Politik des Begehrens: Sex ist kein Sandwich
Wenn Männer morden, weil sie keinen Sex kriegen, drängt sich eine alte Kernfrage des Feminismus auf: Wie müsste eine Sexkritik aussehen, die sexuelle Vorlieben unbedingt ernst nimmt – dabei aber auch nicht vergisst, dass jedes Begehren politisch geprägt ist?
Am 23. Mai 2014 wurde der 22-jährige Studienabbrecher Elliot Rodger zum berühmtesten «Incel» der Welt. Der Begriff steht für «unfreiwilliges Zölibat» und kann theoretisch auf Männer und Frauen angewendet werden, aber in der Praxis wird damit eine bestimmte Art von Männern herausgegriffen, die keinen Sex haben: solche, die davon überzeugt sind, dass man ihnen Sex schuldet, und die wütend sind auf die Frauen, die ihnen den Sex vorenthalten. Rodger erstach seine beiden Mitbewohner, Weihan Wang und Cheng Hong, und einen Freund, George Chen, als sie seine Wohnung in Isla Vista, Kalifornien, betraten. Drei Stunden später fuhr er zum Alpha-Phi-Wohnheim in der Nähe des Campus der Universität Santa Barbara. Er schoss auf drei Frauen auf dem Rasen und tötete zwei von ihnen, Katherine Cooper und Veronika Weiss. Auf seiner folgenden Schiesstour durch Isla Vista tötete er den Studenten Christopher Michaels-Martinez mit einer einzigen Kugel in die Brust und verletzte vierzehn weitere Menschen. An einer Kreuzung verunfallte er schliesslich mit seinem BMW. Er wurde von der Polizei tot aufgefunden, nachdem er sich in den Kopf geschossen hatte.
In den Stunden zwischen dem Mord an den drei Männern in seiner Wohnung und der Fahrt zum Alpha-Phi-Wohnheim ging Rodger zu Starbucks, bestellte Kaffee und lud ein Video auf seinen Youtube-Kanal hoch: «Elliot Rodgers Vergeltung». Er schickte auch ein E-Mail mit einer 107 000 Wörter umfassenden, manifestartigen Denkschrift an eine Gruppe von Menschen, darunter seine Eltern, sein Therapeut, ehemalige Lehrer und Freunde aus der Kindheit: «My Twisted World: Die Geschichte von Elliot Rodger». «Alles, was ich je wollte, war, dazuzugehören und ein glückliches Leben zu führen», erklärt er zu Beginn, «aber ich wurde verstossen und zurückgewiesen, gezwungen, eine Existenz von Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit zu ertragen, nur weil die Frauen der menschlichen Spezies nicht in der Lage waren, zu sehen, was ich wert bin.»
Er beschreibt seine privilegierte und glückliche frühe Kindheit in England – Rodger war der Sohn eines erfolgreichen britischen Filmemachers –, gefolgt von seiner privilegierten und unglücklichen Jugend in Los Angeles als kleines, unsportliches, schüchternes, seltsames Kind ohne FreundInnen, das sich verzweifelt danach sehnt, cool zu sein. Er schreibt darüber, wie er seine Haare blond färbte (Rodger war halb weiss und halb malaysisch, blonde Menschen waren «so viel schöner»); darüber, wie er Zuflucht fand in «Halo» und «World of Warcraft»; darüber, wie ihn im Sommerlager ein hübsches Mädchen geschubst hatte («Das war die erste Erfahrung weiblicher Grausamkeit, die ich ertragen habe, und es hat mich traumatisiert ohne Ende»); darüber, wie ihn das Sexualleben seiner Altersgenossen erzürnte («Wie konnte ein minderwertiger, hässlicher schwarzer Junge ein weisses Mädchen bekommen und ich nicht? Ich bin schön, und ich bin selbst halb weiss. Ich stamme von der britischen Aristokratie ab. Er stammt von Sklaven ab»); darüber, wie er immer wieder von der Schule flog; und er fantasiert von einer politischen Ordnung, in der er die Welt regieren würde und Sex verboten wäre («Alle Frauen müssen unter Quarantäne gestellt werden wie die Pest, die sie sind»). Das notwendige Ergebnis all dessen, schrieb Rodger, war sein «Krieg gegen die Frauen», in dessen Verlauf er «alle Frauen» für das Verbrechen bestrafen würde, ihm den Sex zu entziehen. Er zielte auf die Studentinnen der Alpha Phi, der «schärfsten Studentinnenverbindung» der Universität Santa Barbara, denn dort seien «genau die Mädchen, die alles verkörpern, was ich am weiblichen Geschlecht hasse … scharfe, schöne blonde Mädchen … verwöhnte, herzlose, böse Schlampen». Er würde jedem zeigen, dass er «der Überlegene, das wahre Alphamännchen» sei.
