Russland: Das System Putin und der Westen
Der Westen ist zum Komplizen der russischen Machthaber geworden. Die Kritik an Präsident Putins autoritärem Regierungsstil ändert nichts am jahrhundertealten Wertesystem, das Russlands Machtstrukturen prägt.
Moskau im Jahr 2022: Alle Präsidenten und Regierungschefinnen, die ein Jahrzehnt zuvor in Berlin, Paris oder Rom an der Macht waren, sind längst abgelöst. Russlands Präsident heisst noch immer Wladimir Putin. Mit siebzig Jahren ist der Judokämpfer fitter denn je. Putin ist jetzt länger an der Macht als Leonid Breschnew, der achtzehn Jahre lang Chef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war.
Das ist keine absurde Prognose. Führt Putin Russland in eine neue «Stagnation», wie die Erstarrung des Systems unter Breschnew genannt wurde? Wird Russland ebenso auseinanderfallen, wie Ende der achtziger Jahre die Sowjetunion implodiert ist? Und was würde solch ein neuer Zerfall für den Westen bedeuten?
Im Gegensatz zur Sowjetunion ist Russland viel stärker mit der übrigen Welt verflochten. Der Westen importiert nicht nur russisches Öl und Gas. Die russischen Oligarchen und Kreml-Potentaten, die von den Protestierenden in Moskau heute offen als «Diebe und Schelme» beschimpft werden, haben ihre illegal zusammengerafften Vermögen in den Westen in Sicherheit gebracht. Länder wie die Schweiz, die beim Rating der Antikorruptionsorganisation Transparency International gute Noten erzielen, sind in Wirklichkeit Teil des korrupten russischen Systems und wären von einem Regimewechsel direkt betroffen. Aber das ist im Westen – noch – kein Thema.
Gespalten und verunsichert
«Es ist eine paradoxe Situation entstanden», sagt der britische Russlandexperte Tony Wood. «Obwohl der Westen heute wirtschaftlich mehr von Russland abhängig ist, sind wir über das postsowjetische Russland weniger gut informiert als über die Sowjetunion.» Wood erklärt das mit dem Verschwinden des Feindbilds nach dem Ende des Kalten Kriegs. Viele westliche Medienkonzerne haben ihre KorrespondentInnen in Moskau abgebaut. Russland hat an Nachrichtenwert verloren.
Berichtenswert für die verbliebenen westlichen KorrespondentInnen war immerhin der spektakuläre Auftritt der Punkband Pussy Riot in einer Moskauer Kathedrale und die drastische Bestrafung der Mitglieder. Im Westen wurde die Gruppe als Avantgarde der neuen Oppositionsbewegung gesehen. In Russland fühlt sich jedoch auch ein Grossteil der Opposition durch die Provokation der Bandmitglieder vor den Kopf gestossen. Der Fall Pussy Riot hat die Opposition gespalten und verunsichert – Putin wurde dadurch gestärkt.
Zwanzig Jahre nach der «Zeitenwende» muss sich der Westen wieder mit Russlands komplexen Realitäten befassen. Kürzlich hat das US Army War College (USAWC) eine Studie mit der Fragestellung veröffentlicht, ob Reformen in Russland überhaupt je möglich sind. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zweifelte im Westen kaum jemand daran, dass Russland eine Demokratie und Marktwirtschaft nach westlichem Modell einrichten werde.
Die «Russische Matrix»
Der Westen habe sich nach dem Kollaps vom «demokratischen Wunder Jelzin» täuschen lassen, erinnert die russische Politologin Lilia Schewtsowa in der Studie des USAWC. Um nicht erneut in eine solche Falle zu geraten, empfiehlt Schewtsowa, sich mit der «Russischen Matrix» auseinanderzusetzen. Damit meint sie ein System von Werten, das Russlands Machtstrukturen schon seit Jahrhunderten geprägt hat, jedoch in den Analysen der westlichen Regierungen wie auch der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds kaum beachtet wurde.
