Wer sind die Oligarchen?
Viele der russischen Superreichen erlangten ihr Vermögen durch die Privatisierungen der 1990er Jahre. Heute sollen die Sanktionen gegen diese Oligarchen dazu dienen, Putin unter Druck zu setzen. Dabei steht nur ein Viertel der russischen Milliardäre auf Sanktionslisten; und ihr Einfluss auf den Kreml wird überschätzt.
Laut der alljährlich vom US-Magazin Forbes veröffentlichten Liste gibt es 2022 in Russland 83 Dollarmilliardäre. Das ist ein deutlicher Rückgang gegenüber dem Vorjahr, als es noch 117 waren. Die Oligarchenkaste ist innerhalb eines Jahres also deutlich geschrumpft.1 Die drakonischen Sanktionen, die der Westen nach der russischen Invasion in der Ukraine verhängte, beginnen zu wirken, zusätzlich zu den aus dem Krieg und der Schwäche des Rubels entstehenden Verlusten. Allerdings sind laut Forbes nur 25 russische Milliardäre durch die USA, Großbritannien und die EU mit Sanktionen belegt. Der Rest steht – zumindest bislang – noch nicht auf den Sanktionslisten des Westens.
In seiner Rede zur Lage der Nation am 1. März kündigte US-Präsident Joe Biden die Einrichtung einer dem Justizministerium unterstellten Arbeitsgruppe an, „speziell für die Verfolgung der Verbrechen russischer Oligarchen“. Unter dem Beifall der Kongressabgeordneten warnte Biden alle russischen Milliardäre, die Putin unterstützen: „Wir arbeiten mit unseren europäischen Verbündeten zusammen, um eure Jachten, eure Luxusapartments und Privatjets zu finden und zu beschlagnahmen. Wir werden eure unrechtmäßig erworbenen Reichtümer aufspüren.“
Allerdings ist das Verhängen von Sanktionen mit zahlreichen Tücken behaftet, wie der Fall von Roman Abramowitsch zeigt. Gegen den ehemaligen Eigentümer des Fußballklubs Chelsea London und deswegen wohl berühmtesten Oligarchen der Welt wurden in der EU und in Großbritannien Sanktionen verhängt, nicht aber in den USA. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski selbst hatte darum gebeten, Abramowitsch wegen seiner Rolle als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine vorerst zu verschonen.
Reichtum aus den Trümmern der UdSSR
Abramowitsch selbst, der neben der russischen auch noch die israelische und portugiesische Staatsbürgerschaft besitzt, ist jedoch offensichtlich bewusst, dass sich das jederzeit ändern kann. Das lässt sich etwa an den Bewegungen seiner Jachten ablesen. Die beiden größten, die Superjachten „Eclipse“ und „My Solaris“, ließ er im Hafen von Marmaris in der Türkei ankern. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verurteilt zwar die Invasion in der Ukraine, weigert sich aber, russische Oligarchen mit Sanktionen zu belegen.
Zwei weitere Boote befinden sich vor der Küste von Antigua in der Karibik. Ein fünftes, von dessen Existenz man lange nichts wusste, soll unter mysteriösen Umständen just am Tag der Invasion in der Ukraine verkauft worden sein.2 Allein dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, in einem Land, in dem mehr als die Hälfte des Reichtums in Steueroasen verbracht wurde, Vermögenswerte zu identifizieren, geschweige denn einzufrieren oder zu beschlagnahmen.3
Die russischen Oligarchen schürften ihren Reichtum aus den Trümmern der Sowjetunion, genauer gesagt: Sie profitierten von den Privatisierungen der 1990er Jahre, die auf einen schnellen und unumkehrbaren Übergang zur Marktwirtschaft und die Schaffung von Privateigentum abzielten. Die „Schocktherapie“ unter Anleitung US-amerikanischer Berater und des Internationalen Währungsfonds (IWF) versprach wunderbare Ergebnisse. Präsident Boris Jelzin, der sich als Bezwinger des Kommunismus sah, versicherte, die Privatisierungen würden „Millionen von Eigentümern statt einer Handvoll Millionäre“ hervorbringen.4
Die Realität sah anders aus: Ein kleiner Kreis von Insidern, die dem Machtzentrum nahestanden, rissen sich den Reichtum des Landes unter den Nagel, während die große Mehrheit der Bevölkerung verarmte. Die Ungleichheit nahm groteske Ausmaße an: Zu Sowjetzeiten war der reichste Bürger sechsmal so reich wie der ärmste; im Jahr 2000 war dieses Verhältnis auf 250 000 angestiegen.5
Obwohl Jelzin höchst unbeliebt war, wurde er 1996 wiedergewählt – dank der Unterstützung der ersten Oligarchen, allen voran der Geschäftsmann Boris Beresowski. Im Jahr darauf wurden erstmals vier russische Milliardäre in die Forbes-Liste aufgenommen.