Die Wut der Männer im Netz
Ende 2017 schloss das Onlinediskussionsforum Reddit seine 40 000 Mitglieder umfassende Selbsthilfegruppe «Incel» für «Menschen ohne romantische Beziehungen und Sex». Reddit ergriff die Massnahme, nachdem es ein Verbot verhängt hatte für Inhalte, die «Gewalt verherrlichen oder dazu aufrufen». Was einst als Selbsthilfegruppe für einsame und sexuell isolierte Menschen begonnen hatte, war zu einem Forum geworden, dessen Nutzer nicht nur gegen Frauen und die «Noncels» oder «Normies» wüteten, die mit Frauen schlafen durften, sondern sich auch häufig für Vergewaltigungen starkmachten. Eine zweite Incel-Gruppe bei Reddit, «Truecels», wurde ebenfalls verboten, nachdem die Website ihre Richtlinien geändert hatte. In der «Truecels»-Seitenleiste hatte es geheissen: «Keine Ermutigung oder Anstiftung zu Gewalt oder anderen illegalen Aktivitäten wie Vergewaltigung. Aber natürlich ist es in Ordnung zu sagen, dass Vergewaltigung zum Beispiel milder bestraft werden sollte oder sogar dass sie legalisiert werden sollte und dass nuttige Frauen es verdienen, vergewaltigt zu werden.»
Bald nach Rodgers Morden meldeten sich die Incels im Netz, um zu erklären, dass Frauen (und der Feminismus) letztlich verantwortlich seien für das, was passiert war. Hätte eine dieser bösen Schlampen doch nur Elliot Rodger gefickt, hätte er niemanden töten müssen (Nikolas Cruz, der am Valentinstag 2018 vierzehn SchülerInnen und drei Mitarbeiter einer Highschool in Parkland, Florida, erschossen hat, gelobte in einem Kommentar zu einem Youtube-Video, dass man «Elliot Rodger nicht vergessen werde»). FeministInnen wiesen gleich darauf hin, was offensichtlich hätte sein sollen: dass keine Frau verpflichtet gewesen sei, Sex mit Rodger zu haben; dass seine sexuelle Anspruchshaltung ein Fallbeispiel für patriarchalische Ideologie sei; und dass seine Handlungen eine vorhersehbare, wenn auch extreme Reaktion darauf seien, dass dieser Anspruch nicht erfüllt wurde. Sie hätten ergänzen können, dass der Feminismus alles andere als Rodgers Feind ist, sondern die wichtigste Kraft sein könnte, um sich genau dem System zu widersetzen, das ihm als kleinem, ungeschicktem, verweiblichtem Mischlingsjungen das Gefühl gab, er genüge nicht. Sein Manifest zeigt, dass es überwiegend Jungs und nicht Mädchen waren, die ihn schikanierten: die ihn in Schliessfächer drängten, ihn als Verlierer bezeichneten, ihn wegen seiner Jungfräulichkeit verspotteten. Aber es waren die Mädchen, die ihm den Sex vorenthielten, also waren es die Mädchen, die zerstört werden mussten.
Könnte man auch sagen, dass Rodgers Unfickbarkeit ein Symptom davon war, wie Frauen die patriarchalen Normen der sexuellen Attraktivität von Männern verinnerlicht haben? Die Antwort darauf wird durch zwei Dinge kompliziert. Erstens war Rodger ein «Creep», und wenn Frauen sich von ihm fernhielten, lag das zumindest teilweise daran, dass er auf seiner eigenen ästhetischen, moralischen und rassischen Überlegenheit beharrte, und nicht daran, dass er den Anforderungen der Heteromaskulinität nicht gerecht wurde. Zweitens gibt es viele Streber, die Frauen ins Bett kriegen und nicht zu Mördern werden. Tatsächlich besteht ein Teil der Ungerechtigkeit des Patriarchats – und das übersehen Incels und andere «Männerrechtsaktivisten» – gerade darin, wie es selbst vermeintlich unattraktive Kategorien von Männern attraktiv macht: Geeks, Nerds, effeminierte Männer, alte Männer, Männer mit «Dad Bods», also einem Körper, der etwas aus der Form geraten ist. Inzwischen gibt es sexy Schulmädchen und sexy Lehrerinnen, durchgeknallte Feen und Milfs, aber sie sind alle straff gebaut und scharf, kleine Variationen desselben normativen Paradigmas.
