Literatur: Der Klang der Knüppelschläge
Der Faschismus, erzählt als weitläufiger Roman: Was das grosse Mussolini-Projekt des italienischen Schriftstellers Antonio Scurati über die extreme Rechte lehrt.
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist nicht nur Archiv unermesslicher Gewalt, sondern auch bemerkenswerter Fehleinschätzungen. 1926 etwa jubelte die «Washington Post» nach einem gescheiterten Attentat auf Benito Mussolini, es sei «ein Glück für Italien», dass dieser überlebt habe; für die US-Zeitung war der Faschismus im Begriff, das Land «in eine produktive, blühende Nation» zu verwandeln. Ähnlich sah das Winston Churchill, der den Diktator wenig später auf einer Pressekonferenz in Rom umschmeichelte: «Wäre ich Italiener, so wäre ich in eurem Kampf gegen die mörderischen Gelüste und Affekte des Leninismus gewiss von Anfang bis Ende ganz auf eurer Seite … Nach aussen hin hat eure Bewegung der ganzen Welt einen Dienst erwiesen.»
Aus Täterperspektive
Dieser «Dienst» hatte darin bestanden, die italienische Linke mit grösster Brutalität zerschlagen zu haben. Von der rechten Gegenrevolution in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, die im «Marsch auf Rom» und in der faschistischen Machtübernahme mündete, erzählte der erste Band von Antonio Scuratis imposantem Romanprojekt über Mussolinis Leben und Wirken, der im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen ist. Nun ist auch das zweite Buch, das die Jahre 1925 bis 1932 abdeckt und von der Konsolidierung des Regimes berichtet, in Übersetzung da. Dessen Titel, «M. Der Mann der Vorsehung», ist wiederum einem Zeitgenossen entlehnt, nämlich Papst Pius XI., der Mussolini Ende der Zwanziger als einen Politiker bezeichnete, «den die Vorsehung uns schickte».
Scuratis Mussolini-Bücher sind längst nicht mehr nur in Italien ein grosser Erfolg. Es wurde allerdings auch Kritik laut, die Auseinandersetzung mit dem Faschismus im Medium des Romans könne zur Exkulpation oder gar Heroisierung des Diktators beitragen, was ein wenig an die Debatte um Jonathan Littells «Die Wohlgesinnten» erinnert, ebenfalls ein Ungeheuer von einem Roman über den deutschen Vernichtungskrieg im Osten – geschildert aus der Perspektive eines fiktiven SS-Mannes.
Tatsächlich brechen Scurati wie Littell mit dem Paradigma, die Gewaltgeschichte des vergangenen Jahrhunderts aus Sicht der Opfer zu erzählen, was beide Projekte fast schon zwangsläufig zu einer Provokation macht. Anders als sein französischer Kollege gestattet sich Scurati aber weniger erzählerische Freiheiten, und es fliessen auch weniger Körperflüssigkeiten. Im Vorwort bezeichnet er sein Buch als «dokumentarischen Roman», was es gut trifft. Das Geschehen folgt in eher kurzen Kapiteln streng der historischen Chronologie, den einzelnen Abschnitten vorangestellt finden sich Auszüge aus Briefen, Zeitungsartikeln, Polizeiprotokollen oder Memoiren, die dem Autor als historische Quellen dienten.
Die Handlung ist überdies weniger auf Mussolini konzentriert, als man angesichts des Titels meinen könnte. Vielmehr entfaltet sich ein mehrstimmiges Panorama, in dessen Fokus mal der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti steht, der zum antifaschistischen Märtyrer wurde, mal der rechtsradikale Dichter Gabriele D’Annunzio, der in Rijeka für kurze Zeit eine protofaschistische Republik errichtet hatte. Scurati erzählt somit eher die Geschichte des italienischen «fascismo» im Ganzen als nur diejenige des «Duce».
