Die Jungen: Freiheit obenrum
Der «Summer of Love» brachte in den Sechzigern die sexuelle Befreiung – das wissen junge Leute nur aus Songtexten. Wie frei fühlt sich die Generation, die zwischen Porno-Overkill und neuer Prüderie aufgewachsen ist?
Unkomplizierter Sex? Dafür gibts eine App! «Grindr» etwa erlaubt es schwulen Männern, andere Nutzer in ihrer Umgebung zu treffen. Für ein Profil lädt man ein Foto hoch und gibt Körpergrösse und persönliche Vorlieben preis. Dann werden einem andere Nutzer geordnet nach Distanz zum eigenen Aufenthaltsort angezeigt. Markus (25)* war eine Zeit lang aktiv auf «Grindr». Er erzählt: «‹Grindr› ist keine Plattform für Leute, die eine Beziehung suchen. Man schaut nur: Passen wir sexuell zusammen? Du schreibst ein paar Leute an und hast innerhalb weniger Minuten jemanden, der dasselbe sucht wie du. Dann trifft man sich.»
Ziemlich zwanghaft
Wachsen junge Menschen also in einer Zeit grösster sexueller Freizügigkeit auf? Daran gibt es Zweifel. Die US-Journalistin Rachel Hills ist der Meinung, dass Sex heute von neuen unausgesprochenen Normen reguliert wird. Wie sie in ihrem Buch «The Sex Myth» (2015) schreibt, haben junge Menschen eine klare Vorstellung davon, wie oft, mit wem und wie sie Sex haben sollten für ein «normales» und «gutes» Sexleben. Laut Hills geht es Jugendlichen deshalb oft gar nicht mehr darum, ihre eigene Sexualität zu entdecken, sondern darum, einem bestimmten Bild von Sexualität nachzueifern – Freiheit sieht anders aus.
Sofia (24) studiert Kunstvermittlung in Zürich. Sie kennt diesen Leistungsdruck aus ihrer Gymizeit: «Mit vierzehn wollte ich unbedingt ganz schnell Sex haben und Erfahrungen sammeln. Heute weiss ich, dass das damals ziemlich zwanghaft war. Ich hatte das Gefühl, die Männer würden hohe Erwartungen an mich und mein Können stellen. Ich wollte immer die Sexkönigin sein, die Geilste von allen.» Rachel Hills schreibt, dieser Druck entstehe nicht zuletzt durch eine oberflächliche Gesprächskultur unter jungen Menschen, wenn es ums Thema Sex gehe. Die gelernte Polydesignerin Ruby (22) bestätigt: «Wenn mir Freundinnen von ihrem Sexleben erzählen, dann empfinde ich es oft als Angeberei. Nach dem Motto: ‹Schau, wie frei und begehrt ich bin!› Dabei zeigt das ja nur, wie unsicher sie sind, denn über wirklich intime Dinge, über Ängste und Unsicherheiten reden wir selten.»
Der Wirtschaftsstudent Julian (27) findet, die eigene sexuelle Freiheit hört da auf, wo die Gefühle der anderen anfangen: «Ich möchte nicht mit den Gefühlen von Frauen spielen und mache deswegen nicht einfach, worauf ich gerade Lust habe. Lieber schlafe ich nicht mit einer Frau, als dass ich ihr falsche Hoffnungen mache und sie dann enttäusche.» Für die Studentin Hannah (23) hat Sexualität viel mit Selbstwertgefühl zu tun: «Ich habe einmal gelesen, man nehme sich die Liebe, von der man denkt, dass man sie verdiene. Das lässt sich auch auf Sex anwenden. Ich habe ein schlechtes Bild von meinem eigenen Körper. Ich hatte lange Zeit Essstörungen und habe immer noch Rückfälle. Das verhindert oft sexuelle Kontakte, weil ich sie von mir fernhalte. Vielleicht denke ich, ich verdiene keine körperliche Zuwendung?» Auf der App «Grindr» geht es nur um Oberflächlichkeiten, wie Markus erzählt: «Das Klischee, Männer seien visuell, wenn es ums Begehren geht, wird auf ‹Grindr› bestätigt. Es kann sehr verletzend sein, wenn man eine Nachricht bekommt: ‹Sorry, du bist zu dick› oder ‹Du bist zu alt›. Aber ich habe mir da mittlerweile einen Schutzschild aufgebaut.»
