Berner Polizei: Wann übernimmt Rot-Grün die Verantwortung?

Nr. 39 –

In Bern häufen sich unverhältnismässige Polizeiaktionen. Die Kantonspolizei entzieht sich praktisch jeglicher Kontrolle. Auch für die heftig kritisierten Einsätze ihrer schwer bewaffneten Sondereinheit Enzian wird sie sich wohl kaum verantworten müssen.

Es war einmal eine kleine, verschlafene Stadt, die gar nicht so verschlafen war. Am 11. Oktober 2014 zum Beispiel fand auf dem Bundesplatz die Miss-Schweiz-Wahl statt, und einige junge Menschen fanden das nicht gut. Sie hielten am Eingang der Show Transparente in die Höhe, auf denen zum Beispiel «Frauenzoo» stand. In freien Gesellschaften nennt sich so etwas Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die Jugendlichen, die sich gewaltfrei verhalten hatten, wurden umgehend von PolizistInnen umstellt, mit Kabelbindern gefesselt, abgeführt, einige mussten sich auf dem Polizeiposten nackt ausziehen. Für einen Teil der Abgeführten gabs dann noch ein Aufgebot zur DNA-Entnahme.

Jetzt wieder so ein Fall, oder solche Fälle, ausführlich dokumentiert in der WOZ von letzter Woche: Vier Hausdurchsuchungen der Sondereinheit Enzian seit April dieses Jahres, gezogene Maschinenpistolen, Zwangsmassnahmen gegen Dutzende nicht beschuldigte Personen – als befände sich die Polizei auf einem persönlichen Feldzug gegen linke Jugendliche. Zweimal wurden Berner Polizei und Staatsanwaltschaft jüngst vom Bundesgericht zurückgepfiffen, weil sie widerrechtlich DNA-Proben entnommen und ausgewertet hatten. Trotzdem hielten sie an der Praxis fest und wollten die DNA-Probe einer Person auswerten, die beim Einsammeln weggeworfener Esswaren erwischt worden war.

«Völlig ausser Kontrolle»

Interpellationen von linker Seite, die die Verhältnismässigkeit solcher Einsätze infrage stellten, werden vom fünfköpfigen Gemeinderat, in dem Rot-Grün eine Mehrheit stellt, zum Ärger der eigenen Leute nicht ernst genommen. So dürfte es auch der Interpellation ergehen, die Leena Schmitter (Grünes Bündnis) und Seraina Patzen (Junge Alternative) aufgrund des WOZ-Artikels eingereicht haben. Interpellantin Schmitter: «Gefühlt ist das die 100. Interpellation in dieser Form. Mit der Auflösung der Stadtpolizei Ende 2007 hat die Stadt jeglichen Kontrollhebel aus der Hand gegeben. Dabei häufen sich Situationen, die völlig ausser Kontrolle geraten. Etwa bei einer Demonstration vor zwei Wochen, als Türken und Kurden aneinandergerieten: Die operative Führung schätzt die Lage katastrophal falsch ein, die Situation eskaliert, und am Ende reagiert die Polizei mit übertriebener Gewalt oder mit massiven Eingriffen in Grundrechte von Personen.» So ist die Polizei ein paar Tage später mit einem Grossaufgebot zur Stelle, als am Hauptbahnhof Jugendliche im Rahmen einer Solidaritätsaktion für Kurdistan Essen verteilen: Einkesselung, Personenkontrolle, Beschlagnahmung des Essens.

Oder dann eben bei den Hausdurchsuchungen in Ostermundigen im April und im August: Aus jungen Menschen, die im März dieses Jahres ein Haus besetzen und dieses nach Gesprächen mit der Hausbesitzerin in eine legale Zwischennutzung umwandeln, werden durch bis heute nicht belegte Behauptungen extrem gefährliche Menschen gemacht, sodass bei zwei rechtlich äusserst fragwürdigen Hausdurchsuchungen nicht angeklopft, sondern mit schwer bewaffneter Spezialeinheit gestürmt wird. Dasselbe bei einer Zwischennutzung an der Murtenstrasse und einem Wohnhaus an der Moserstrasse.