Nach der russischen Wirtschaftskrise 1998/99, als der Staat praktisch zahlungsunfähig war, entwickelten sich die Oligarchen zu den Paten einer ausgebluteten Volkswirtschaft. Gemäß einer Orwell’schen Logik wurden das Chaos und der Anstieg der Finanzkriminalität in die Sprache der Legalität, der Reform und des Markts gekleidet.6 Eine verhängnisvolle Rolle spielten dabei US-amerikanische Consultingfirmen, wie Stephen F. Cohen von der Princeton University in einem 2001 erschienenen Buch beschreibt.7
Die Betrügereien, mittels derer die Reichtümer des Landes geplündert wurden, nannte man „Reformen“. Das Mafiasystem wurde als „Markt“ bezeichnet, die Geldentwertung und die damit einhergehende Rückkehr zum Tauschhandel und zur informellen Wirtschaft als „monetaristische Politik“, Geldwaschanlagen firmierten als „Banken“, und die Kredite, die sie dem Staat zu unfairen Konditionen im Austausch für verschleudertes Staatsvermögen gewährten, wurden als „Privatisierungen“ bezeichnet. In internationalen Finanzkreisen wurde Russland als „erfolgreichstes Schwellenland“ gefeiert.
1999 bestimmte der kranke Boris Jelzin Wladimir Putin zu seinem Nachfolger, einen in der Öffentlichkeit kaum bekannten ehemaligen KGB-Agenten. Als dieser 2000 an die Macht kam, versprach er, „die Oligarchenklasse auszumerzen“. Zwar gewährte Putin mit einem seiner ersten Dekrete seinem Vorgänger und dessen Familie volle Immunität, aber der neue Präsident wollte tatsächlich die Autorität des Staates wiederherstellen und zeigen, dass er jetzt das Sagen hatte.
So übernahm der Kreml wieder direkt die Kontrolle über den strategisch und symbolisch wichtigen Energiesektor, insbesondere Gas und Öl. Überall sonst ersetzte Putin Oligarchen, die sich zu unabhängig gebärdeten, nach und nach durch Gefolgsleute, denen er neue Spielregeln aufzwang: Seither dürfen sie weiter ihren lukrativen Geschäften nachgehen, solang sie Steuern zahlen und gegebenenfalls auf Wunsch der Regierung auch wenig gewinnbringende Investitionsprojekte von nationaler Bedeutung unterstützen. Und natürlich dürfen sie sich nicht in die Politik einmischen und vor allem nicht den Präsidenten kritisieren.8 Wer sich nicht daran halten wollte, wählte den Weg ins Exil, wie etwa Beresowski, der seit 2000 in London lebte und dort 2013 starb.
Der Showdown zwischen Präsident Putin und dem damals reichsten Mann Russlands, Michail Chodorkowski, im Jahr 2003 war eine Warnung an alle Oligarchen.9 Der Ölmagnat Chodorkowski war aus Sicht des Kreml zu mächtig geworden; er wurde wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und anderer Verbrechen angeklagt.
In einem im Fernsehen übertragenen Schauprozess sah man ihn schweigend in einem Käfig sitzen, während die Staatsanwälte die Anklagen herunterspulten. Am Ende wurde Chodorkowski enteignet und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, kündigte er seinen Rückzug aus dem Geschäftsleben an. Heute lebt er im Exil in London und gilt in seinem Heimatland offiziell als „ausländischer Agent“.
