Russlands Staatschef: Wer ist Wladimir Putin wirklich?
KGB-Mann, ein «neuer Zar», Idol der Rechten – kaum ein Weltpolitiker ist so schillernd wie der russische Präsident. Doch wie viel Macht hat Wladimir Putin tatsächlich – und was will er? Der britische Russlandexperte Mark Galeotti gibt Antworten.
WOZ: Herr Galeotti, dieser Tage erscheint Ihr Buch «We Need to Talk About Putin. How the West Gets Him Wrong». Warum ist es gerade jetzt an der Zeit, über den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu reden?
Mark Galeotti: Russland ist zurück in der Weltpolitik. Aber es ist paradox: Dass Putin wieder stärker auf der internationalen Bühne auftritt, hat nicht etwa dazu geführt, dass sich im Westen ein klares Verständnis seiner Politik herausgebildet hätte – weder in Politikerkreisen noch in der breiten Öffentlichkeit. Im Buch möchte ich mit den Klischees aufräumen, die uns dabei behindern, eine geeignete Russlandpolitik zu finden.
Sie meinen die vielen Diskussionen über die russische Einmischung in den US-Wahlkampf, den Brexit oder den Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa?
Wie sehr Russland politische Ereignisse im Westen beeinflusst, wird masslos überschätzt. Zugegeben: Wir leben in chaotischen Zeiten. Vor allem der Westen steckt in einer schweren Legitimationskrise, über viele Dinge gibt es keinen gesellschaftlichen Konsens. Das schwache, aber opportunistische Russland zeigt den absoluten Willen zu handeln. Ich rede nicht nur von der Ukraine, sondern auch von Syrien und Afrika. Aber erst die Krise des Westens hat für Russland die Möglichkeit eröffnet, eine aktivere Rolle zu spielen.
Warum tut man sich im Westen so schwer damit, Moskau richtig einzuschätzen?
Zur Wendezeit gab es eine grosse Expertise über Russland. Ich sehe mehrere Faktoren dafür, warum das heute nicht mehr so ist. Unter anderem hat das Interesse nach dem Zerfall der Sowjetunion stark nachgelassen. Aber es liegt auch an Putin selbst, der um seine Person und sein Privatleben ein grosses Geheimnis macht, einmal abgesehen von seinen spektakulären Fotosessions. Aber den wirklichen Putin bekommen wir nie zu Gesicht. Alles ist sehr diskret, man denke nur schon an seine von der Öffentlichkeit abgeschottete Familie. Er ist dadurch zu einer Leerstelle geworden, auf die jeder seine Erwartungen projizieren kann. Jeder hat seinen eigenen Putin. Dadurch wird er zu einer Figur, der besonders viel Macht zugeschrieben wird.
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama sagte einmal, dass Russland eine Regionalmacht und keine Supermacht sei.
Es mag sachlich korrekt sein, Russland als Regionalmacht zu bezeichnen. Aber politisch gesehen, war es idiotisch, das zu sagen. Wir sollten Putin nicht direkt provozieren, das hat einen Nerv bei ihm getroffen. Wir sollten Russland nicht kleinreden. Solange es Putin gibt, werden wir in dieser politischen Konfrontation mit Russland feststecken. Allerdings sollten wir über Putin hinausdenken und klarmachen, dass wir nicht die Feinde der russischen Bevölkerung sind. Das ist nämlich ein zentrales Element des Legitimitätsnarrativs Putins: dass die Welt ein für die Russen feindlicher Ort ist.
In Ihrem Buch geht es auch um Putin als Person. Wo sehen Sie die grossen Missverständnisse?
Es kursieren so viele Klischees über Putin – etwa dass seine Vergangenheit im sowjetischen Geheimdienst KGB der Schlüssel sei, um Putin zu verstehen. Er ist der James-Bond-Bösewicht, der kaltblütige Strippenzieher, der hinter allem steht. Dadurch übersehen wir aber die Rolle, die Putin im heutigen Machtsystem einnimmt. Wenn wir nach einem grossen Masterplan suchen, werden wir ihn schlichtweg nicht finden.
Dennoch lässt sich Russland wohl kaum als Graswurzeldemokratie beschreiben.
