Berner Polizei: «In angepasstem Tempo»
Vor der Berner Reitschule fährt ein ziviles Polizeiauto in eine Menschenmenge. Eine Rekonstruktion des Vorfalls – und der politischen Diskussion dazu.
Um zwei Uhr nachts am 2. März stellt die Revolutionäre Jugendgruppe Bern (RJG) ein Video auf Facebook: «Amokfahrt der Polizei Bern». Im Video sieht man, wie ein ziviles Polizeiauto auf das Trottoir vor der Reitschule fährt, direkt auf mehrere Menschen zu. Die RJG spricht vom Einsatz des Autos als Waffe, die Polizei wiegelt ab. In den nächsten Tagen entbrennt eine Diskussion, vor allem um die Echtheit des Videos, das ohne Ton und teils geschnitten ins Netz gestellt wurde. Was ist da passiert?
Lukas Schmid*, der an diesem Abend dort war, erzählt: «Ich stand mit mindestens zwanzig anderen Personen auf dem Trottoir und schaute zu, wie einige Personen ein Graffiti anbrachten. Dann kam die Polizei in einem zivilen Auto, worauf sich die Sprayer bis auf einen zurückzogen. Die Polizisten legten den Rückwärtsgang ein, wohl um zu ihm hinzufahren. Darauf lief auch er davon. Dann sind sie direkt auf uns zugefahren, in die Menschenmenge hinein. Wir sind weggerannt oder die Treppen runtergesprungen. Eine Person wurde zwischen Mauer und Auto eingeklemmt.» Beim Wegrennen hat sich Lukas Schmid am Knie verletzt, auch anderen sei es ähnlich ergangen.
«Dafür sind sie ausgebildet»
Die Mediengruppe der Reitschule erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die Polizei: «Die Polizei hat aktiv Menschen an Leib und Leben gefährdet. Kein Umstand, erst recht nicht derjenige, einen der Sachbeschädigung Verdächtigten festzunehmen, rechtfertigt diese rücksichtslose Fahrt.»
Die Polizei stellte den Vorfall in den regionalen Medien wie folgt dar: Die Polizei habe die Sprayer kontrollieren wollen, doch hätten sich diese bis auf eine Person in die Reitschule zurückgezogen. Als sie dieser mit dem Auto im Schritttempo gefolgt seien, hätten sich ihnen Vermummte in den Weg gestellt und das Auto mit Gegenständen beworfen. Die Polizisten seien dann davongefahren. Marco Stettler*, der an diesem Abend ebenfalls dabei war, widerspricht: «Von Schritttempo kann keine Rede sein.»
Das stützt auch eine Auswertung des Videorohmaterials, die die Juso Bern unternommen hat. Gemäss ihrer Analyse ist das Auto mit etwa neunzehn Kilometern pro Stunde gefahren – weit mehr als Schritttempo. Das hat vielleicht auch die Polizei gemerkt: Auf konkrete Fragen der WOZ wollte die Medienstelle keine Antwort geben, passte ihre Stellungnahme aber an, indem nun von «angepasstem Tempo» die Rede ist. Im Video sieht man allerdings tatsächlich, wie zwei Personen Gegenstände von hinten auf das Auto werfen, als es auf die Menschenmenge zufährt. Aber: Ist die angemessene Reaktion auf ein paar Flaschenwürfe wirklich, in eine unbeteiligte Menge hineinzufahren?
Der kantonale Polizeidirektor Philippe Müller (FDP) kann im Handeln der Polizisten keine Verfehlung erkennen. Dass das Auto auf das Trottoir gefahren sei, sei unproblematisch: «Es kommt ja auch vor, dass zivile Polizeiautos in Fussgängerzonen fahren.» Was man aber klar sehe, sei der Angriff auf die Polizisten durch Flaschen und Feuerwerkskörper. Ob er eine Gefährdung von Personen durch das Polizeiauto sehe? «Nein, es wurde ja niemand verletzt. Es liegt hier im Ermessen der Polizisten, richtig zu handeln – dafür sind sie ausgebildet.» Eine Untersuchung des Falls sei nicht nötig. Ausserdem könne es gut sein, dass das Video für die Analyse der Juso schneller abgespielt worden sei, überhaupt sei es wohl manipuliert worden.