Zugleich machte Putin sich daran, die internationalen Wirtschaftskreise zu beruhigen. Während eines Aufenthalts in New York 2003 beteuerte er, Russland teile die Werte einer „normalen europäischen Nation“. Die Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Steuersenkungen werde nicht infrage gestellt.
Millionen ausgeben, um Milliarden zu verstecken
Das Problem der Wirtschaftskriminalität blieb allerdings weiter ungelöst. Auf dem Papier waren die Gesetze streng, aber sie wurden höchst selektiv angewandt und ließen sich durch entsprechende Schmiergeldzahlungen leicht umgehen, denn große wie kleine Beamte forderten ihren Anteil am Kuchen. Viele von ihnen pflegten einen Lebensstil, der unmöglich allein durch ihr offizielles Gehalt zu finanzieren war. 2013 verabschiedete das russische Parlament zudem eine umfassende Amnestie, durch die tausende wegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und anderer Wirtschaftsdelikte verurteilte Unternehmer wieder freikamen.
Die Veröffentlichung der „Offshore Leaks“ im April 2013 durch das Internationale Netzwerk Investigativer Journalisten (ICIJ) in Zusammenarbeit mit dutzenden Zeitungen gab den ersten großen Einblick in die Welt der Steueroasen. Der Datensatz enthielt Informationen über rund 130 000 Personen weltweit. Seitdem gab es zahlreiche weitere Leaks: die „Swiss Leaks“ (2015), die „Panama Papers“ (2016), die „FinCEN Files“ (2020), die „Pandora Papers“ (2021) und zuletzt die „Suisse Secrets“. All diese Datenpakete gaben Auskunft über unterschiedliche Bereiche eines globalen Schattenfinanzsystems, das auf Steuerhinterziehung beruht und gigantische Geldtransfers ermöglicht.
Dieses System aus Banken, Anwaltskanzleien, Briefkastenfirmen, komplexen Finanzinstrumenten, Strohmännern und Vermittlern aller Art verwischt Spuren und verschleiert die Herkunft der Gelder. Die Kleptokraten dieser Welt können auf diese Weise ungestraft die Reichtümer ihrer Heimatländer plündern. Wenig überraschend tauchen Oligarchen aus Russland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den Datensätzen regelmäßig ganz oben auf (siehe Kasten im Anschluss an diesen Text).
Korruption gab es schon immer. Aber im Zeitalter der Finanzglobalisierung ist ein Element hinzugekommen, das die internationalen Wirtschaftsbeziehungen grundlegend verändert hat: Kleptokraten können den kriminellen Ursprung ihrer Gewinne problemlos verschleiern und sie der Kontrolle durch nationale Behörden entziehen. Durch ein wenig kreative Buchführung können sich riesige Summen scheinbar in Luft auflösen, bevor sie dann in einem „freundlicheren“ Umfeld wieder auftauchen. Den betroffenen Ländern fehlt dadurch das Kapital für Investitionen in wirtschaftliche Entwicklung.
Wer sich allerdings einzig auf die Oligarchen konzentriert, übersieht ein wesentliches Rädchen im Getriebe des Systems: die Netzwerke der Komplizen und Vermittler, die das Verstecken von Vermögen im großen Stil erst ermöglichen. Frank Vogl, ein Veteran der Korruptionsbekämpfung und Mitgründer von Transparency International, hat ein Buch über die Rolle dieser Helfer geschrieben.10
Laut Vogl handelt es sich um „Heerscharen von Finanz- und Rechtsberatern, Immobilienmaklern und Verkäufern von Luxusjachten, Kunsthändlern und Auktionshäusern, Diamanten- und Goldhändlern, Buchhaltern und Beratungsfirmen mit Sitz in London, New York und anderen globalen Geschäftszentren, die den Kleptokraten helfen und sie geradezu ermutigen, ihre Beute gegen hohe Honorare zu verstecken“.
Eine ganze Industrie der Vermögensverwaltung ist entstanden, die es den Wohlhabenden erlaubt, „Millionen auszugeben, um ihre Milliarden zu verstecken“.11 Und diese Industrie hat mit dem Auftritt der Oligarchen aus der ehemaligen Sowjetunion ein enormes Wachstum erfahren.
