Von oben herab: In Olten steht kein Hofbräuhaus
Auf ein Bier mit Sonderfall Stefan Gärtner
Diese Kolumne versteht sich ja auch als Lebenshilfe, und darum bitte merken: Nach drei Mass Bier von Fahrgeschäften Abstand nehmen, es sei denn, Sie wollen einem ausländerfeindlichen Taxifahrer hernach (fast) ins Fahrzeug brechen und den restlichen Abend Tee trinken.
Dies mein erster Tipp fürs Münchner Oktoberfest, die sog. Wiesn. Der zweite: Wenn man Verbrüderungen (oder -schwisterungen) hasst, dann nicht mit Leuten hingehen, die inmitten der schönsten brausenden Gemütlichkeit plötzlich «Kontakte knüpfen» wollen, und zwar nicht mit interessanten Menschen, die etwas zu erzählen haben, sondern mit irgendwelchen Saufnasen und -näsinnen als totalem Gegenteil.
Früher hätte man sagen können: Was geht mich die Wiesn an, ich sitze in Hannover oder Winterthur, ich komm da eh nicht hin. In der heutigen Bringdienstgesellschaft jedoch kommt das Oktoberfest zu uns, und natürlich gibt es auch bei mir eins, sogar seit 1964 («die Riesengaudi», oktoberfest-hannover.de), und auch in der Schweiz, lese ich, ist die Versorgung längst flächendeckend: «Das erste richtige Schweizer Oktoberfest war vor 23 Jahren das auf dem Zürcher Bauschänzli. Der Erfolg war durchschlagend, und heute hat jede Stadt, die etwas auf sich hält, ihr eigenes bayerisches Gelage», weiss der begeisterte «Blick». «Am Zürcher Hauptbahnhof geht es zu wie im Hofbräu-Zelt auf der Wiesn, wo sich 10 000 schunkelnde Menschen verbrüdern», weswegen ich damals klug vor dem Zelt sass, wenn auch, s. o., nicht klug genug, denn die uninteressanten Schunkelfans sassen da irgendwann genauso.
Aber der Mensch, von mir als Sonderfall vielleicht abgesehen, sucht nach Rausch und Entgrenzung in der Masse, und deswegen war die Idee der Münchner Kollegin von der «Süddeutschen Zeitung», die, vom Jahr für Jahr scheints wilderen Gekotze und Gebrunze angewidert, ein Oktoberfest ohne Exzess vorschlug, schlicht schwachsinnig. Es wäre auch gar nicht einzusehen, warum in Zeiten, in denen etwa brasilianische Schwarze einen Rassisten und Faschisten zum Präsidenten haben wollen, ausgerechnet beim grössten Volksfest der Welt der Massenrausch abgeschafft oder eingehegt werden sollte.
Gemeinschaftlicher Bierverzehr gehört, ohne Ironie, zu den schönsten Dingen der Welt, und auch Elias Canetti hat es schon gewusst: «Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht, Leben und Genuss während des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben, ganz ungewohnte Annäherungen werden erlaubt und begünstigt. Die Atmosphäre für den einzelnen ist eine der Lockerung und nicht der Entladung», gut, das gilt heute (oder galt immer schon) mit Einschränkung, sowohl was die, nun ja, Entladungen anlangt als auch das gesicherte Leben («Vor dem Augustiner-Zelt: Tödliche Schlägerei auf Oktoberfest», «tz» München, 1. 10.). Aber doch, laut Canetti oder jedenfalls «Blick»: «Das Bedürfnis ist da, der moderne Mensch lebt statt auf dem Dorf in der anonymen Agglo. Trinken, Lachen, Tanzen in fröhlicher Menge bietet ihm die Event-Kultur. Auf Ibiza oder Mallorcas Ballermann ganzjährig zelebriert, kann man hierzulande wenigstens im Herbst die Mühsal des Alltags hinter sich lassen.»
In einer Welt, in der nun ich etwas zu sagen hätte, wären das lokale Bierzelt und die weltweit zum stur Identischen hindrängende «Event-Kultur» freilich zweierlei; denn der Event ist kein Fest, und wo das Fest «eine künftige Wiederholung ähnlicher Gelegenheiten verbürgt» (Canetti), schlägt Kulturindustrie alles mit Ähnlichkeit. Und darum soll, wer in der anonymen Agglo lebt und in fröhlicher Menge trinken, tanzen, lachen will, ruhig in ein Bierzelt gehen. Aber bitte, Tipp drei, in keins, auf dem ausserhalb Münchens «Oktoberfest» steht.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.