Die Jurafrage: Identität und Party

Nr. 12 –

Vielleicht liegt es an den Apéros, mit Sicherheit aber nicht am Vorhandensein neuer Argumente: Die Mehrheit der Jugend von Moutier wird am Sonntag wohl projurassisch wählen.

«Es ist halt das Herz, das spricht»: Jonas Girardin (links) hilft einem Kollegen beim Aufhängen einer Jurafahne im oberen Teil von Moutier.

Um 15.30 Uhr kommt Leben ins ausgestorbene Städtchen. Vor dem Schulhaus im Zentrum Moutiers versammeln sich ein paar junge Männer und Frauen. Mit Absperrband umzäunen sie den asphaltierten Platz, stellen einen Tisch mit Zapfanlage hin, montieren hier und da ein paar Jurafahnen.

«Ein kleiner Apéro», sagt die 32-jährige Mylène Jolidon, Sprecherin der separatistischen Gruppierung Moutier Ville Jurassienne. Eine Woche vor der Abstimmung wolle man doch noch ein kleines Fest für die Bevölkerung organisieren – unter Einhaltung der Schutzmassnahmen. Innerhalb kürzester Zeit ist der Schulhof hergerichtet, ein Wagen mit der Aufschrift «Hot Night Discomobile» ist vorgefahren, und pünktlich um 16 Uhr klingen die ersten dramatischen Synthietöne aus der Lautsprecheranlage: «Jura, ich liebe dich (…) in einem donnernden Grollen (…) Gerechtigkeit.» Es ist das Lied «Justice», der vor Pathos triefende Soundtrack der Ja-Kampagne von der aus Moutier stammenden Rockband Galaad.

Moutier stimmt am Sonntag erneut über den Beitritt zum Kanton Jura ab. Wieder einmal also soll der jahrzehntelang schwelende Jurakonflikt ein Ende finden. Seinen Ursprung hat er im 19. Jahrhundert, als beim Wiener Kongress von 1814/15 grosse Gebiete des Schweizer Jura dem Kanton Bern zugeschlagen wurden – ein Umstand, mit dem ein Teil der ansässigen Bevölkerung nicht einverstanden war. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formierten sich erste separatistische Kräfte, ab den späten vierziger Jahren erwuchs daraus eine starke Bewegung. ProjurassierInnen und Berntreue radikalisierten sich in den Folgejahren und gerieten aneinander. Mit der Gründung eines eigenen Kantons 1979 wurde die Jurafrage vorläufig gelöst.

Nicht so in Moutier, einem von drei südjurassischen Bezirken, deren Bevölkerung sich mehrheitlich für den Verbleib im Kanton Bern ausgesprochen hatte. Der Konflikt köchelte hier weiter, bevor die Stimmbevölkerung der drei bernjurassischen Bezirke 2013 erneut an die Urne gebeten wurde. Ein weiteres Mal wurde der Anschluss an den Kanton Jura in allen Bezirken abgelehnt; die Gemeinde Moutier sprach sich als einzige dafür aus. 2017 sollte ein Urnengang auf kommunaler Ebene endgültig über die Kantonszugehörigkeit des 7500 EinwohnerInnen zählenden Städtchens entscheiden. Doch die Abstimmung, bei der eine hauchdünne Mehrheit von 137 Personen für ein Ja stimmte, wurde wegen Wahlbetrug für ungültig erklärt.

Die Smileys leben nicht lang

Entscheidend für den Ausgang der neuerlichen Abstimmung dürfte die Jugend sein: In den letzten vier Jahren haben in Moutier etwa 200 junge BewohnerInnen die Volljährigkeit erreicht. Jonas Girardin durfte schon 2017 zum ersten Mal abstimmen. Er hält in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen einen Becher mit Tee-Rum, der gratis oder gegen eine Spende an die mittlerweile etwa sechzig feierwilligen, in Grüppchen zusammmenstehenden Personen verteilt wird.

Girardin ist 21 Jahre alt und beginnt im September sein Studium in Lausanne. Er sagt: «Es ist halt das Herz, das spricht.» Er sei ein politischer Mensch, fährt er fort. Die Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit habe aber auch viele Junge mobilisiert, die sich sonst nicht für Politik interessierten. Gerade auf Befürworterseite. Wie viele von ihnen hofft Girardin, dass ein Kantonswechsel neuen Schwung in die Stadt bringen würde.

Bars gibt es in Moutier fast keine mehr, in den Ausgang fährt man nach Biel oder Delémont. Das fehlende Nachtleben ist eine Begleiterscheinung des Bedeutungsverlusts, den die Kleinstadt in den vergangenen Jahrzehnten erlitten hat. Wie in der gesamten Juraregion sind die Arbeitslosenzahlen auch in Moutier hoch. Jonas Girardin gefällt es in Moutier, und wenn die Stadt künftig zum Kanton Jura gehörte, würde sie ihm noch besser gefallen. Darum hilft er mit bei der heutigen Veranstaltung, nimmt für die Ja-Kampagne an Debatten teil und hängt Plakate auf. Dabei werden oft die Smiley-Poster des Nein-Komitees überklebt, die in der Stadt augenscheinlich eine kurze Lebensdauer haben.