In seinem Buch über die „Amerikanische Kleptokratie“ erinnert der investigative Journalist Casey Michel daran, dass die USA mit Bundesstaaten wie Delaware über ihre eigenen Steueroasen verfügen. Mehr als die Hälfte der börsennotierten Unternehmen haben ihren Sitz in diesem Bundesstaat, den Joe Biden lange Zeit im US-Senat vertrat.
Die Gesetze in den USA haben trotz ihrer scheinbaren Strenge viele Schlupflöcher. Dafür sorgten die Lobbyisten, etwa im Immobilienbereich: Russische Oligarchen oder andere Schwerreiche erwerben Luxuswohnungen in Städten wie New York oder Miami einfach über Investmentgesellschaften. So können sie ihre Identität verschleiern – wider alle Transparenzversprechen der Regierung.12
In Großbritannien hatte die konservative Regierung von John Major 1994 sogar ein sogenanntes goldenes Visum eingeführt, das Ausländern im Gegenzug für eine Investition in Höhe von mehr als 1 Million Pfund eine Aufenthaltsgenehmigung gewährte, als ersten Schritt zur Erlangung der britischen Staatsbürgerschaft.
Dank diesem Gesetz, (das am 17. Februar 2022 aufgehoben wurde), wurde London zum Lieblingssitz der Oligarchen. Die Stadt interessierte sich nicht dafür, woher die Gelder kamen, die ihre Wirtschaft beflügelten. Heute können Schaulustige Sightseeing-Touren durch die Viertel Knightsbridge und Mayfair buchen – die inzwischen als „Londongrad“ bekannt sind – und dort mit eigenen Augen die prächtigen Häuser von Oligarchen und Kleptokraten aus aller Welt bestaunen.
Der Journalist Oliver Bullough, der übrigens eine dieser „Klepto-Touren“ durch London anbietet, erklärt in seinem neuesten Buch, wie das britische Empire, dessen Niedergang spätestens seit der Suezkrise 1956 nicht mehr aufzuhalten war, die Rolle Londons zunehmend auf die eines Drehkreuzes für internationale Finanzgeschäfte reduzierte. Schließlich sei die Stadt zum „Butler der Welt“ geworden, der eine beispiellose Palette von diskret und effizient ausgeführten Dienstleistungen anbietet.13
Während Berufsgruppen wie Bankiers und Anwälte bei der Geldwäsche behilflich sind, sorgen andere Dienstleister wie Gärtner, Hausangestellte, Personenschützer und Nannys dafür, dass die Kleptokraten ein Luxusleben führen können. Besondere „Vermittler“ bieten den Neuankömmlingen an, sie gegen entsprechende Entlohnung in die bessere Gesellschaft einzuführen. Um ihre Integration zu beschleunigen, wird den Oligarchen beispielsweise nahegelegt, Wohltätigkeitsorganisationen, Universitäten und Museen zu finanzieren und sich gegenüber der politischen Klasse großzügig zu zeigen.
Bullough zufolge pflegte die britische Regierung die reichlich naive Vorstellung, dass durch den Kontakt mit der englischen Geschäftswelt „die großen russischen Unternehmen die Grundsätze der guten Unternehmensführung, Transparenz und Ethik erlernen“ würden.
Die klägerfreundlichen britischen Antidiffamierungsgesetze waren zweifellos ein weiterer Faktor, der das Vereinigte Königreich für russische Magnaten besonders attraktiv machte. Sie lernten nicht nur ihr Image zu verbessern, sondern auch, wie sie mithilfe dieser Gesetzgebung allzu neugierige Journalisten leicht abschrecken konnten. Zwei rote Linien wurden in der Berichterstattung nur selten überschritten: die Herkunft ihres Vermögens und ihre Verbindungen zu Putin. So blieb ihre schmutzige Vergangenheit lange im Verborgenen.