Allerdings stimmt es, dass die Art von Frauen, mit denen Rodger Sex haben wollte – scharfe Blondinen –, in der Regel keine Männer wie Rodger daten, auch nicht die weniger gruseligen, zumindest nicht, bis sie im Silicon Valley ein Vermögen gemacht haben. Es ist auch wahr, dass das etwas mit den starren Geschlechternormen des Patriarchats zu tun hat: Alphafrauen wollen Alphamänner. Und es stimmt, dass Rodgers Wünsche – seine erotische Fixierung auf die «verwöhnte, hochnäsige, blonde Schlampe» – selbst eine Funktion des Patriarchats sind. In feministischen Kommentaren über Elliot Rodger und das Incel-Phänomen im weiteren Sinn war viel von männlichen Sexualansprüchen und sexueller Gewalt die Rede. Aber bisher ging es dabei kaum um das Begehren: das Begehren der Männer, das Begehren der Frauen und wie beide ideologisch verfasst sind.
Das Unbehagen im Patriarchat
Früher war es so, dass der Feminismus der Ort war, an den man sich für eine politische Kritik des Begehrens wenden würde. Vor einigen Jahrzehnten waren Feministinnen fast die Einzigen, die darüber nachdachten, wie das sexuelle Begehren – seine Objekte und Ausprägungen, seine Fetische und Fantasien – von Unterdrückung geprägt ist. Ab den späten siebziger Jahren postulierte Catharine MacKinnon, dass Sex im Patriarchat von Natur aus gewalttätig sei. Für die radikalen Feministinnen, die ihre Ansicht teilten, waren die Begriffe und die Struktur des Sex durch patriarchalische Herrschaft bestimmt – und untermauert wurden sie von der Pornografie, wo sie verkörpert waren (in Robin Morgans Worten: «Pornografie ist die Theorie, Vergewaltigung ist die Praxis …»). Dass es Frauen gab, die unter diesen Bedingungen in der Lage schienen, Lust zu erfahren, war ein Zeichen dafür, wie schlimm die Dinge standen.
In den achtziger und neunziger Jahren wandten sich einige Feministinnen gegen die radikale Sexkritik durch MacKinnon und andere Anti-Porno-Feministinnen. Sie bestanden darauf, dass ein echtes sexuelles Vergnügen im Patriarchat möglich sei und dass Frauen frei sein sollten, dem nachzugehen. Frauen hätten ein Recht auf Sex ohne Schuldgefühle, einschliesslich heterosexuellen Sex, wenn sie wollten. Das Hauptargument gegen die Sexkritik à la MacKinnon brachte Ellen Willis in ihrem Essay «Lust Horizons: Is the Women’s Movement Pro-Sex?» (1981) vor, mit dem sie den sexpositiven Feminismus einleitete: Eine solche Sexkritik verweigere Frauen nicht nur das Recht auf sexuelles Vergnügen, sondern bekräftige auch die «neoviktorianische Vorstellung», dass Männer Sex begehren, während Frauen Sex nur ertragen. Die soziale Hauptfunktion dieser Idee, schreibt Willis, bestehe darin, die Autonomie der Frauen in Bereichen ausserhalb des Schlafzimmers (oder der Gasse) einzuschränken. Der Anti-Porno-Feminismus, so Willis, verlange von den Frauen, dass sie «eine falsche moralische Überlegenheit als Ersatz für sexuelles Vergnügen und Beschränkungen der sexuellen Freiheit der Männer als Ersatz für echte Macht akzeptieren».
Die Frauen beim Wort nehmen
Das Argument für den Pro-Sex-Feminismus wurde seither dadurch untermauert, dass sich der Feminismus zur Intersektionalität hin bewegt hat, also zur Vorstellung, dass das Patriarchat nicht unabhängig von anderen Systemen der Unterdrückung zu verstehen ist. Im Nachdenken darüber, wie patriarchalische Unterdrückung von Rasse und Klasse beeinflusst wird, sind Feministinnen vorsichtig geworden, wenn es darum geht, universelle Politiken vorzuschreiben, einschliesslich universeller Sexualpolitik. Forderungen nach gleichem Recht auf Arbeit werden bei weissen, bürgerlichen Frauen, die gezwungen waren, zu Hause zu bleiben, auf mehr Anklang stossen als bei schwarzen Frauen und bei Frauen aus der Arbeiterklasse, von denen immer erwartet wurde, dass sie neben Männern arbeiten. Und wenn eine Frau, die aufgrund ihrer weissen Haut bereits als Paradigma weiblicher Schönheit angesehen wird, sich selbst als sexuelles Objekt begreift, bedeutet das für sie etwas ganz anderes als für eine schwarze, braune oder für eine Transfrau. Die Wendung zur Intersektionalität hat auch dazu geführt, dass sich Feministinnen unwohl fühlen, wenn sie in Begriffen von falschem Bewusstsein denken: das heisst mit der Vorstellung, dass Frauen oft gegen ihre eigenen Interessen handeln, auch wenn sie das Gefühl haben, dass sie tun, was sie wollen.
