Erwachet!: Februarerwachen

Nr. 8 –

Michelle Steinbeck ist in eigenartiger Stimmung

Der Frühling zieht mir den Pullover aus. Die Sonne macht mich ganz verrückt, hindert mich am Arbeiten, ich muss immerzu in ihr sitzen und mich abschlecken lassen.

Auch mein Mitbewohner ist nervös, fühlt seinen Puls, rennt um den Block. Es nützt nicht – noch immer «riss es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen». So stiert er in den manisch strahlenden Mittagshimmel und fragt: «Ist etwa Vollmond?» Fachkundig diagnostiziere ich uns Büchners Frühlingskrankheit: Wie sein Lenz durch die Berge irre ich durch die apokalyptisch warme Stadt, suche unruhig meine Sommerplätze auf – ich möchte auf dem Kopf gehen! «Es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlorenen Träumen, (…) er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen.»

Dabei hat er die Erde auf den Ofen gesetzt, wie es scheint, denn dies ist kein normaler Frühling. Viel mehr als fragwürdig ist es für die Basler Natur, drei Wochen vor der Fasnacht halb nackt am Rhein zu liegen!

Auch ich sitze am Steinstrand und beobachte, wie sie träge in die Sonne blinzeln wie frisch erwachte Eidechslein. Dabei überkommt mich diese eigenartige Stimmung: Ich finde alle Menschen furchtbar interessant und liebenswert. Wie aussterbende Tiere. Das rührt mich.

Sie sind so sozial: Halten sich gegenseitig Hündchen vor die Nase und schnaufen den warmen Pedigree-Atem ein. Sie haben ein Glas von zu Hause mitgebracht und trinken ein Bier mit Blick aufs Wasser. Sie lassen Steine auf die glitzernde Fläche plumpsen, unbeholfen versuchen sie zu schiefern. Sie legen Kissen aufs Balkongeländer; der Ellbogen liegt weich wie das Gesicht in den Händen, sie schauen: den nackten Knöcheln hinterher. Sie lassen die Socken zu Hause und schlüpfen mit weissen weichen Füssen in harte neue Frühlingsschuhe – ah, der Lenz ist da: Die ersten blutenden Blasen des Jahres!

Aus dem Bahnhof treten die braun gebrannten Wintersuchenden aus den Schneeferien, verwundert – aus dem Flughafen treten die braun gebrannten Wintergeflüchteten aus den Surfferien, verwundert – jaha, wir haben hier schon die Jacken ausgezogen, als ihr gerade nach Goa abgehoben seid!

Aber müde sehen wir aus, zu früh aus dem Winterschlaf gerissen. Die teigigen Gesichter furchen sich vor der ungewohnt gleissenden Sonne. Gierig fressen wir die Tage bis zum letzten Strahl, argwöhnisch: Es fühlt sich falsch an; sind wir nicht wie blöde Knospen, die zu früh erblüht sind? Zu eitel und eifrig, und nun zittern wir im Schatten und ängstigen uns vor dem tödlichen Frost? Wer weiss, vielleicht kommt nach der Erwärmung die Eiszeit?

Dann ziehen die Eisbären auch durch unsere Strassen und knabbern an Kinderwagen, wie derzeit in Russland. Sie tragen Transparente mit der Aufschrift: «Goldilocks, es reicht!», und sie skandieren: «Ihr habt uns den Brei lang genug weggefressen, nun holen wir uns unsere Bettchen zurück!» Bisher haben sie bloss ein paar Müllsäcke zerrissen, doch sie werden wiederkommen. Und mit jedem Kurzstreckenflug steigt ihre Bereitschaft, das Märchen enden zu lassen wie in seiner ursprünglichen Version, als Goldlöckchen Goldilocks eine alte Frau war, die zur Strafe auf den Kirchturm gespiesst wird. Aber so genau werden die Rachebären das nicht nehmen, die fressen auch klimastreikende Schülerinnen, da kennen die gar nichts.

Michelle Steinbeck ist eine zu früh aus der Winterhöhle gekrochene Autorin. Wenn das so weitergeht, springt sie bald in einen Brunnen.