Dennoch häuften sich die Verleumdungsklagen. Und so war die Ankunft der russischen Milliardäre in Großbritannien auch ein echter Glücksfall für Anwälte, die sich auf solche Fälle spezialisiert hatten. Eines der bekanntesten Gesichter in dieser Branche ist der Anwalt Nigel Tait, Partner in der Kanzlei Carter-Ruck. Er vertrat den Energiekonzern Rosneft bei seiner Klage gegen Catherine Belton, eine britische Enthüllungsjournalistin und Autorin des Buchs „Putins Netz“.14
Auf der Kanzlei-Webseite wird Tait so beschrieben: „Er verhinderte die Veröffentlichung zahlreicher Artikel über seine Kunden, oft reicht ein Anruf oder ein Brief.“15 Manchmal braucht es tatsächlich nicht mehr, um den Eifer von Journalisten zu dämpfen, die über die Verbindungen zwischen Oligarchen und dem Kreml recherchieren.
Nach der russischen Invasion in der Ukraine schien es dem Tory-Abgeordneten Bob Seely wie Schuppen von den Augen zu fallen: „Wie um alles in der Welt haben wir das zugelassen? Eine freie Presse sollte Kleptokraten und Kriminelle einschüchtern. Warum ist es in unserer Gesellschaft, einer freien Gesellschaft, so weit gekommen, dass Kleptokraten, Kriminelle und Oligarchen freie Medien einschüchtern?“16
Die Annexion der Krim 2014 und die darauf folgenden ersten Sanktionen gegen Russland trugen dazu bei, diese Verbindungen ans Licht zu bringen. Nach der Wahl von Donald Trump ins Weiße Haus war das Thema der russischen Einmischung in die westlichen Demokratien dann allgegenwärtig. Die Oligarchen wurden dabei weniger wegen der zweifelhaften Herkunft ihrer Vermögen kritisiert, sondern wegen ihrer mutmaßlichen Nähe zum Kreml.
Am 21. Juli 2020 veröffentlichte der britische Parlamentsausschuss für Sicherheit und Geheimdienste einen ausführlichen Bericht über Russland. Darin heißt es: „Der russische Einfluss im Vereinigten Königreich ist ‚die neue Normalität‘, und es gibt viele Russen mit sehr engen Verbindungen zu Putin, die gut in die britische Geschäfts- und Gesellschaftsszene integriert sind und aufgrund ihres Reichtums akzeptiert werden. Jetzt muss es darum gehen, den Schaden zu begrenzen.“17
Aus Moskauer Sicht erscheint das Ganze jedoch völlig anders: Der Kreml hatte die Oligarchen stets im Verdacht, in den Westen überzulaufen. Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine hat dieses Misstrauen einen neuen Höhepunkt erreicht. Am 16. März wetterte Putin gegen „diejenigen, die eine Villa in Miami oder an der französischen Riviera haben und nicht ohne Gänseleberpastete und Austern leben können“. In ihren Reihen befinde sich eine „fünfte Kolonne“, so der russische Präsident.
Wen die Sanktionen treffen – und wen nicht
„Das Problem ist, dass viele dieser Menschen geistig dort und nicht hier bei unseren Leuten sind, nicht bei Russland. Und das ist ihrer Meinung nach ein Zeichen dafür, dass sie zu einer höheren Kaste gehören. Sie sind bereit, ihre Mutter zu verkaufen, um im Vorzimmer dieser Kaste sitzen zu dürfen. Sie wollen so sein wie sie, aber sie verstehen nicht, dass diese höhere Kaste sie nur benutzt, um unserem Land den größtmöglichen Schaden zuzufügen.“
Sanktionen werden oft als eine Möglichkeit dargestellt, „Putins Umfeld“ zu treffen, um dessen Handeln zu beeinflussen. Doch anders als in den westlichen Ländern mit ihren Lobbyisten oder in den schwachen Staaten des Globalen Südens ist der Einfluss der Superreichen auf Regierungsentscheidungen in Russland eher gering.
Überdies wählt der Westen seine Zielpersonen nach willkürlichen Kriterien aus. So hat sich beispielsweise Oleg Tinkow, Selfmademan und Gründer der größten russischen Onlinebank, nie mit dem Präsidenten sehen lassen, sondern im Gegenteil den Krieg in der Ukraine in sozialen Netzwerken angeprangert. Trotzdem steht er auf der Sanktionsliste des britischen Finanzministeriums. Er, der den Briten als zu russisch gilt, wird gleichzeitig von Moskau geächtet. Als ihm die Verstaatlichung seiner Bank drohte, verkaufte er seine Aktien unter Wert an den Metallmagnaten Wladimir Potanin.