Jetzt geht es darum, die Frauen beim Wort zu nehmen. Als Feministinnen sind wir verpflichtet, einer Frau zu glauben, wenn sie sagt, dass sie gerne in Pornos arbeitet, dass sie gerne für Sex mit Männern bezahlt wird, dass sie gerne Vergewaltigungsfantasien hegt oder Stilettos trägt – und sogar, dass sie diese Dinge nicht nur geniesst, sondern sie als emanzipatorisch empfindet, als Teil ihrer feministischen Praxis. Vielleicht ist das vor allem ein ethischer Anspruch: Ein Feminismus, der zu frei mit Begriffen der Selbsttäuschung hantiert, läuft Gefahr, die Subjekte zu beherrschen, die er befreien will.
Die These, die Willis in «Lust Horizons» aufstellte, hat sich bis heute gehalten. Seit den achtziger Jahren weht der Wind aufseiten eines Feminismus, der das Begehren zum grössten Teil als gegeben annimmt und der darauf besteht, dass die Art, wie wir dieses Begehren ausleben, moralisch nur durch die Grenzen der Zustimmung eingeschränkt ist. Sex ist nicht mehr moralisch problematisch oder unproblematisch, sondern nur noch gewollt oder ungewollt. In diesem Sinn entsprechen die sexuellen Normen den Normen des kapitalistischen freien Austauschs: Es kommt nicht darauf an, welche Bedingungen die Dynamik von Angebot und Nachfrage auslösen – warum einige Menschen ihre Arbeitskräfte verkaufen müssen, während andere sie kaufen –, sondern nur darauf, dass KäuferIn und Verkäufer der Transaktion zugestimmt haben. Es wäre jedoch zu einfach zu sagen, dass der Feminismus mit seiner positiven Einstellung zum Sex vom Liberalismus vereinnahmt worden sei. Generationen von Feministinnen und schwulen und lesbischen AktivistInnen haben hart dafür gekämpft, den Sex von Scham, Stigmatisierung, Zwang, Missbrauch und unerwünschten Schmerzen zu befreien. Es war für dieses Projekt unerlässlich zu betonen, dass nicht alles am Sex von aussen verstanden werden kann, dass sexuelle Handlungen private Bedeutungen haben können, die von öffentlicher Warte aus nicht erfasst werden können, dass es Zeiten gibt, in denen wir darauf vertrauen müssen, dass Sex in einem bestimmten Fall in Ordnung ist, auch wenn wir uns das nicht vorstellen können. So stellt der Feminismus die liberale Unterscheidung zwischen öffentlich und privat nicht nur infrage, sondern er hält auch daran fest.
Doch es wäre unaufrichtig, die – wenn auch unbeabsichtigte – Nähe zwischen Sexualpositivität und Liberalismus zu verkennen. Diese besteht darin, dass beide nur ungern hinterfragen, wie unsere Wünsche entstehen. Feministinnen der dritten und vierten Generation haben recht, wenn sie zum Beispiel sagen, dass Sexarbeit Arbeit sei und besser sein könne als die niedere Arbeit, die die meisten Frauen leisten. Und sie haben recht, wenn sie sagen, dass Sexarbeiterinnen nicht gerettet oder rehabilitiert werden müssen, sondern rechtliche Sicherheit und materiellen Schutz brauchen. Aber um zu verstehen, was Sexarbeit für eine Art von Arbeit ist – welche körperlichen und psychischen Handlungen werden genau gekauft und verkauft, und warum sind es überwiegend Frauen, die es tun, und überwiegend Männer, die dafür bezahlen –, muss man über die politische Prägung von männlichem Begehren sprechen. Und wer sagt, Sexarbeit sei «einfach Arbeit», unterschlägt, dass jede Arbeit – Männerarbeit, Frauenarbeit – nie einfach nur Arbeit ist: Sie ist auch vom Geschlecht geprägt.
Wann ist Sex okay?