Unpraktische Stellungen
Pornos machen aus ihren Zuschauern gewaltbereite und frauenverachtende Liebhaber – dieser Pauschalvorwurf ist ein alter Zopf. Er ist zwar noch immer verbreitet, aber der moderne Feminismus distanziert sich schon lange von Pornokritik à la Alice Schwarzer. Das feministische Label Por Yes etwa zeichnet sexpositive feministische Pornos aus. Und doch leiden junge Menschen unter Leistungsdruck und einem negativen Körperbild. Vermitteln Pornos vielleicht doch ein falsches Bild von Sex und setzen junge Menschen unter Druck? Für Ruby haben Pornos nichts mit Sex zu tun: «Ich weiss ja, dass sie gespielt sind. Deswegen beeinflussen sie mich auch nicht. Pornos sind ein bisschen wie Fastfood: Man hat manchmal Lust darauf, aber danach fühlt man sich eklig und ist nicht satt.» Für Sofia hingegen wirken sie etwas zu echt: «Ich schaue ab und zu Hentais, japanische animierte Pornos. Das kann ich von mir abgrenzen, das finde ich besser.» Sie sieht in Pornografie eine Gefahr für die Fantasie: «Es gab Männer, die wollten ganz unpraktische Stellungen mit mir ausprobieren. Das hatten die bestimmt aus Pornos. Sie schränken die eigene Neugier und Fantasie ein.»
Für Markus sind sie dagegen Inspirationsquelle: «Einige Dinge habe ich ausprobiert, weil ich sie in Pornos gesehen habe. Sie haben mir Mut gemacht, Neues zu entdecken. Natürlich nur die guten, denn es gibt auch viel Mist im Internet. Ich suche sie ganz gezielt.» Er schaut sich nicht nur Videos an, sondern liest auch ab und zu pornografische Texte. Julian macht sich Sorgen wegen der Intransparenz im Netz: «Die Pornoindustrie ist mir suspekt. Ich habe grosse Angst, dass ich aus Versehen einen Porno mit Minderjährigen anschaue. Das merkt man ja nicht unbedingt, und dann kann man das womöglich auf mich zurückführen. Deswegen bin ich sehr vorsichtig.» Es stimmt, dass das Internet den Zugang zu frauenfeindlichen, gewalttätigen und anderen fragwürdigen Bildern von Sex erleichtert hat. Aber jungen Menschen wurde schon früh das Bewusstsein eingeimpft, dass nicht alles, was sie im Internet sehen, echt ist. Und sie wissen so gut wie keine Generation vor ihnen, dass man sich für gute Inhalte im Internet erst einmal durch einen Haufen Mist graben muss.
Einseitige Repräsentation von Sexualität gibt es nicht nur in Internetpornos, wie Hannah erzählt: «Ich erinnere mich an mein Biologiebuch. Nach einer biologischen Erklärung von heterosexuellem Sex und Fortpflanzung stand ganz unten ein Satz: ‹Es gibt auch schwule Männer.› Das wars.» Unter ihren MitschülerInnen war kaum von nicht heterosexuellem Sex die Rede. Über verschiedene Genderidentitäten und nicht heterosexuellen Sex hat sich Hannah in jener Zeit übers Netz informiert. Hannah ist bisexuell und führt ein polyamores Leben. Markus wuchs in einem sehr konservativen Elternhaus auf, und auch für ihn war das Internet eine Möglichkeit, seine Sexualität zu entdecken: «Meine Eltern wissen nicht, dass ich auch mit Männern schlafe, und es wird noch eine Weile dauern, bis ich es ihnen sagen kann. ‹Grindr› erleichterte es mir, meine Anziehung zu Männern zu erkunden, ohne dass jemand davon erfuhr.»