Die Nähe Potanins zum Präsidenten steht dabei außer Frage. Er, der von Forbes als zweitreichster Mann Russlands eingestuft wird, spielt mit Putin Eishockey und hat im Zusammenhang mit dessen Lieblingsprojekt, den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014, umfangreiche Investitionen getätigt.
Aber er kontrolliert eben auch das Unternehmen Nornickel, den weltweit größten Produzenten von Palladium, ein Edelmetall, das für die Herstellung von Halbleitern unabdingbar ist. Diese zentrale Stellung Potanins im internationalen Handel erklärt wohl auch die Zurückhaltung zahlreicher westlicher Staaten, wenn es um Sanktionen gegen ihn geht. Bislang haben ihn nur Kanada und – seit dem 29. Juni 2022 – Großbritannien auf ihre Sanktionslisten gesetzt.
Allerdings ist sich Potanin bewusst, dass auch die USA und andere europäische Staaten schnell nachziehen könnten. Er organisiert derzeit in Zusammenarbeit mit dem Kreml die Rückführung seiner Investitionen nach Russland: Die französische Bank Société Générale, die sich aus dem russischen Markt zurückzieht, hat ihm ihr gesamtes Russlandgeschäft verkauft.
In Zeiten wie diesen muss sich jeder für eine Seite entscheiden. Wenige Wochen nach der Veröffentlichung eines Berichts des britischen Parlamentsausschusses vom Juli 2020, der seine Besorgnis über die „russische Infiltration“ äußerte, wurde bekannt, dass der schwerreiche Jewgeni Lebedew auf Vorschlag von Premierminister Boris Johnson in den Adelsstand erhoben und ins Oberhaus einziehen sollte. Bereits sein Vater, ein Bankier und ehemaliger KGB-Agent, hatte sich sehr darum bemüht, in Londons gute Gesellschaft Londons aufgenommen zu werden.
Lebedew senior hatte damit jedoch nur mäßigen Erfolg, so dass er sich ein neues Steckenpferd suchte: das Anprangern von Oligarchen, die alle Brücken hinter sich abgebrochen und mit Hilfe westlicher Mittelsmänner Milliarden von Dollar aus Russland herausgeschmuggelt haben. Vor allem wegen der KGB-Vergangenheit Alexander Lebedews wurde schon damals in London diskutiert, ob sein Sohn vom Nominierungsausschuss der britischen Regierung als „Risiko für die nationale Sicherheit“ eingestuft werden würde.
Jewgeni Lebedew, Chef eines Medienkonzerns, zu dem auch der Independent und der konservative Evening Standard gehören, pflegte allerdings seit Langem engen Kontakt mit Premierminister Johnson. Der blieb daher standhaft und so zog Lebedew am 19. November 2020 ins Oberhaus ein. Sein neuer Titel: Baron Lebedev of Hampton and Siberia.
1 „Here’s how big a hit Russia’s billionaires have taken in the past year“, Forbes, 5. April 2022.
2 „Abramovich-linked yacht in Netherlands changed hands on day of Ukraine invasion“, The Guardian, 8. April 2022.
3 Gabriel Zucman, „Steueroasen. Wo der Wohlstand der Nationen versteckt wird“, Berlin (Suhrkamp) 2014.
4 Mark Hollingsworth und Stewart Lansley, „Londongrad: From Russia with Cash; The Inside Story of the Oligarchs“, London (Fourth Estate Ltd) 2010.
5 Bill Browder, „Red Notice: A true story of high finance, murder, and one’s man fight for justice“, New York (Simon & Schuster) 2015.
6 Siehe Tony Wood, “Korruption in Russland – ein Fehler im System“, LMd, September 2019.
7 Stephen F. Cohen, „Failed Crusade: America and the Tragedy of Post-Communist Russia“, New York (W. W. Norton & Company) 2001.
8 Siehe Catherine Belton, „Putins Netz – Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“, Hamburg (Harper Collins) 2022.