Willis schliesst «Lust Horizons» mit dem Grundsatz, «dass einvernehmliche Partner ein Recht auf ihre sexuelle Neigung haben und dass autoritärer Moralismus keinen Platz» habe im Feminismus. Und doch, so fährt sie fort, «muss eine wirklich radikale Bewegung über das Recht der Wahl hinausblicken und sich weiterhin auf die grundlegenden Fragen konzentrieren. Warum wählen wir, was wir wählen? Was würden wir wählen, wenn wir eine echte Wahl hätten?» Diese Kehrtwende von Willis ist ausserordentlich und bleibt oft unbemerkt. Nachdem Willis den ethischen Grund dafür dargelegt hat, unsere sexuellen Präferenzen, was auch immer sie sein mögen, als Fixpunkte vor moralischer Inquisition zu schützen, sagt sie, dass ein «wirklich radikaler» Feminismus genau die Frage stellen würde, die zu einem «autoritären Moralismus» führt: Wie würden die sexuellen Entscheidungen von Frauen aussehen, wenn wir nicht nur «verhandeln» würden, sondern wirklich frei wären? Man könnte meinen, Willis widerspreche sich hier selbst. Aber eigentlich tut sie das gar nicht. Hier, sagt sie uns, ist die Aufgabe des Feminismus: unsere freien sexuellen Entscheidungen als unumstösslich zu behandeln, während wir gleichzeitig im Blick behalten, warum solche Entscheidungen, wie MacKinnon immer sagte, im Patriarchat selten frei sind. Mein Punkt ist, dass wir Feministinnen, weil wir so sehr auf Ersteres aus sind, Gefahr laufen, Letzteres zu vergessen.
Wenn wir die Zustimmung als das einzige Kriterium dafür betrachten, ob Sex okay ist, werden wir dazu gedrängt, sexuelle Vorlieben zu naturalisieren, was bedeutet, dass auch eine Vergewaltigungsfantasie eher zu einer ursprünglichen als zu einer politischen Tatsache wird. Aber nicht nur die Vergewaltigungsfantasie. Nehmen wir die höchste Fickbarkeit von «scharfen blonden Schlampen» und ostasiatischen Frauen, die relative Unfickbarkeit von schwarzen Frauen und asiatischen Männern, die Fetischisierung und Angst vor der schwarzen männlichen Sexualität, den sexuellen Ekel gegenüber Behinderten, Dicken und Transkörpern. Auch das sind politische Fakten, bei denen ein echter intersektionaler Feminismus verlangen sollte, dass wir sie ernst nehmen. Aber ein sexpositiver Blick, der Willis’ Aufruf zur Ambivalenz nicht beherzigt, droht diese Tatsachen zu neutralisieren und sie als präpolitische Gegebenheiten zu behandeln. Mit anderen Worten, der sexpositive Blick riskiert, nicht nur Misogynie, sondern auch Rassismus, Ablehnung, Transphobie und jedes andere repressive System zu erfassen, das durch den scheinbar harmlosen Mechanismus der «persönlichen Präferenz» ins Schlafzimmer gelangt.
Blaue Haare, weisse Haut
«Die schönen Torsos auf dem Datingportal Grindr sind meist asiatische Männer, die ihre Gesichter verstecken», sagt ein schwuler Freund von mir. Am nächsten Tag sehe ich auf Facebook, dass Grindr eine Webserie mit dem Titel «What the Flip» gestartet hat. In der ersten dreiminütigen Episode tauschen ein schöner ostasiatischer Typ mit blauen Haaren und ein gut aussehender, gepflegter Weisser ihre Grindr-Profile. Die Ergebnisse sind vorhersehbar trostlos. Der weisse Typ, der jetzt das Profil des asiatischen Kerls benutzt, wird kaum angesprochen, und wenn, dann von Männern, die verkünden, dass sie «Reisköniginnen» seien und auf asiatische Männer stehen, weil diese gut darin seien, «von hinten genommen zu werden». Wenn er ihre Nachrichten ignoriert, wird er beschimpft. Der Posteingang des asiatischen Typen wird derweil von Bewunderern überflutet. Als sie danach darüber sprechen, zeigt sich der Weisse schockiert, der Asiate reagiert mit fröhlicher Resignation. In der nächsten Episode tauscht ein gerissener Ryan-Gosling-Typ sein Profil mit einem hübschen, molligen Kerl. In Episode drei tauscht ein effeminierter mit einem maskulinen Typen. Die Ergebnisse sind so, wie man es erwarten würde.
Die offensichtliche Ironie von «What the Flip» besteht darin, dass Grindr seine Benutzer ermutigt, die Welt in diejenigen zu unterteilen, die nach groben Identitätsmerkmalen als sexuelle Objekte taugen, und diejenigen, die nicht dazu taugen. Dabei vertieft Grindr einfach die diskriminierenden Prägungen, entlang derer sich unsere sexuellen Wünsche bereits bewegen. Aber Onlinedating – und vor allem die abstrahierten Interfaces von Tinder und Grindr, die Anziehungskraft auf das Wesentliche reduzieren: Gesicht, Grösse, Gewicht, Alter, Rasse, witzige Überschrift – hat wohl die schlimmsten Aspekte heutiger Sexualität genommen und auf unseren Bildschirmen institutionalisiert.