Willfährige Monarchie
Im zweiten Band nun führt der Autor vor allem vor Augen, wie willfährig sich die altehrwürdigen Institutionen Italiens dem Regime ergaben: Nicht nur die Kirche, sondern auch der liberale Staat und die Krone unterwarfen sich ohne grösseren Widerstand den neuen Herren. Was etwa die Monarchie angeht, heisst es bei Scurati: «Seit dem Marsch auf Rom hat der erlauchte Souverän sämtliche Kröten geschluckt, die er schlucken musste, um seiner Krone nicht verlustig zu gehen, und er wird noch weitere schlucken. Wie der Duce dem sorgenvollen Sekretär der Faschistischen Partei gern zu sagen pflegt, um ihn ein wenig zu schockieren: ‹Glauben Sie mir, Turati, das einzig wahre und treue Schwarzhemd ist Vittorio Emanuele III.!›»
Immer wieder wechselt der Schauplatz zudem von Italien nach Libyen, wo der General Rodolfo Graziani einen gnadenlosen kolonialen Eroberungskrieg führte (und diesen in schwülstiger Prosa in seinem Tagebuch besang). En détail hält Scurati die zahlreichen Gräueltaten der Italiener in Nordafrika fest, die vom exzessiven Senfgaseinsatz bis zur Errichtung von Konzentrationslagern reichten. Gerade diese Passagen dürften auch als Kommentar zu geschichtspolitischen Debatten in Italien zu lesen sein: Graziani hat dort bis heute Verehrer:innen.
Interessanter noch ist, wie Scurati die geradezu metaphysische Bedeutung herausarbeitet, die der Körper des «Duce» für den Faschismus hatte. Mussolini suchte das Bad in der Menge, den unmittelbaren Kontakt zur Masse, er trainierte fleissig und zeigte sich öffentlich halb nackt, was zuvor kein modernes Staatsoberhaupt getan hatte. «Dieser entblösste Körper entkräftet jedes Argument, jeden Gedanken, jedes Gesetz oder Urteil, jeden Appell an die göttliche Vorsehung, die menschliche Barmherzigkeit oder die Gnade. Dem Volk bleibt nichts als Anbetung», schreibt Scurati.
Dass Mussolini zudem ein «toxischer Mann» im Sinne des britischen Autors Jack Urwin («Boys don’t cry») war und fast krepiert wäre, weil er nicht als Schwächling gelten wollte und deswegen ein lebensbedrohliches Magengeschwür geheim hielt, ist eine weitere bemerkenswerte Pointe. Der besondere Stellenwert der Körperlichkeit beschränkte sich aber nicht nur auf die Person Mussolinis und war auch nicht nur Mittel der Propaganda, sondern gehörte zum Wesen des Faschismus.
Auf dem Spielfeld der Gewalt
Anfang der Zwanziger proklamierte Mussolini etwa, die Faschisten hätten keine vorgefassten Ideen, ihre einzige Doktrin sei die Tat. Etwas später beschwor er nur folgerichtig den «Klang der Knüppelschläge». Der Faschist und frühere Futurist Luigi Freddi, der bei Scurati ebenfalls kurz auftritt, brachte diesen intellektuellen Nihilismus pointiert mit dem Satz zum Ausdruck: «Die Faust ist die Synthese der Theorie.» So, wie der Faschismus die Welt der reinen Ideen ablehnte, verzehrte er sich nach zerfleischten Körpern: Die Abertausende Sozialistinnen und Kommunisten, die im Italien der zwanziger Jahre erschlagen wurden, bezeugten dies.
Scuratis Roman macht so verständlich, warum Versuche der Liberalen, die extreme Rechte mit Argumenten zu entzaubern, nie gefruchtet haben. «Bis gestern hofften die Oppositionellen, sie könnten einen Gegner, der auf dem Spielfeld der Gewalt bereits gewonnen hat, mit legalen Waffen besiegen», heisst es im Roman, kurz nachdem Mussolini endgültig den Parlamentarismus beseitigt hat. Gerade wohl diesen Irrtum aus dem 20. Jahrhundert sollte man in der Gegenwart präsent haben.
Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2021. 640 Seiten. 40 Franken