9 Siehe Keith Gessen, „Als der Oligarch die Regel brach. Chodorkowski, Putin und der Fall Yukos“, LMd, April 2010.
10 Frank Vogl, „The Enablers: How the West Supports Kleptocrats and Corruption. Endangering Our Democracy“, London (Rowman & Littlefield) 2022.
11 Chuck Collins, „The Wealth Hoarders: How Billionaires Pay Millions to Hide Trillions, Polity“, Cambridge (Polity) 2021.
12 Casey Michel, „American Oligarchs: How the US created with world’s greatest money laundering scheme in history“, New York (St. Martin’s Press) 2022.
13 Oliver Bullough, „Butler to the World: How Britain Became the Servant of Tycoons, Tax Dodgers, Kleptocrats and Criminals“, London (Profile) 2022.
14 Siehe Catherine Belton, siehe Anmerkung 8.
15 Siehe www.carter-ruck.com.
16 „UK legal system has been corrupted by kleptocrats, says Tory MP Bob Seely“, The Times, 2. März 2022.
17 „Russia Report“, The Intelligence and Security Committee of Parliament, 21. Juli 2021.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Ibrahim Warde ist außerordentlicher Professor an der Fletcher School of Law and Diplomacy, Tufts University (USA).
Macht und Geld in Kiew
Oft wird der Begriff „Oligarchen“ allein mit Russland in Verbindung gebracht. Dabei gibt es sie auch in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. In Georgien, Moldau, Kasachstan, Aserbaidschan und nicht zuletzt in der Ukraine gibt es Milliardäre, die ebenso wie ihre Pendants in Russland im Zuge der Privatisierungen in den 1990er Jahren verdächtig schnell sehr reich geworden sind.
Im Gegensatz zu den russischen Oligarchen, die seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin nicht mehr direkt in die Politik eingreifen können, standen die ukrainischen Magnaten stets im Zentrum der Macht – entweder direkt, indem sie die höchsten Ämter bekleideten, über ihnen gewogene Mandatsträger oder aber durch die Kontrolle der wichtigsten Medien.
2014, als die Orangene Revolution blutig niedergeschlagen wurde, wobei 100 Demonstrierende und 20 Polizisten ums Leben kamen, war es ausgerechnet ein Oligarch, der den Auftrag erhielt, ein durch und durch korruptes System zu zerschlagen. Der Schokoladenmagnat Petro Poroschenko wurde bereits im ersten Wahlgang mit 54,7 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Der Mann, so hofften viele, hat genug eigenes Geld, um die Macht nicht als Quelle persönlicher Bereicherung zu nutzen.
Doch es änderte sich nichts. Angesichts der eher noch zunehmenden Korruption setzten die Wähler:innen 2019 auf den Komiker Wolodimir Selenski, einen absoluten Neuling in der Politik, der im zweiten Wahlgang mit 73 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Amtsinhaber Poroschenko blieb mit 24 Prozent abgeschlagen zurück.
Der neue Präsident versprach, der Herrschaft der Oligarchen ein Ende zu setzen. Doch seine Kritiker warfen ihm vor, selbst die Marionette eines Oligarchen zu sein: nämlich von Igor Kolomoisky, einem der reichsten Männer der Ukraine, der unmittelbar nach der Wahl Selenskis aus dem Exil in sein Heimatland zurückkehrte.
Im September 2021 verabschiedete die Rada, das ukrainische Parlament, das „Anti-Oligarchen“-Gesetz. Zwei Monate später wurde es vom Präsidenten unterzeichnet. Was einen Oligarchen überhaupt ausmacht, definiert das Gesetz anhand von vier Kriterien: Einfluss auf die Massenmedien, Besitz eines Unternehmens, das eine Monopolstellung innehat, aktive Teilnahme am politischen Leben und ein Vermögen von umgerechnet mehr als 77 Millionen Euro. Alle Personen, die diese Kriterien erfüllen, müssen ihren gesamten Besitz öffentlich machen, sie dürfen keine politischen Parteien finanzieren, sich nicht privat mit hohen Beamten treffen und sich nicht an Privatisierungen beteiligen.
