eyed Soul.
Die anhaltende Wirkmacht der Colour Lines war gerade wieder bei den Grammys zu besichtigen. Die wichtigsten Preise in den allgemeinen Kategorien – bester Song, bestes Album – bekam die weisse Adele. Die nichtweissen Knowles-Schwestern, Beyoncé und Solange, erhielten Trophäen in Spezialabteilungen, irgendetwas mit R ’n’ B. Während die Grammy-Jury an dieser tendenziell rassistischen Ordnung festhält und in den USA Black Lives wieder weniger wert sind, ist der aktuelle kollaborative Pop im Post-Racial-Stadium angelangt. Auch dank der Popsymbolpolitik der Obamas mit nichtweissen Gästen im Weissen Haus.
Zweifel an der Männlichkeit
Warum nun aber «Blue Eyed Soul Boy der Post Racial Pop Elite mit Skrupeln»? Die Skrupel unterscheiden Longstreth von James Blake und Bon Iver, man hört sie in der Körnung und Haltung seiner Stimme. Wenn Longstreth in seine Stimmen legt, was landläufig als Soul bezeichnet wird, wenn er sich der Semantik des Soul bedient, dann tut er das im Wissen um die lange, leidvolle Geschichte weisser Adaption und Aneignung sogenannter «schwarzer» Musik. Er singt die Anführungszeichen mit, er singt uneigentlich und versucht gar nicht erst, punkto Expressivität mit «schwarzen Originalen» mitzuhalten.
Das verbindet ihn – politästhetisch wie sonisch – mit skrupulösen Blue Eyed Soul Boys, wie sie im Prä-Aids-Britannien auf den Bäumen wuchsen. Neben queeren Poppern wie Boy George denke ich an zwei – mutmasslich – heterosexuelle Sänger, auf deren Stimmbändern ein produktiver Konflikt tobte zwischen der Liebe zum Soul und dem Zweifel an der performten Männlichkeit in erster Person: Green Gartside von Scritti Politti und Edwyn Collins von Orange Juice.
Den Verlust der Frauenstimmen, die für den multivokalen, dialogischen Sound der Dirty Projectors so prägend waren, kompensiert Longstreth durch seine eigene Mehrstimmigkeit und das Gastspiel der tollen Dawn Richard. Und welchen Anteil hat nun Solange Knowles an «Dirty Projectors»? Das ist eine Frage der Projektionen, ohne die Pop kein Pop ist. Wenn stimmt, dass die Qualität einer Popplatte davon abhängt, was sie beim Hörer antriggert an Spekulationen, Gedanken, Projektionen, am Ende gar Gefühlen – dann ist «Dirty Projectors» ein ziemlich gutes Stück Pop.
Dirty Projectors: Dirty Projectors. Domino. 2017