Die «Russische Matrix» hat gemäss Lilia Schewtsowa drei Dimensionen. Erstens: Die politische Macht in Russland ist eine personalisierte Macht. Der Staat ist der Zar, die BewohnerInnen sind seine Untertanen. Im Russischen heisst Staat «Gosudarstwo», ein um den Herrscher Gosudar organisiertes Gebilde. Die Auffassung des Staats als eine vom Herrscher unabhängige Res publica (öffentliche Sache) hat in Russland keine Tradition und muss von den BürgerInnen zuerst eingefordert werden.
Zweitens: Der Zar herrscht nicht nur über die UntertanInnen, sondern auch über ihr Eigentum. Politische Macht und Eigentum verschmelzen. Diese Dimension der «Russischen Matrix» blieb auch nach der Einführung des Kapitalismus intakt. Im Zuge der vom Westen unterstützten Privatisierung verkauften die Machthaber das Staatseigentum zu Spottpreisen an Leute aus den eigenen Reihen: Die Abhängigkeit des Eigentums von politischer Macht blieb bestehen.
Drittens: «Für den Westen ist die Sowjetunion Geschichte, aber nicht für die Machthaber im Kreml», gibt Schewtsowa zu bedenken. Der Untergang der Sowjetunion und damit auch des russischen Imperiums ist in den Köpfen der Machthaber noch nicht überwunden. Infiziert von einem «imperialen Virus», erhebt Moskau weiterhin Anspruch auf einen Status als Weltmacht mit Einflusssphären. Anstatt mehr Mittel in die Infrastruktur, die Wirtschaft sowie das Gesundheits- und Bildungswesen zu investieren, verschwendet Russland seine Kräfte mit Ausgaben für unproduktive Rüstung und Sicherheit.
Vom «imperialen Virus» besonders infiziert sind die Hunderte ehemaliger Angehöriger des sowjetischen Geheimdiensts KGB, die im Schlepptau des früheren KGB-Obersts Putin politische und wirtschaftliche Macht übernommen haben. Der ehemalige langjährige Chef des heutigen Geheimdiensts FSB, Nikolai Patruschew, hatte seine Organisation als «neuen Adel» bezeichnet.
Russland befinde sich in Wirklichkeit in den Krallen einer «Kleptokratie», sagt Julia Latinina. Die Journalistin berichtet in der Zeitschrift «Nowaja Gaseta», wie schamlos sich die «neue Aristokratie» bereichert. Vielsagend ist für Latinina die Kapitalflucht, die sich von 2010 (33,6 Milliarden US-Dollar) auf 2011 (84,2 Milliarden US-Dollar) mehr als verdoppelt hat. Solche Zahlen widersprechen der vom Kreml viel beschworenen Modernisierung: «Eine echte Modernisierung Russlands würde die persönliche Macht der Herrschenden infrage stellen», sagt Latinina. Das Ziel der Machthaber sei hingegen, die intellektuelle Geschäftselite zu zerstören, die fähig wäre, unabhängig von der politischen Macht zu handeln.
Kaum thematisiert wird in der Russlandberichterstattung, wie stark das System Putin von der Unterstützung des Westens profitiert. Klartext spricht der Wirtschaftsexperte und Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski: «Jene, die im Westen Putin kritisieren, sollten verstehen, dass das System Putin nur durch die massive Unterstützung des Westens überhaupt möglich wurde: durch die Hilfe des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und westlicher Regierungen.»
Für Jawlinski ist das «hundertprozentig korrupte System in Russland» ein Teil des globalen Systems geworden: «Die korrupten Eliten bei uns in Russland haben ihr Geld doch nicht in Banken von Nordkorea oder Kasachstan gebunkert, sondern in den Banken westlicher Metropolen.»
Noch klarer formuliert der frühere Vorstandsvorsitzende des heute insolventen Ölkonzerns Yukos, Michail Chodorkowski, das Dilemma des Westens: «Mein Land exportiert nicht nur Rohstoffe, sondern auch Korruption. Die westlichen Banken haben sich in Geldwaschmaschinen für die russische Führungsklasse verwandelt.» Aus dem Gefängnis in Sibirien warnt Russlands ehemals reichster Mann den Westen: «Eine seltsame Situation ist entstanden. Die westliche Elite versucht, Russlands politische Klasse zur liberalen Demokratie zu bekehren, während dieselbe Klasse ebendiese Prinzipien zur Fassade macht. Diese Entwicklung könnte zu einer realen Gefahr für die westliche Zivilisation werden.»