Ist es das wirklich? Und warum wurde hier überhaupt gefilmt? Ein Mitglied der RJG sagt auf Anfrage, das Video sei entstanden, weil man die Sprayaktion habe dokumentieren wollen. Der Ton sei nicht drin, um die Identität der SprayerInnen zu schützen; und das langsame Abspielen diene nicht der Dramatisierung: Vielmehr solle der Vorfall genauer erkennbar sein.
Instrumentalisierung der Polizei
Auch Reto Nause (CVP), Stadtberner Sicherheitsdirektor, ist von einer Manipulation überzeugt. Auf die Frage, warum die Polizisten auf dem Trottoir auf eine Menschenmenge zugefahren seien, stellt er lediglich eine Gegenfrage: «Warum wurde das Auto mit Flaschen beworfen?» Der Vorfall ordne sich in eine antidemokratische Diffamierungsstrategie gegen die Polizei durch linksautonome Kreise ein. Er fordert nun eine flächendeckende Videoüberwachung des gesamten Perimeters Reitschule.
Für Seraina Patzen, Stadträtin der Jungen Alternative (JA!), steht der Vorfall hingegen exemplarisch für das Verhalten der Polizei. «Ohne etwas zu überprüfen, weisen sowohl die Polizei als auch Gemeinderat Nause von Beginn weg jegliches Fehlverhalten von sich.» Sie erachtet das Verhalten der Polizei als unprofessionell, manche Einsätze glichen einer reinen Machtdemonstration. Exemplarisch seien auch die Reaktionen: «Reto Nause kann sich in den Medien nach solchen Einsätzen mit absurden Forderungen nach mehr Überwachung inszenieren. Das Ganze legt die Vermutung nahe, dass hier eine politische Strategie für mehr Repression dahintersteht.» Die Polizei lasse sich für solche Bestrebungen auch ein Stück weit instrumentalisieren, so Patzen.
Keine Untersuchungen
Seit in Bern die Stadtpolizei 2008 mit der Kantonspolizei (Kapo) zusammengeführt wurde, ist eine politische Kontrolle durch die Stadt nur noch beschränkt möglich. Das birgt eine schwierige Ausgangslage in einem stark bürgerlich dominierten Kanton. Zwar hat der Gemeinderat als städtische Exekutive die strategische Verantwortung über die Kapo sowie die Möglichkeit, externe Untersuchungen anordnen zu lassen. Seit ihrer Einführung gab es eine solche aber noch nie. So hat etwa die vom Stadtrat angeordnete Untersuchung des Polizeieinsatzes bei den Miss-Schweiz-Wahlen im Dezember 2014, bei dem sich festgenommene minderjährige AktivistInnen auf dem Polizeiposten ausziehen mussten, nie stattgefunden. Überhaupt versäumt es der mehrheitlich rot-grüne Gemeinderat seit Jahren, eine klare Haltung zur Polizei zu definieren.
Auch Lea Bill, Stadträtin des Grünen Bündnisses, ist kaum erstaunt über den Vorfall – seit Jahren sei eine Verschärfung der Situation zwischen Polizei und linken AktivistInnen festzustellen. In der Tat gab es in den letzten Jahren einige solche Situationen, etwa als im Juni 2014 ein Polizist zweimal vor der Reitschule seine Waffe gezogen und auf Leute gezielt hat. Oder zuletzt den grossen Einsatz vor der Reitschule im September 2018, als Gummigeschosse in eine Menschenmenge geschossen wurden – eines verziert mit einem Smiley, gemalt von einem Polizisten. Diesen Vorfall nennt auch Michael Christen, Geschäftsleiter der Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB), als Beispiel für die sich häufenden provokativen Einsätze: «Verbunden mit der fehlenden Fehlerkultur der Kantonspolizei ist das eine gefährliche Mischung.» Es brauche aus Sicht der DJB endlich eine unabhängige Ombudsstelle.
Bis es eine solche gibt, wird es im bürgerlichen Kanton Bern wohl noch eine Weile dauern. Die Reaktionen von Polizei, Reto Nause und Philippe Müller weisen kaum darauf hin, dass sich bald ein offener Dialog über deeskalative Strategien etablieren wird.
* Namen von der Redaktion geändert.