Aber die Prozesse der Entscheidungsfindung sind oft komplexer, als sie scheinen. Sie kommen unter Einfluss von Institutionen, Oligarchen, Geschäftsmännern, Botschaftern, Spionen und Journalisten zustande. Wenn Sie in Russland sind, merken Sie schnell: Das ist kein Regime, das in der Lage wäre, alles bis ins Detail zu managen. Der Kreml gibt vielmehr die grobe Linie vor. Es ist dann wie in einem Unternehmen: Alle Mitarbeiter versuchen, ihrem Chef zu gefallen. So versuchen die Akteure im russischen System, den Kreml zufriedenzustellen. Sie zerbrechen sich ständig den Kopf darüber, was sich der Chef im Kreml wohl wünscht.
Ausserhalb Russlands ist Putin vor allem zu einer Galionsfigur der neuen Rechten geworden.
Es ist faszinierend: Dass es keinen wirklichen, realen Putin gibt, wird zu einem beträchtlichen politischen Kapital. Putin kann zugleich alles für alle sein. Für die Konservativen ist er jemand, der für traditionelle Werte steht – obwohl er auch schon für Abtreibungsrechte eingetreten ist. Für gewisse Linke verkörpert er wiederum die Werte der alten Sowjetunion.
… und den Antiamerikanismus.
Genau. Manche sehen ihn als einen Linken oder Kommunisten – was er eindeutig nicht ist. Er steht jedoch für einen alternativen Pol, der die US-Dominanz in der Welt anficht. Nationalisten sehen in ihm jemanden, der sein Land wieder aufgerichtet hat und sich in einem Zeitalter der kulturellen Homogenisierung zu behaupten versucht. In der Werbung spricht man von Marktsegmentierung: Du verkaufst dein Produkt an unterschiedliche Zielgruppen, mit unterschiedlichen Botschaften. Russland ist ein postideologisches Land mit vielen Akteuren, die alle versuchen, ein bestimmtes Putin-Narrativ in Umlauf zu bringen.
Einer dieser Akteure ist der Putin-Berater Wladislaw Surkow. «Der Putinismus wird ein Jahrhundert überdauern», schrieb Surkow kürzlich.
Ich denke, dass Surkow damit die Diskussion über die Zeit nach Putin eröffnen wollte. Mit seinem Text spricht er drei Zielgruppen an. Zu Putin sagt er: Keine Sorge, dein Erbe ist gesichert. Zum System sagt er: Keine Sorge, selbst ohne Putin werden wir die Dinge auf die Reihe bekommen. Zu den Russen sagt er: Keine Sorge, wir haben alles unter Kontrolle und denken über die Nachfolge nach. Wenngleich hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen wird, war es offiziell bisher ein Tabuthema, über die Zeit nach Putin zu sprechen. Surkows Text ist der Versuch, die Diskussion zu eröffnen.
Surkow schrieb aber auch, dass die internationale Bedeutung Russlands wachsen werde. Befeuert das nicht gerade wieder die Vorstellung, dass Russland hinter jeder Entwicklung steht, die den Westen zu spalten droht?
Natürlich. Aber seien wir ehrlich – wenn du versuchst, Menschen von Veränderungen zu überzeugen, die auch gefährlich sein können, ist es doch besser zu sagen: Keine Sorge, alles wird gut, und eigentlich sind wir diejenigen, die die Geschicke der Welt leiten. Ich denke, das ist einfach der Versuch, die russische Elite für den Kern der Sache einzunehmen.
Zugleich ist Putin auch für die westlichen Medien «sexy» und sorgt für Klicks. Müssen diese selbstkritischer sein?
Absolut. Das ist diese Tendenz zur Personalisierung. Das hat aber – wie auch in vielen anderen Bereichen – zu einer Polarisierung geführt. Entweder du bist im Team gegen Russland, das sagt: Russland ist Mordor! Oder du gehörst zu denen, die sagen: Alles Schlechte über Russland ist westliche Propaganda! Wenn du ausgewogen analysieren willst, befindest du dich schnell im Niemandsland. Das ist auch ein Grund, warum ich das Buch geschrieben habe. Es ist natürlich kein Pro-Putin-Buch. Aber andererseits sollten wir auch damit aufhören, ständig nur diesen einen Mann im System zu dämonisieren.
Mark Galeotti
Der britische Historiker Mark Galeotti (*1965) ist einer der profiliertesten Russlandkenner Europas und gilt als Experte für russische Sicherheitspolitik.
Derzeit ist er Fellow am Institute of International Relations in Prag sowie am European University Institute in Italien. Zuvor war er Professor an der New York University. Er lebt in London.