Eine Voraussetzung für «What the Flip» ist, dass es sich um ein spezifisch schwules Problem handelt: dass die schwule Männergemeinschaft zu oberflächlich, zu körperfaschistisch, zu urteilsfreudig ist. Die schwulen Männer in meinem Leben sagen so etwas die ganze Zeit; sie haben ein schlechtes Gewissen deswegen, Täter und Opfer gleichermassen (die meisten sehen sich als beides). Ich bin nicht überzeugt. Können wir uns vorstellen, dass Datingapps für Heteros, wie OK Cupid oder Tinder, eine Webserie produzieren, die die heterosexuelle Community ermutigt, sich ihrem sexuellen Rassismus oder ihrer Fettphobie zu stellen? Wenn das so unwahrscheinlich ist, wie ich denke, dann liegt das kaum daran, dass Heteros keine Körperfaschisten oder sexuellen Rassistinnen sind. Sondern daran, dass Heteros und Heteras – oder wie ich sagen sollte, weisse Heterosexuelle ohne Behinderungen – sich nicht gewöhnt sind zu denken, dass daran, wie sie Sex haben, etwas falsch sein könnte. Im Gegensatz dazu wissen schwule Männer – selbst die schönen, weissen, reichen, nicht behinderten –, dass es eine politische Frage ist, mit wem wir wie Sex haben.
Den Sex aus sich selbst heraus begreifen
Es gibt natürlich echte Risiken, wenn wir unsere sexuellen Präferenzen einer genauen politischen Untersuchung unterziehen. Wir wollen, dass der Feminismus in der Lage ist, die Basis des Begehrens zu hinterfragen, aber ohne Frauen als Schlampen herabzusetzen, ohne Prüderie oder Selbstverleugnung: ohne einzelnen Frauen zu sagen, dass sie nicht wirklich wissen, was sie wollen, oder das nicht geniessen können, was sie eigentlich wollen, innerhalb der Grenzen der Zustimmung. Einige Feministinnen halten dies für unmöglich, weil jede Offenheit für eine Kritik des Begehrens unweigerlich zu autoritärem Moralismus führe. Aber es besteht auch die Gefahr, dass die Repolitisierung des Begehrens einen Diskurs der sexuellen Ansprüche fördert. Von Menschen zu reden, die zu Unrecht sexuell ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden, kann den Weg zur Vorstellung bereiten, dass diese Menschen ein Recht auf Sex haben, ein Recht, das von denen verletzt wird, die sich weigern, Sex mit ihnen zu haben. Diese Ansicht ist äusserst unangenehm: Niemand ist verpflichtet, mit jemand anderem Sex zu haben. Auch das ist selbstverständlich. Und das ist es natürlich, was Elliot Rodger wie auch die Legionen von wütenden Incels, die ihn als Märtyrer feiern, nicht sehen wollten. In der inzwischen stillgelegten Reddit-Gruppe gab es einen Beitrag unter dem Titel «Für Incels sollte es legal sein, Frauen zu vergewaltigen», der erklärte: «Kein hungernder Mann sollte ins Gefängnis gehen müssen, weil er Essen gestohlen hat, und kein sexuell verhungerter Mann sollte ins Gefängnis gehen müssen, weil er eine Frau vergewaltigt hat.» Es ist eine abscheuliche falsche Analogie, die das gewalttätige Missverständnis im Herzen des Patriarchats offenbart.
In ihrem raffinierten Essay «Men Explain Lolita to Me» erinnert uns Rebecca Solnit daran, dass man «nur dann mit jemandem Sex haben darf, wenn er oder sie mit einem schlafen will», ebenso wie man «das Sandwich von jemand anderem nur teilen kann, wenn er oder sie das Sandwich mit einem teilen will». Keinen Bissen von jemandes Sandwich zu bekommen, ist «auch keine Form der Unterdrückung», sagt Solnit. Aber die Analogie verkompliziert so viel, wie sie verdeutlicht. Angenommen, Ihre Tochter erzählt Ihnen nach der Schule, dass die anderen Kinder ihre Sandwiches miteinander teilen, aber nicht mit ihr. Und angenommen, Ihr Kind ist braun, dick, behindert oder spricht nicht sehr gut Englisch, und Sie vermuten, dass dies der Grund dafür ist, dass es ausgeschlossen wird. Plötzlich scheint es kaum noch genug, darauf hinzuweisen, dass keines der anderen Kinder verpflichtet sei, mit Ihrem Kind zu teilen, so wahr das auch sein mag.