Wenn Frauen viel Sex haben
Durch den Austausch im Netz haben wir heute nicht nur mehr Beziehungsmodelle zur Verfügung als noch vor wenigen Jahren, wir haben auch für alle einen Namen: Polyamorie, offene Beziehung, Friends with Benefits. Das ist eine Errungenschaft. Aber die grosse Auswahl kann auch verunsichern, wie Ruby berichtet: «Ich kann zwar theoretisch Sex haben, mit wem ich möchte, aber ich bin sehr verkopft und wage deswegen wenig. Ich mache mir tausend Gedanken darüber, was passieren könnte, wenn ich mit jemandem schlafe. Was passiert danach? Verlieben wir uns? Oder können wir uns nicht mehr in die Augen schauen? Mich verunsichert diese Unklarheit.»
Obwohl die Vorstellungen davon, was männlich und was weiblich ist, langsam aufbrechen, hat Sofia die Erfahrung gemacht, dass die klassische Rollenverteilung im intimsten Bereich des Lebens oft immer noch präsent ist: «Sogar mit progressiven, linken Männern ist meistens klar: Er gibt im Bett den Ton an. Wenn er nicht mehr kann, dann ist fertig. Und wenn er ewig möchte, dann mache ich mit. Keine Ahnung, ob das Biologie ist oder Sozialisation. Eigentlich würde ich gerne mal sagen, wo es langgeht.» Heterosexueller Sex verläuft immer noch oft nach Schema F – der Mann befriedigt seine Bedürfnisse, die Frau hilft ihm dabei. Das ist ein Skript, das uns in tausend Filmen und Zeitschriften, in Büchern und im Fernsehen vermittelt wurde und das sich tief in unser Bewusstsein gegraben hat. Es stellt Erwartungen an Männer und Frauen gleichermassen und schränkt alle ein. Die Genderstudentin Hannah: «Frauen lernen, dass sie sich um den Mann kümmern und seine Bedürfnisse befriedigen müssen. Ihre eigenen stellen sie hintan.»
Doch wenn Frauen viel Sex haben, werden sie wiederum als sexbesessen wahrgenommen, erzählt Sofia: «Ich bin in meinem Freundeskreis bekannt als die, die alles macht. Manche Männer kommen zu mir, weil sie Dinge im Bett ausprobieren wollen, die ihre Freundinnen nicht mitmachen. Ich sehe mich als Hexe, die diese Wünsche erfüllt. Aber ich wurde auch schon als Nymphomanin bezeichnet.» Markus erzählt, dass es Rollenverteilungen auch beim Sex zwischen zwei Männern gibt: «Schwule Männer mussten sich in ihrem Leben mehr Gedanken über Rollenbilder machen, weil sie dem Stereotyp von Männlichkeit sowieso nicht entsprechen. Aber Rollenverteilung gibt es trotzdem. Manchmal ist der Körperbau ausschlaggebend. Ist ein Mann gross und muskulös, dann findet er sich eher in der aktiven Rolle wieder.» Für Julian geht guter Sex nur, wenn er gleichberechtigt ist: «Ich bin zwar oft der aktivere Part. Aber es ist ein Geben und ein Nehmen, sonst ist es nicht gut. Ausserdem muss man sich vertrauen, und man muss sich kennen. Deswegen sind One-Night-Stands fast nie gut, weil man sich nicht genug kennt und nicht vertraut.» Alle sind sich einig: Das Ausloten und Verhandeln von Rollen und von Machtverhältnissen ist wichtig für ein selbstbestimmtes Sexleben. Man muss über diese Dinge reden, dann kann man den Einschränkungen auch entfliehen.
