Überwachung von Versicherten: Eine Steilvorlage für den Gang nach Strassburg
Etwas Paradoxes hatte dieser Abstimmungssonntag bei allem Jubel über die gescheiterte SVP-Initiative. Entschlossen verteidigte die Schweizer Stimmbevölkerung die Menschenrechte und gab gleichzeitig das Recht auf Privatsphäre leichtfertig zur Entsorgung frei. Versicherungen entscheiden ab dem neuen Jahr legal und eigenhändig, wer mit welchen Mitteln observiert wird. Treffen wird es nicht nur die sogenannten IV-BetrügerInnen.
Die neuen Befugnisse gelten für alle Sozialversicherungen – von Mutterschutz, Krankenversicherung, Arbeitslosengeld bis hin zur Unfallversicherung. Daher könnte es jede und jeden treffen, denn im Gesetzestext ist nicht geregelt, was als «konkreter Anhaltspunkt für Missbrauch» gilt. Darüber entscheiden die Versicherungen. Eine unabhängige Kontrollinstanz gibt es nicht.
Zwar hat der Bundesrat erklärt, wie er das Gesetz anzuwenden gedenkt, Drohnen vor dem Schlafzimmer seien nicht zu befürchten. Das letzte Wort werden aber die Gerichte haben. Doch zu einer richterlichen Kontrolle kommt es erst, wenn die Bespitzelung schon lange durchgeführt wurde. Viele werden nie erfahren, dass sie observiert wurden, da nur die Versicherung weiss, wen sie überwacht hat und wie sie die Resultate verwenden will.
Weiter sieht das Gesetz den freien Transfer von Gesundheitsdaten zwischen den Versicherungen vor. Für Rechtsanwalt Philip Stolkin vom Referendumskomitee ist das eine Steilvorlage für einen juristischen Gang nach Strassburg: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) lässt den Austausch von Gesundheitsdaten nur unter engen Voraussetzungen zu.
Ob das schwammige Gesetz längerfristig überhaupt umsetzbar sein wird, hängt auch von möglichen Urteilen des EGMR ab. Ausserdem steht ein Bundesgerichtsentscheid zur Abstimmungsbeschwerde des Referendumskomitees noch aus.
Trotz des klaren Ja zur Überwachung ist das Resultat nicht nur entmutigend. In Städten wie Basel und Zürich war das Ja äusserst knapp, die Kantone Genf und Jura stimmten dagegen. Das Referendum hat zudem viele Leute mobilisiert, die vorher nicht politisch aktiv waren. Heute, morgen und auch übermorgen werden sich viele gegen den Überwachungsfreipass für die Versicherungen engagieren und die Entwicklungen genau beobachten.