Sex ist kein Sandwich. Zwar will Ihr Kind nicht, dass man aus Mitleid mit ihm teilt, so wie niemand wirklich einen Gnadenfick will, schon gar nicht von einem Rassisten oder Transphoben. Aber wir würden es nicht für Zwängerei halten, wenn der Lehrer die anderen SchülerInnen ermutigen würde, mit Ihrer Tochter zu teilen, oder wenn man eine Politik der gleichen Teilung einführen würde. Doch ein Staat, der analoge Eingriffe in die sexuelle Präferenz und Praxis seiner BürgerInnen vornähme und uns ermutigte, Sex gleichmässig zu «teilen», würde wahrscheinlich als äusserst autoritär angesehen werden. (Der utopische Sozialist Charles Fourier schlug ein garantiertes «sexuelles Minimum» vor, ähnlich wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, für jeden Mann und jede Frau, unabhängig von Alter oder Gebrechen. Erst wenn sexuelle Entbehrung beseitigt wäre, dachte Fourier, könnten romantische Beziehungen wirklich frei sein.) Natürlich spielt es eine Rolle, wie diese Interventionen aussehen würden: BehindertenaktivistInnen zum Beispiel fordern schon lange einen umfassenderen Sexualunterricht in Schulen, und viele würden eine Regelung begrüssen, die die Vielfalt in der Werbung und den Medien gewährleistet. Aber zu denken, dass solche Massnahmen ausreichen würden, um unsere sexuellen Wünsche zu verändern und völlig von diskriminierenden Prägungen zu befreien, ist naiv. Und während man vernünftigerweise durchaus verlangen kann, dass eine Gruppe von Kindern ihre Sandwiches mit allen teilt, geht das beim Sex einfach nicht. Sex ist kein Sandwich, und er lässt sich auch sonst mit nichts wirklich vergleichen. Nichts ist so sehr von der Politik durchdrungen und doch so unantastbar persönlich. Es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen einen Weg finden, Sex aus sich selbst heraus zu begreifen.
Die Kraft des Begehrens
Innerhalb des Feminismus werden diese Schwierigkeiten derzeit in verschärftem Mass durch die Erfahrungen der Transfrauen aufgeworfen. Transfrauen sind oft mit sexueller Ausgrenzung von lesbischen Cis-Frauen konfrontiert, die gleichzeitig behaupten, sie als Frauen ernst zu nehmen. Die Transpornodarstellerin und -aktivistin Drew DeVeaux hat für dieses Phänomen den Begriff «baumwollene Decke» geprägt («Baumwolle» wie in Unterwäsche). Das Phänomen ist real, aber wie viele Transfrauen bemerkt haben, ist die Bezeichnung unglücklich. Von der «gläsernen Decke» sprechen wir, wenn das Recht einer Frau, allein aufgrund ihrer Arbeit aufzusteigen, beschnitten wird; dagegen beschreibt die «baumwollene Decke» den fehlenden Zugang zu etwas, was niemand zu geben verpflichtet ist. Wer zu einer Transfrau, einer behinderten Frau oder einem asiatischen Mann einfach sagt: «Niemand ist verpflichtet, Sex mit dir zu haben», geht über etwas Entscheidendes hinweg. Es gibt keinen Anspruch auf Sex, und jeder hat das Recht, zu wollen, was er will, aber persönliche Vorlieben – keine Schwänze, keine Femmes, keine Dicken, keine Schwarzen, keine Araber – sind nie einfach persönlich.
In einem Beitrag für die Zeitschrift «n + 1» argumentierte jüngst die Feministin und Transtheoretikerin Andrea Long Chu, dass die Transerfahrung, entgegen der landläufigen Meinung, «nicht die Wahrheit einer Identität, sondern die Kraft eines Begehrens» ausdrücke. Trans zu sein, sagt sie, sei «nicht eine Frage, wer man ist, sondern was man will».
Sie fährt fort: «Ich wechselte für Klatsch und Tratsch und Komplimente, Lippenstift und Wimperntusche, für Tränen im Kino, dafür, dass ich die Freundin von jemandem sein konnte, dafür, dass sie die Rechnung bezahlte oder meine Taschen trug, für den gutmütigen Chauvinismus von Bankangestellten und Elektrikern, für die telefonische Intimität von Distanzfreundschaften zwischen Frauen (…), für ultrakurze Shorts, Bikinitops und alle Kleider, und, mein Gott, für die Brüste. Aber jetzt seht ihr allmählich das Problem mit dem Begehren: Wir wollen selten das, was wir sollten.» Chu weiss sehr wohl, dass diese Erklärung droht, das Argument der Anti-Trans-Feministinnen zu untermauern: dass nämlich Transfrauen die Weiblichkeit mit den Merkmalen der traditionellen Weiblichkeit gleichsetzen und damit die herrschende Hand des Patriarchats stärken. Viele Transfrauen bestehen darauf, dass es bei Trans um Identität gehe, also darum, bereits eine Frau zu sein. Chu hingegen betont das Begehren, eine Frau werden zu wollen. (Sobald man Transfrauen als Frauen anerkennt, wirken Klagen über ihre «exzessive Weiblichkeit» unfair – über die «exzessive Weiblichkeit» von Cis-Frauen hört man nie so viele Klagen.) Stattdessen besteht Chu darauf, dass es «nicht gut kommt, wenn man das Begehren zwingt, sich einem politischen Prinzip anzupassen», auch nicht beim Begehren nach genau den Dingen, die die Symptome der Unterdrückung von Frauen sind: ultrakurze Shorts, Bikinitops und «gutmütiger Chauvinismus». Wir müssen also den radikalen feministischen Ehrgeiz, eine politische Sexkritik zu entwickeln, vollständig exorzieren.