Die Veröffentlichung der „Pandora Papers“ durch das Internationale Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ) im Dezember 2021 verdüsterte jedoch das Bild: 38 ukrainische Politiker besitzen demnach Konten in Steueroasen, mehr als je zuvor. Das Datenleck zeigte auch, dass Selenski und seine Kompagnons aus der Unterhaltungsindustrie – allen voran Sergei Schefir, langjähriger Geschäftspartner und heute enger Berater des Präsidenten – Firmen mit Sitz auf den Britischen Jungferninseln, in Zypern und in Belize besaßen. Eine dieser Firmen war am Kauf von Immobilien in London beteiligt. Ein Sprecher des Präsidenten beeilte sich zu erklären, dieses Offshore-Netzwerk sei 2012 eingerichtet worden, um die Einkünfte zu „schützen“, die Selenski und seine Partner in der Unterhaltungsindustrie unter der prorussischen Regierung von Wiktor Janukowitsch erzielt hatten.
Rückzugsort Dubai
Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) haben sich den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen mit der Begründung, dass „sich auf eine Seite zu stellen nur zu mehr Gewalt führen wird“. Ihre guten Beziehungen zu den USA, der EU und Großbritannien stellten die VAE damit freilich nicht in Abrede.
Am 25. Februar enthielten sie sich gemeinsam mit China und Indien bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über einen Resolutionsentwurf, in dem der „sofortige Rückzug“ der russischen Truppen gefordert wurde. Auch bei einer Abstimmung der Generalversammlung über den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat enthielten sich die VAE.
Die von Abu Dhabi dominierte Föderation aus sieben Emiraten kann sich eine solche Eigenständigkeit leisten. Und sie hat diese auch schon in anderen Bereichen unter Beweis gestellt, im Krieg gegen den Jemen etwa, oder als sie gemeinsam mit Saudi-Arabien und Russland beschloss, die Ölproduktion trotz steigender Preise nicht zu erhöhen.
Die Petromonarchie mit nur 10 Millionen Einwohnern – von denen wiederum nur knapp 10 Prozent die Staatsbürgerschaft besitzen – wird von allen Seiten umworben. Bereits während seiner ersten Amtszeit hatte der französische Präsident Emmanuel Macron die VAE zu einem Schwerpunkt seiner Außenpolitik in der arabisch-islamischen Welt gemacht. Frankreich unterhält dort einen seiner wichtigsten Militärstützpunkte im Ausland.
Im Dezember 2021 unterzeichnete Macron bei einem Treffen mit Mohammed bin Zayed Al Nahyan (MBZ), dem damaligen Kronprinzen von Abu Dhabi und heutigen Präsidenten der Föderation, zwei große Rüstungsverträge: einen über die Lieferung von 80 Rafale-Kampfflugzeugen im Wert von 16 Milliarden Euro und einen über 12 Caracal-Hubschrauber von Airbus im Wert von 800 Millionen Euro.
Gleich zu Beginn des Ukrainekriegs reisten zahlreiche russische Oligarchen nach Dubai aus. In der Handels- und Tourismushauptstadt der VAE sind viele von ihnen bereits seit Jahren Stammgäste und haben sich längst einen diskreten Rückzugsort geschaffen. Der Zustrom von russischen Staatsbürgern kurbelte die dortige Nachfrage nach Luxusimmobilien erheblich an.
Die Auswirkungen der internationalen Sanktionen, die wirtschaftlichen Probleme und die Einschränkungen von Bankgeschäften machen jedoch auch in den VAE vieles schwieriger. Ein Beispiel sind die Privatflugzeuge: Dutzende Jets in Besitz von Russen sitzen am Flughafen Dubai fest. Denn ihre Besitzer haben wegen der Sanktionen keine Möglichkeit, Versicherungs- oder Wartungskosten an US-amerikanische oder europäische Unternehmen zu zahlen.
Zudem hat die Financial Action Task Force (FATF), das internationale Gremium zur Bekämpfung von Geldwäsche, die VAE im März auf ihre „graue Liste“ gesetzt. Das bedeutet, dass die Geldströme aus diesem Land von den Anti-Geldwäsche-Behörden nun mit besonderer Wachsamkeit verfolgt werden.