Literatur: Auf der falschen Seite
Krieg, Schuld und Schmerz: Francesca Melandri schreibt einen aufwühlenden Brief an den verstorbenen Vater.
Was bedeutet eigentlich Krieg? Diese Frage treibt die italienische Autorin Francesca Melandri nach dem 24. Februar 2022 um. Aufgewachsen im weitgehend friedlichen Europa der siebziger und achtziger Jahre, verstören sie die Bilder der grausamen russischen Invasoren und der gequälten Menschen in der Ukraine.
Für ihr neustes Buch, «Kalte Füsse», wählt sie die Form eines Briefs an ihren zehn Jahre zuvor mit 93 Jahren verstorbenen Vater. 1943 war er als Leutnant Teil der legendären italienischen Alpini-Division «Julia». Zusammen mit der deutschen Wehrmacht drang diese in die damalige Sowjetunion ein – in das Gebiet der heutigen Ukraine – und wurde von der Roten Armee vernichtend geschlagen. Mit viel Glück führte Franco Melandri den Grossteil seiner Leute zurück. Der Einfall in die fruchtbare Ukraine wurde in Italien später nur als «ritiro della Russia» beschrieben, alle Verantwortung wurde auf die Deutschen geschoben, einzig der Mut der Rückkehrer (kaum ein Zehntel aller Aufgebrochenen) gerühmt. Die brutalen Taten der italienischen Faschisten (auch in Abessinien, Griechenland, Jugoslawien) wurden zum Mythos der Opfernation umgedeutet.
Blinde Flecken
Von ihrem Vater hat die Autorin zwar viele, auch witzige Anekdoten vernommen – zum Beispiel wie man zum Vertreiben sibirischer Rotarmisten das Geheul von Wölfen nachahmen soll. Aber vieles erfährt sie zu seinen Lebzeiten nicht. So recherchiert sie selbst zu den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg und zur Rolle ihres Vaters. Gleichzeitig sieht sie auf Youtube unablässig die Videos von den russischen Grausamkeiten im aktuellen Krieg. Das Buch springt hin und her zwischen historischem und gegenwärtigem Geschehen, zwischen politischer Reflexion und Annäherung an blinde Flecken in der Biografie des geliebten Vaters.
Diesen spricht sie direkt an: «Ich muss herausfinden, was Krieg ist.» Sie bittet ihren «Papa» um Hilfe. Dabei spiele es keine Rolle, ob er auf der falschen Seite gekämpft habe. Sie nennt die heutigen russischen Verbrechen ungeschönt beim Namen und geisselt gleichzeitig das feige Schweigen und Wegschauen der Linken wie der Rechten in Italien. So ist der Buchtitel «Kalte Füsse» doppeldeutig zu verstehen: «Es gibt kein grösseres Übel der Welt als kalte Füsse», erinnert sie als «Kernsatz der Philosophie des Vaters». Und sieht im übertragenen Sinn viele, die bei der Unterstützung der Ukrainer:innen «kalte Füsse» bekommen.
Der Adressat des Briefs, ihr Vater Franco Melandri, war Faschist und Journalist. Noch einen Monat vor dem Kriegsende in Italien publizierte er einen Durchhalteartikel im Sprachrohr des Regimes «Gazzetto del Popolo». Sein Leben verdankt er seinem Redaktionskollegen Massimo Rendina, der verdeckt für die Resistenza wirkte: Weil dieser ihm bei Kriegsende sein eigenes Partisanentuch um den Hals legt, bleibt Melandri bei den Lynchrazzien verschont. Seinerseits hatte Melandri Rendina nicht verraten, als er herausfand, dass sein Arbeitskollege im Widerstand war. Das alles erfährt die Autorin erst nach dem Tod ihres Vaters vom über neunzigjährigen Vizepräsidenten der Vereinigung der italienischen Partisanen ANPI. Rendina erwirkte damals die Aufhebung des Berufsverbots für Franco Melandri, der sein Leben lang Journalist blieb und drei Romane schrieb, aus denen die Tochter immer wieder zitiert.
Melandri, die sich bereits in «Alle, ausser wir» mit der faschistischen und kolonialen Vergangenheit Italiens auseinandergesetzt hat, hat ihr neues Buch raffiniert konstruiert und in sieben Themenblöcke und 32 Kapitel gebündelt, in denen sie eine ungeheure Fülle von Fakten und Gedanken ausbreitet. Sie wechselt immer wieder von individuellen Episoden zu einer kritischen Mentalitätsgeschichte Italiens. Die selbstgerechte Ignoranz und Verlogenheit gegenüber Faschismus und Kriegsverbrechen in Italien stellt sie wütend bloss. Zugleich rückt sie das Schicksal der ukrainischen Bevölkerung in den Blick, von den Pogromen an der jüdischen Bevölkerung über die Liquidierung der Kulak:innen und die drei Millionen Hungertoten im Holodomor bis zu den Opfern von Putins neoimperialistischem Angriff.
Das unlösbare Paradox
Bei allem dramatischen Geschick und sprachlichen Gelingen bleibt Melandri bescheiden: Sie ist sich des unlösbaren Paradoxes bewusst, das auch ein Imre Kertész oder Warlam Schalamow kannten: Wie soll man mit Worten erzählen, was mit Worten nicht zu beschreiben ist? «Keine Geschichte, die vom Krieg erzählt, ist wahr.» Wahr seien «nur der Tod, der Verlust und der Schmerz».
Am Ende ihres aufwühlenden Briefs an den Vater resümiert Francesca Melandri sokratisch: «Eines habe ich verstanden, Papa: Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden um jeden Preis, sondern Rechtsstaatlichkeit.» Die entscheidende Frage stellt sich für die Autorin schliesslich so: Wie würde sie sich verhalten, wenn der Krieg «eines Tages keine Fernsehserie mehr ist, sondern der Fluch des echten Lebens?» Sie habe keine Ahnung, wisse nur eins: «Wer behauptet, die Antwort zu kennen, bevor er ernsthaft auf die Probe gestellt wurde, hat die Frage nicht begriffen.»