Das Argument geht in beide Richtungen. Wenn jedes Begehren gegen politische Kritik immun sein muss, dann gilt das auch für das Begehren, das Transfrauen ausschliesst und marginalisiert: nicht nur erotische Wünsche nach bestimmten Körpertypen, sondern auch der Wunsch, Weiblichkeit nicht mit den «falschen» Arten von Frauen zu teilen. Ein Feminismus, der einer politischen Kritik des Begehrens völlig abschwört, hat wenig über das Unrecht jener ausgegrenzten und missachteten Frauen zu sagen, die den Feminismus wohl am meisten nötig haben.
Von Abscheu zu Bewunderung
Die Frage ist folglich, wie wir diese Ambivalenz aushalten: also anerkennen, dass niemand verpflichtet ist, jemand anderen zu begehren, und dass niemand ein Recht darauf hat, begehrt zu werden – aber auch, dass es eine politische Frage ist, wer gewünscht wird und wer nicht, und dass das normalerweise über allgemeinere Herrschafts- und Ausgrenzungsmuster erfolgt. Es fällt auf, dass Männer dazu neigen, auf sexuelle Marginalisierung mit einem Anspruch auf den Körper von Frauen zu reagieren, während sexuell marginalisierte Frauen typischerweise nicht von Anspruch, sondern von Ermächtigung sprechen. Oder, soweit sie von Anspruch sprechen, ist es das Recht auf Respekt, nicht auf den Körper anderer Menschen. So fordern uns die radikalen Selbstliebe-Bewegungen von schwarzen, dicken und behinderten Frauen auf, unsere sexuellen Vorlieben als veränderlich zu sehen: «Schwarz ist schön» und «Dick ist schön» sind nicht einfach Ermächtigungsslogans, sondern Vorschläge, unsere Werte neu zu bewerten. Wenn man bestimmte Körper – den eigenen und den anderer – aus einem anderen Winkel betrachtet, lädt uns das dazu ein, einen Wandel von Abscheu zu Bewunderung zu vollziehen. Die Frage radikaler Selbstliebe-Bewegungen ist nicht, ob es ein Recht auf Sex gibt (gibt es nicht), sondern ob es eine Pflicht gibt, unser Begehren so gut wie möglich umzugestalten.
Um diese Frage ernst zu nehmen, müssen wir erkennen, dass die Vorstellung einer festen sexuellen Präferenz nicht metaphysisch ist, sondern politisch. Im Sinne einer guten Politik behandeln wir die Präferenzen anderer als heilig: Wir sind zu Recht vorsichtig, wenn wir darüber sprechen, was die Menschen wirklich wollen oder was eine idealisierte Version von ihnen wollen würde. Hier lauert, wie wir wissen, der Autoritarismus. Dies gilt vor allem für den Sex, wo die Berufung auf echte oder ideale Wünsche lange verwendet wurde, um Vergewaltigungen von Frauen und schwulen Männern zu decken. Tatsache ist aber, dass unsere sexuellen Präferenzen wandelbar sind, auch wenn es dazu manchmal unseren eigenen Willen braucht. Ausserdem entspricht das sexuelle Begehren nicht immer sauber den Vorstellungen, die wir uns davon machen, wie Generationen von schwulen Männern und lesbischen Frauen bestätigen können. Das Verlangen kann uns überraschen und uns an einen Ort führen, von dem wir uns nicht hätten vorstellen können, dass wir jemals hingehen würden, oder zu einer Person, von der wir nie gedacht hätten, dass wir sie begehren oder lieben würden. In den allerbesten Fällen, den Fällen, die uns vielleicht am meisten Hoffnung machen, kann das Begehren das durchkreuzen, was die Politik für uns gewählt hat, und sich selbst wählen.
Dieser Text ist im Original in der «London Review of Books» erschienen. www.lrb.co.uk. Aus dem Englischen von Florian Keller.
Die Philosophin Amia Srinivasan ist Professorin am St. John’s College der Oxford-Universität.