Von oben herab: Zeit für Zürover

Nr. 45 –

Stefan Gärtner möchte auch mal den Boden lecken

Eine der kaputtesten (und deshalb unausrottbaren) Pressemetaphern ist «spülen»: Seit Jahrhunderten spült die Konjunktur oder eine Steuererhöhung Geld in die Kassen, spülen Reichstenlisten «Bierbarone nach oben» («Tages-Anzeiger», 28. 11. 2014) oder spült mir das Internet Sachen auf den Schirm wie die Tatsache, dass es scheints «Schweizer Seiten» bei der Hamburger Studienrats- und -rätinnenzeitung «Die Zeit» gibt. Ist aber plausibel, denn die «Zeit» wird immer rechter und die Schweiz ja auch (die SVP-«Selbstbestimmungsinitiative» wird zzt. von 44 Prozent befürwortet), und so behäbig, wie das Hamburger Sturmgeschütz der gepflegten Meinung stets war, ist man in der Schweiz schon lange.

Wenn auch keinesfalls immer. Die Gemeinde Moutier, Kanton Bern, hat im Juni 2017 per Abstimmung entschieden, in den Kanton Jura zu wechseln (für die Fans unausrottbaren Pressejargons: in den Kanton Jura wechseln zu wollen), und dass dabei, wie es jetzt heisst, geschummelt und die Abstimmung für ungültig erklärt worden ist, ändert nichts am vorbildlichen Wunsch, das Gegebene halt doch nicht immer auszuhalten, sondern das Schicksal, sogar das geografische, einfach selbst in die Hand zu nehmen. In der Tiefdruckbeilage ebenjener «Zeit», die schon seit zehn Jahren auch ihre Schweizer Seiten hat, berichtete jetzt, so wurde mir zugespült, Kollegin Nina Kunz (25) darüber, wie es sich «als junger Erwachsener in Zürich» lebe:

«In Zürich machen auch alle was Interessantes. Studieren Architektur, betreiben einen Pop-up-Laden oder arbeiten in der Gastro. Es gibt keinen Platz für das Hässliche, das Skurrile. Small Talk ist darum ganz übel. (…) In Zürich genügst du nie. Schon Gymnasiasten tragen Moncler-Jacken und 21-jährige Galeristinnen Balenciaga-Sachen. (…) Die Stadt macht dich kirre. Du bist nämlich immer zu dick, zu wenig easy, zu asozial. Am Freitagabend zu Hause zu bleiben ist zum Beispiel keine Option. Alle sind wo. Gehen tanzen in der Zukunft, stehen vor dem Rothaus rum, trinken Bier im Helsinki. In Zürich betreiben alle Hochleistungs-Work-Life-Balance. Anstrengend.»

Da sollte doch ein gesamtstädtischer Ortswechsel in Erwägung gezogen werden, etwa eine Fusion mit dem «Kanton» Hannover, wo alle irgendwas Uninteressantes machen, z. B. im Finanzamt Süd sitzen und garantiert nie ans Telefon gehen. Die Leute studieren Wissenschaftstheorie, Medizin oder an der Musikhochschule, und einen Platz für das skurril Hässliche gibt es auch, er heisst Aegidientorplatz. Small Talk ist prima, wenn dir im Freibad Ricklingen die Endfünfzigerin, während sie sich am Beckenrand des nassen Badeanzugs entledigt, mitteilt, wie gern sie hier schwimme, und Xanax braucht man dann nicht mehr. Die Gymnasiastinnen tragen dieselben Schrottwindjacken wie ihre Eltern, der Freitagabend ist wie Montagabend in Zürich, und wenn die Stadt dich kirre macht, dann deshalb, weil die Mülleimer alle ständig überlaufen und ihr Inhalt von der norddeutschen Brise durch die ganze Stadt geweht wird. In Zürich würde die Kollegin «jeden einzelnen Quadratzentimeter Boden ablecken. No problem.» Hannover dagegen ist ein öffentliches Hundeklo, weil es asozialen Menschen genauso eine Heimat ist wie denen, die zu dick und zu wenig easy sind. Mir zum Beispiel.

Keine Frage, es bitzeli Zürich täte Hannover ganz gut, aber umgekehrt wärs ebenso goldrichtig, und wenn es schon Selbstbestimmungsinitiativen geben muss, sollte doch da mit der Selbstbestimmung ernst gemacht werden, wo es allen nützt. Allerdings muss Zürich tatsächlich herkommen: Erstens ist hier mehr Platz (kein Mensch braucht Burgwedel), und zweitens kann man in der Beiz (hier: Kneipe) für zehn Stutz eine Mahlzeit bekommen.

Zehn. Das ist die verrückte Zahl mit einer Null. Bis glii!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.