Muriel Käslin, Sprecherin des Nein-Komitees Moutier Plus, sagt am Telefon, man wolle mit den Emoji-Smileys «Positivität» vermitteln und der Stadt «ein Lächeln schenken». In den sozialen Medien aber ist der Abstimmungskampf auf beiden Seiten gehässig: Die offiziellen Ja- und Nein-Komitees und zahlreiche andere Gruppierungen posten auf Facebook fleissig Verunglimpfungen und Dokumente, die belegen sollen, weshalb der eine oder andere Kanton dem Städtchen wirtschaftlich und kulturell schaden würde.

Mathieu Faivre hat als Treffpunkt den Parkplatz hinter dem Hotel des Gorges vorgeschlagen, das am Eingang zur Schlucht von Moutier liegt. Zwischen den hohen Felswänden schlängelt sich die Hauptstrasse hindurch, nach vier Kilometern Fahrt wäre man bereits im Kanton Jura, nach zwanzig in Delémont.

Der 23-Jährige ist gelernter Informatiker, holt gerade in Biel die Matura nach und engagiert sich für die Nein-Kampagne. So habe er etwa geholfen, das Smiley-Banner an einer Felswand hoch oben über dem Parkplatz anzubringen. «Es geht uns gut im Kanton Bern», begründet Faivre seine Haltung. Er ist überzeugt, dass der Kleinstadt ein Wechsel zum ärmsten Kanton der Schweiz nichts Positives bringen würde. Schon gar nicht während der Coronakrise, die die industriell geprägte Region besonders hart getroffen hat. Zu seinem Engagement motiviert hat ihn das knappe Ergebnis der Abstimmung von 2017.

Auch Faivre sagt jedoch: «Viele junge Menschen sind für einen Kantonswechsel.» Weshalb, kann sich der angehende Student nicht recht erklären. Anders als bei den älteren EinwohnerInnen Moutiers würden bei den Jungen historische Argumente nicht mehr unbedingt ziehen; ausschlaggebend sei eher die Tatsache, dass die projurassische Bewegung aktiver sei. Und insbesondere mehr Feste organisiere.

Mylène Jolidon sagt hingegen: «Das Hauptargument ist das Herz, und das schlägt jurassisch.» Es sei eine Frage der Identität, man fühle sich dem Kanton Jura in Bezug auf Geschichte, Sprache und Kultur einfach näher. Und dazu gehöre auch das Feiern.

Rekurse gegen die Abstimmung

Wird aber am kommenden Wochenende in Moutier die Jurafrage tatsächlich geklärt? Wie bereits 2017 setzen Bund und Kanton Bern viel daran, die Abstimmung betrugssicher durchzuführen. So überprüften die kantonalen und kommunalen Behörden etwa ein Fünftel der 4400 Stimmberechtigten. Personen, die ihren Lebensmittelpunkt nicht mehr in Moutier hatten, mussten sich abmelden. Am Abstimmungssonntag werden sechzehn Mitarbeitende des Bundesamts für Justiz in Moutier präsent sein, darunter zehn WahlbeobachterInnen.

Der für das Juradossier zuständige Jean-Christophe Geiser sagt, der Bund habe alles in seine Zuständigkeit Fallende getan, um den korrekten Ablauf der Abstimmung zu garantieren. «Aber bei allfälligen Problemen mit der Kampagne oder dem befürchteten Abstimmungstourismus ist der Bund nicht zuständig.»

Dass der sogenannte Abstimmungstourismus ein Thema werden könnte, wurde in einem Artikel von «Le Matin Dimanche» vom Sonntag angedeutet. Ein Aktivist sprach darin von 300 jungen Menschen, die seit der Abstimmung nach Moutier gezogen seien und auf die man sich mit der Kampagne konzentriere. Beim Regierungsstatthalteramt des Berner Juras gingen in den vergangenen Tagen bereits mehrere Rekurse gegen die Abstimmung ein. Trotz aller Bemühungen dürfte die Jurafrage also am 28. März nicht vollends geklärt sein.

Um 17.15 Uhr geht der Apéro in der Innenstadt bereits zu Ende. In wenigen Minuten hat das Kampagnenteam die Absperrbänder eingerollt und den Zapfhahn abgebaut; der DJ klappt sein Discomobil zu, und die Karawane zieht weiter zum nächsten Apérostandort. Es geht in den oberen Teil von Moutier, zum Schulhaus Chantemerle, von wo aus man das ganze Tal überblickt.

Auch Jonas Girardin ist hier und hilft einem Kollegen, eine Jurafahne mit Klebeband an einem Gebäude zu befestigen. Ein paar Junge laufen zu Fuss hoch, einige Familien mit Kindern versammeln sich auf dem Areal. Einzelne Sonnenstrahlen dringen durch die Wolkendecke, als kurz nach halb sechs erneut das Lied «Justice» aus den Lautsprechern des Discomobils klingt.