Versicherungsspione: «Die Empörung an der Basis ist riesig»

Nr. 13 –

Ein Trio von BürgerInnen ergreift mit einer einmaligen Kampagne das Referendum gegen die Überwachung von Versicherten. Prominente SozialpolitikerInnen wollen sie unterstützen.

Soll für Krankenkassen und Sozialversicherungen möglich werden: Eine Drohne, die eine Wohnung ausspäht. Foto: Andriy Popov, Alamy

Am Anfang waren sie zu dritt. Da ist der Anwalt Philip Stolkin, der 2016 vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein wegweisendes Urteil gegen den Einsatz von SozialdetektivInnen erwirkt hat. Da ist die Schriftstellerin Sibylle Berg, deren preisgekrönte Romane in 34 Sprachen übersetzt sind. Und schliesslich ist da der Campaigner Dimitri Rougy, gerade einmal zwanzig Jahre jung.

«Wir mögen wie ein kurioses Grüppchen wirken», meint Rougy. «Doch eigentlich bringen wir alles mit, was es braucht, um ein Referendum zu starten. Der Anwalt kommt fachlich draus, die Autorin kann schreiben, und ich werde versuchen, die Kampagne aufzuziehen.»

Das Trio wehrt sich gegen die gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten. Der Gerichtshof in Strassburg hatte die Schweiz gerügt, weil eine solche bisher fehlte. Die Unfallversicherung Suva, die Invalidenversicherung (IV) sowie die Sozialhilfedienste in den Gemeinden mussten darauf den Einsatz von SozialdetektivInnen stoppen. Im Eiltempo wurde in der vergangenen Session eine Grundlage durch das Parlament gepaukt. Unter dem Lobbydruck der Versicherungen geht sie allerdings viel weiter als die bisherige Praxis: Der Kreis der Überwachten wird auf alle EinwohnerInnen ausgeweitet, Observationen sind neu auch bei der AHV, bei der Krankenversicherung oder bei der Arbeitslosenkasse möglich. Bild- und Tonaufnahmen sind nicht nur von frei zugänglichen Orten erlaubt, sondern auch von solchen, die von dort aus einsehbar sind, beispielsweise von Balkonen. Liegt eine richterliche Genehmigung vor, können auch GPS-Tracker zur Verfolgung von Fahrzeugen sowie Drohnen eingesetzt werden (siehe WOZ Nr. 12/2018 ).

«Das neue Sozialüberwachungsgesetz ist infam», sagt Sibylle Berg. «Es richtet sich eben nicht gegen wenige IV-Betrüger, was als Klassifizierung und Abwertung schon unmenschlich genug wäre in einem Land, das jeden Steuerbetrüger milder behandelt, sondern es öffnet ein Höllentor.» Alle EinwohnerInnen würden unter Generalverdacht gestellt und könnten von privaten SpitzelInnen nach Stasimanier überwacht werden, mahnt die Autorin.

5000 Versprechen gesucht

Zusammengeführt hat Stolkin, Berg und Rougy die Empörung über das Gesetz. Um herauszufinden, ob sie in weiteren Kreisen in der Bevölkerung geteilt wird, haben sie für die Lancierung des Referendums ein einmaliges Vorgehen gewählt. Unterstützt von Daniel Graf von der Onlinesammelplattform We Collect, wollen sie in lediglich einer Woche 5000 Personen suchen, die ein Versprechen abgeben, sich für das Referendum zu engagieren. Diese sollen dann in den nächsten drei Monaten einen gewichtigen Teil der benötigten 50 000 Unterschriften sammeln. Der Startschuss für die Kampagne erfolgte am Mittwochmittag, bei Redaktionsschluss der WOZ lagen knapp 1600 Zusagen vor.

Falls die UnterstützerInnen gefunden und die Unterschriften gesammelt werden, wäre das demokratiepolitisch bemerkenswert: Nicht mehr nur mächtige Verbände, sondern auch digital orchestrierte Bewegungen wären in Zukunft referendumsfähig. Darüber hinaus wäre es eine hübsche Pointe, dass dank der digitalen Demokratie eine Abstimmung über die Überwachung mit technologisch ausgefeilten Hilfsmitteln möglich würde.

SP, Grüne und Gewerkschaften haben bisher darauf verzichtet, das Referendum zu ergreifen. Zu knapp seien die eigenen Ressourcen, zu gross die taktische Gefahr, der SVP kurz vor dem Wahljahr zu einem Erfolg zu verhelfen, tönte es aus den Organisationen. Allerdings haben zahlreiche bekannte SP-ExponentInnen zugesagt, das Referendum zu unterstützen: so die NationalrätInnen Silvia Schenker, Cédric Wermuth, Mattea Meyer und Fabian Molina sowie Juso-Präsidentin Tamara Funiciello.

Gegen die Arroganz

In all den Jahren, in denen sie nun in Bern politisiere, habe sie sich selten so geärgert wie über dieses Gesetz und die Art, wie es zustande gekommen sei, sagt Silvia Schenker. «Besonders störend war die arrogante und abschätzige Haltung der Bürgerlichen: Die Sozialversicherten sollten dankbar sein, dass sie überhaupt etwas bekämen, lautete der Tenor. Zu ihrer Überwachung sei deshalb jedes Mittel recht.» Dabei belegten die offiziellen Zahlen, dass es sich beim Missbrauch um ein seltenes Phänomen handle: Bei rund 220 000 RentenbezügerInnen konnte die IV im Jahr 2016 bei 650 Personen einen Missbrauch feststellen, das entspricht gerade einmal drei Promille der Gesamtzahl.

Cédric Wermuth kritisiert die Logik hinter dem Gesetz: «Nach oben, gegen die Steuerbetrüger, kuscht man, nach unten, gegen die Bedürftigen, wird getreten.» Das Gesetz sei absolut unverhältnismässig, für die Überwachung von Sozialversicherten stünden strengere Mittel zur Verfügung als dem Nachrichtendienst zur Verfolgung von Terroristen.

Silvia Schenker ist sich sicher, dass sie mit der Unterstützung eines Referendums nahe bei den Leuten wäre: «Die Empörung an der Basis ist riesig», berichtet sie von einer Versammlung ihrer Ortssektion. Wermuth ist zuversichtlich, dass sich weit über die Linke hinaus Leute für ein Referendum engagieren werden: «Dass die Versicherungslobby ein ihr genehmes Gesetz mit eklatanten Mängeln durchsetzen kann, ist hochgefährlich für die Demokratie.»

Das Referendum kann unterstützt werden unter pledge.wecollect.ch .

Nachtrag vom 7. Juni 2018 : Das Referendum steht

Es fing mit einem Versprechen an: 11 000 Personen hatten Anfang April online versprochen, sich für das Referendum gegen Versicherungsspione zu engagieren. Und sie haben Wort gehalten: In nur 62 Tagen kamen 55 421 Unterschriften zusammen. Das Observationsgesetz, das massive Eingriffe in die Privatsphäre von Versicherten erlaubt und den Versicherungen mehr Kompetenzen gibt als den Strafverfolgungsbehörden, kommt also zur Abstimmung. Laut dem Referendumskomitee wurden zwei Drittel der Unterschriften von Einzelpersonen gesammelt. «Wir haben zahlreiche Leute erreicht, die noch nie gesammelt haben», sagt Daniel Graf vom Komitee. «Das ist das höchste Engagement, das man sich wünschen kann.» Die Crowd aus dem Internet hat sich also auch auf der Strasse bewährt.
Noëmi Landolt