Halbautomatische Fotografie: Streifzüge durchs Überwachungsmosaik

Nr. 2 –

Mit Panoramafotografien interveniert Jules Spinatsch in die Wirklichkeit. Auf seinen Rasterbildern, die aktuell in Genf zu sehen sind, erscheint unsere Welt zerstückelt in abertausend chronologisch geordnete Momentaufnahmen.

2013 wandte Jules Spinatsch seine Überwachungstechnik auf das eigene Atelier an: So entstand die Panoramainstallation «Hasardeur» aus 600 Bildern. Foto: Jules Spinatsch

Wir leben in einer Zeit der luftigen Drohnenbilder und der ebenso abstrakten wie blutigen Drohnenkriege. Vielerorts wird der öffentliche Raum beinahe lückenlos mit Kameras überwacht. Fast alle klammern sich an ein Smartphone mit integrierter Digitalkamera, mit der sie mehrmals täglich abdrücken. Im Netz teilen wir Drolliges, Freches und Intimes und füttern so nicht zuletzt die gierigen Datenbanken von Facebook und Co. Je mehr Fotografien uns umgeben, desto mehr zweifeln wir an ihrer Echtheit. Gleichzeitig bleibt die Sehnsucht nach authentischen Abbildungen intakt. Das ist die Welt, in die Jules Spinatsch heute mit seinen rational aufgebauten und doch kunstvollen Panoramafotografien interveniert.

Seit fünfzehn Jahren wendet der 54-jährige gebürtige Davoser seine mit Mitstreitern entwickelte Aufnahmetechnik konsequent auf ausgesuchte Räume und Szenerien an. Weit über die Foto- und Kunstgemeinde hinaus bekannt geworden ist er mit seiner Arbeit zum WM-Qualifikationsspiel zwischen der Schweiz und Frankreich vom 8.  Oktober 2005. Unter dem Dach des Stade de Suisse in Bern hatte Spinatsch auf der Höhe der Mittelfeldlinie eine programmierbare Netzkamera installiert. Diese Kamera tastete das Stadion während des Fussballspiels (inklusive je eine halbe Stunde vor und nach dem Match) entlang eines vorgefertigten Rasters von links nach rechts ab und nahm so insgesamt 3003 Einzelbilder auf. Diese Momentaufnahmen fügen sich zu einem Panoramabild zusammen, das den klar abgesteckten, quasi geballten Raum des Stadions zeigt, aufgezeichnet als Chronologie. Zudem versammelte Spinatsch alle Einzelbilder chronologisch geordnet auch als zweibändiges Buch.

Kein Abbild der Wirklichkeit

Da es der programmierte Zufall so wollte, ist auf keinem einzigen Bild ein Fussball zu sehen. Überhaupt erscheint das Spielfeld – normalerweise die Hauptattraktion – bei Spinatsch als surreales Schlachtfeld: Die herumrennenden Spieler werden durch das gnadenlose Raster zerstückelt: Da ein Kopf, dort zwei Beine oder ein ganzer Unterleib. Umso interessanter erscheinen die statischeren Zonen ausserhalb des Spielfelds. Die Gesetze der Sportübertragung und -fotografie geraten ebenso durcheinander wie unsere eigenen Wahrnehmungen und Erwartungen.

In der Werkschau, die aktuell im Genfer Centre de la Photographie gezeigt wird, ist neben zahlreichen anderen Arbeiten auch ein Bild des Stade de Suisse zu sehen, dem Spinatsch den Titel «Heisenbergs Offside» gegeben hat, nach dem Erforscher des Unschärfeprinzips. Und egal ob Spinatsch seine programmierte Überwachungskamera nun auf ein Fussballspiel richtet oder auf eine Strassenecke am Wef in Davos, auf den Wiener Opernball, ein Gefängnis, eine Gemeinderatssitzung oder auf die Genfer Apartmentpyramide, wo der Whistleblower Edward Snowden wohnte, als er noch für den CIA arbeitete: Es entsteht hier kein Abbild der nackten Wirklichkeit, wie es die Dokumentarfotografie einst einforderte, sondern eine bewusste Konstruktion von Realität als komplexe Summe einzelner Teile, die es zu entschlüsseln gilt.

Spinatschs Bilder sind eine Absage an den souveränen Überblick – und sie observieren den überwachten Raum. Oder wie es Joerg Bader, der Leiter des Genfer Fotozentrums und Kurator dieser Ausstellung, in einem älteren Aufsatz formuliert: Obwohl Spinatsch etwa in Davos durchaus auch Strassenszenen einfängt, macht er das Gegenteil von Street Photography, diesem heroischen Genre des (vermeintlich) authentischen Augenblicks, festgehalten mitten im Getümmel der Strasse. Vielmehr lotet Spinatsch Innen- und Machträume aus, aber auch Szenen des Spektakels. Dabei wird klar, dass dieses Spektakel oft nur noch zu Schauzwecken simuliert wird, wie etwa das 24-Stunden-Panorama der Frankfurter Börse zeigt, wo nur noch ein paar Simulanten des Börsenhandels herumstehen, damit die «Tagesschau» etwas zu filmen hat. Das eigentliche Trading ist derweil längst ins Netz und somit in die Unsichtbarkeit abgewandert.

Fesselnd und irritierend

Dank der eingebauten Dauer und einer oft dezentralen Auslegeordnung – eine programmierte Kamera fotografierte etwa im 5-Minuten-Takt in Davos und schickte die Daten nach Zürich, wo die Bilder ausgedruckt wurden – sind Spinatschs halbautomatische Bilder auch Absagen an den «entscheidenden Moment», wie der Kunstkritiker Christoph Doswald in der Begleitpublikation zur Ausstellung ausführt. Diese Illusion eines alles «entscheidenden Moments» des Abdrückens hat die Wahrnehmung der Fotografie als Geniestreich lange geprägt. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner wiederum vergleicht Spinatschs Technik mit der von Sigmund Freud avisierten unvoreingenommenen «gleichschwebenden Aufmerksamkeit» während einer Psychoanalysesitzung.

Auch wenn Spinatschs Panoramatechnik etwas in die Jahre gekommen ist, hat sie doch wenig von ihrem Reiz eingebüsst. Die in der Genfer Schau ebenfalls gezeigten, quasi aus den Panoramen «entführten» Einzelbilder als vergrösserte Momente und Fragmente faszinieren und irritieren zugleich. Diese neu erwachte Aufmerksamkeit für die Details im Einzelbild lässt vielleicht ahnen, wohin es für Spinatsch in Zukunft gehen könnte.

«Semiautomatic Photography» ist noch bis am 2. Februar 2019 im Centre de la Photographie in Genf zu sehen, www.centrephotogeneve.ch. Eine gleichnamige Monografie erscheint im Frühjahr bei Spector Books.