Macht und Kontrolle
Seit dem Beginn der #MeToo-Debatte wird von verschiedenen Seiten vor einer «neuen Prüderie» gewarnt. Laut Duden ist prüde, wer sexuell unfrei und peinlich von Sex berührt ist. Der #MeToo-Bewegung geht es aber um das Gegenteil: keine Berührungsängste beim Thema Sex. Sie hat damit einen Grundsatz der sexuellen Befreiung aufgegriffen. Und sie will nicht nur über Sex reden, sondern auch über Macht und Kontrolle. Der Vorwurf einer neuen Prüderie wirkt reichlich fehl am Platz, wenn man sich die Geschichten junger Frauen anhört. Sowohl Sofia als auch Hannah erzählen von Erlebnissen, in denen sie zum Sex gedrängt wurden. Sofia war bei einem Bekannten zu Hause, und er wollte sie nicht gehen lassen. Er bedrängte und bearbeitete sie. «Um ihn endlich loszuwerden, habe ich dann einfach mit ihm geschlafen. Ich habe mich danach unwohl gefühlt und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.» Hannah hatte ein ähnliches Erlebnis: «Ich habe mich von ihm überreden lassen. Ich habe nicht Nein gesagt, aber auch nicht Ja.» Dieses Erlebnis begleitet sie bis heute: «Ich habe seither grosse Angst vor körperlicher Nähe. Ich schütze mich selbst.»
Seine eigenen Grenzen zu kennen und zu zeigen, ist nicht prüde, sondern ein Zeichen von Freiheit. Die Psychologin Sandra Konrad sagt, das Tabu sei heute nicht die Promiskuität, denn damit habe sich der Grossteil der Menschen abgefunden. Das Tabu sei viel eher, Grenzen zu markieren. Die queere Szene ist den Heteros vielleicht einen Schritt voraus: «Bei queerem und kinky Sex ist es essenziell, dass man Grenzen aufzeigt, weil das Skript nicht vorgegeben ist», sagt Hannah. Eine Vielfalt an Genderidentitäten kann Rollenbilder ins Wanken bringen. «Wenn Männer Frauen sexuell belästigen, dann werten sie Männer genauso ab wie Frauen», meint Julian. «Solche Männer machen sich selbst zu triebgesteuerten Tieren und Frauen zu Objekten.»
Ziemlich romantisch
Markus hat «Grindr» mittlerweile gelöscht. Er hat seine eigene Grenze gefunden: «Die Möglichkeiten, die ‹Grindr› bot, taten mir zwar eine Zeit lang gut, weil ich mich ausleben konnte. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich Menschen nur noch als Körper wahrgenommen habe, die meine Bedürfnisse befriedigen können. Ich möchte das nicht mehr. Man muss da seine Balance finden: Wie viel unpersönlicher Sex tut mir gut, und wo fühle ich mich nicht mehr wohl damit?» Julian findet Dating-Apps wie «Tinder» sowieso ziemlich unromantisch: «Mir gefällt es, wenn ich jemanden höre, sehe und rieche und dann das Gesamtpaket gut finde. Und nicht, wenn ich einfach zwei Bilder anschaue, die wahrscheinlich retuschiert wurden. Ausserdem führt man immer diesen peinlichen Small Talk per Chat. Da fühle ich mich lächerlich.»
Es ist diese Spannung, die junge Menschen heute beschäftigt. Sie sind frei, ihre Sexualität auszuleben, wie sie wollen. Diese Freiheit verlangt aber, dass sie sich mit ihren eigenen Bedürfnissen und Grenzen auseinandersetzen und diese kommunizieren können. Ansonsten schlägt die Freiheit entweder in eine neue Kontrolle um, oder die Orientierungslosigkeit führt dazu, dass man in alte Rollen zurückfällt. Oder wie Margarete Stokowski schreibt: «Untenrum» sind Junge so frei wie noch nie. Aber Freiheit «obenrum», die Befreiung in den Köpfen, ist noch immer im Gang.
* Alle Namen der Befragten geändert.