Der Westen und das System Putin wachsen zu einem problematischen Joint Venture zusammen. Berechnungen des Deutschen Bundestags zeigen, dass die Europäische Union bis ins Jahr 2030 sechzig Prozent ihres Energiebedarfs aus russischen Quellen decken wird. So gesehen finanziert Europa direkt jene Strukturen, die für die undemokratischen Zustände in der Russischen Föderation mitverantwortlich sind.
«Belagerte Festung»
Nicht verwirren lassen darf sich der Westen durch die antiwestliche Aussenpolitik des Kremls. Der Konfrontationskurs dient vor allem dem internen Gebrauch: Die russische Öffentlichkeit soll das Land als eine vom Westen «belagerte Festung» empfinden. Putin hat die Aussenpolitik als Mittel zur Zähmung der russischen Gesellschaft erfolgreich eingesetzt.
Trotzdem kann Putins System auf ein freundliches internationales Umfeld zählen. So haben sich Russlands Neureiche – wie zum Beispiel Roman Abramowitsch in London oder Gennadi Timtschenko, Putins Freund und Chef der Ölhandelsfirma Gunvor mit Sitz in Genf – in der westlichen Gesellschaft privat und wirtschaftlich bestens integriert.
Für den Westen ist es Zeit, in seinem Verhältnis zu Russland einen neuen Ansatz zu finden. Ein demokratischer Aufbruch, wie er nach den grossen Demonstrationen vor einem Jahr erwartet wurde, findet nicht statt. Die historische Herausforderung besteht darin, die «Russische Matrix» zu überwinden und eine Alternative zur personalisierten Macht aufzubauen. Ob Russland diesen Weg je gehen wird, ist fraglich. Der Westen muss sich bei seiner Kritik an Putin bewusst sein, dass er kein unbeteiligter Zuschauer ist und dass zwanzig Jahre nach dem Ende des real existierenden Sozialismus auch der Kapitalismus angeschlagen ist.
Russlands Machtzentrum : «Labiles Gleichgewicht»
«Russlands Machtzentrum besteht aus einem Konglomerat aus Cliquen und Interessengruppen, die miteinander um die Ressourcen des Landes konkurrieren.» Diese These vertreten die russischen Politologen Jewgeni Mintschenko und Kyrill Petrow in einer kürzlich veröffentlichten Studie, die in Moskau Aufsehen erregt hat. Die Rolle Putins sei die eines Schiedsrichters. Vom Präsidenten direkt kontrolliert seien die grossen Banken und der Energiemonopolist Gazprom.
Putins eigene Clique zählt acht Männer, die verschiedene Interessengruppen vertreten. Unter ihnen befindet sich Dmitri Medwedew, Putins Vorgänger im Amt des Präsidenten und heutiger Ministerpräsident. Es fällt auf, dass zum harten Kern auch Putins Freund Gennadi Timtschenko, Milliardär und Ölhändler, gehört, obwohl er kein Regierungsamt innehat. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu dieser informellen Gruppe ist die absolute Loyalität zu Putin.
Zwischen den Machtcliquen herrscht laut der Studie ein «labiles Gleichgewicht», das keine der Gruppen stören will. Denn alle sind daran interessiert, die politische Macht auszunützen, um den persönlichen Reichtum zu vermehren. Im Fall einer Krise in Putins Machtsystem, die die Autoren nicht ausführen, sollen «Kandidaten» ausserhalb des «Politbüros» bereitstehen. Am meisten genannt wird Exfinanzminister Alexei Kudrin, ein liberaler Technokrat und langjähriger Vertrauter Putins, der zwischen der Oppositionsbewegung und dem Kreml zu vermitteln versuchte.