«Bis zur Auflösung der Stadtpolizei war es die Aufsichtskommission, die in solchen Fällen Untersuchungen anstellen konnte», sagt Annette Lehmann, SP-Fraktionspräsidentin im städtischen Parlament. «Die Stadtpolizei war gegenüber der Stadt und einem mehrheitlich linken Parlament Rechenschaft schuldig. Die Kantonspolizei, die jetzt auch für die Stadt zuständig ist, schuldet einzig dem bürgerlich dominierten Grossen Rat des Kantons Rechenschaft.»

Es liegt auf der Hand, dass es aussichtslos ist, zu hoffen, ein Emmentaler SVP-Kantonsrat würde einer Untersuchung gegen die Polizei zustimmen, weil sie den Chaoten in der Stadt mal wieder eins auf den Deckel gegeben hat. Lehmann sagt: «Die Auflösung der Stadtpolizei hat einen Stadt-Land-Graben ans Licht gebracht. Sie war ein grosser Fehler. Die Stadt hat jegliche Kontroll- und Steuerungsmöglichkeit verloren.»

Das hat sicherlich zum heutigen Gebaren der Kantonspolizei beigetragen: Auf die Vorwürfe in der WOZ reagierte sie nach dreitägigem Schweigen mit einem Communiqué, das eigentlich vor allem ein ungewolltes Eingeständnis der eigenen Ineffizienz ist. In Bezug auf die Taten, aufgrund deren man anrückte, präsentiert die Polizei: nichts. Stattdessen brüstet sie sich mit Zufallsfunden wie Spraydosen, Teilen einer Hanfanlage, gestohlenen Gegenständen, Vermummungsmaterial. Simple Holzkonstruktionen der BewohnerInnen werden zu gefährlichen Barrikaden umgedichtet, um den Einsatz einer Antiterroreinheit nachträglich zu rechtfertigen. Kein Wort zu den Zwangsmassnahmen gegen nicht beschuldigte Personen (vgl. «Kein Interesse auch am zweiten Verdächtigten» im Anschluss an diesen Text). Die Berner Strafverfolgungsbehörden verlieren offensichtlich die Kontrolle über ihre Einsätze, und die Politik pennt. Oder sie interessiert sich nicht dafür.

Polizei wie aus dem Supermarkt

Das Unbehagen über diese Entwicklung reicht offenbar bis ins Büro des Stadtpräsidenten Alexander Tschäppät (SP). Doch dieser wolle sich im Moment nicht äussern, lässt sein Sprecher mitteilen – es sei nicht sein Dossier. So zimperlich ist Tschäppät nicht immer, wenn die Sache zu irre wird: Im März entzog er dem für die Polizei verantwortlichen Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) schon mal das Dossier über die institutionalisierten Gespräche zwischen der Reitschule und der Polizei, weil diese unter Polizeifan Nause nur noch aus Anschreien bestanden hätten, ist zu hören. Seit Tschäppät das Dossier an sich gezogen habe, werde wieder geredet. Nause ist als Sicherheitsdirektor für die Strategie der Polizei verantwortlich. Übersetzt heisst das: Er hat nichts zu melden. Die Stadt kauft wie in einem Supermarkt fertige Leistungen bei der Kantonspolizei ein, ohne Garantie- und Umtauschrecht. Und eine Alternative gibt es in einem Gewaltmonopol nicht.

«Das Operative» und damit letztlich die Verantwortung liegt bei der Kantonspolizei. Es bräuchte schon eine sehr engagierte Person als Sicherheitsdirektor, um hier eine Art Balance zu schaffen. Nause ist das Gegenteil davon: In seitenlangen völlig unkritischen Interviews mit der «Berner Zeitung» präsentiert er sich gerne als Polizeisprecher, von politischer Verantwortung ist nichts zu spüren. Fragen der WOZ will er mit Verweis auf die operative Verantwortung der Kantonspolizei nicht beantworten. Aber auch der oberste operativ Verantwortliche, Polizeikommandant Stefan Blättler, schweigt: Dem «Bund», der kritisch nachfragen wollte, verweigerte er diese Woche ein Interview.

Vielleicht ist CVP-Nause ja nur nützlich: Welcher Linke will in der Schlafstadt Bern schon das Polizeidossier übernehmen, wenn doch die Einzigen, die hier regelmässig nachts Krach machen, der linken Subkultur entspringen? Denn wenn die linke Mehrheit in der Exekutive nur annähernd ähnlich polizeikritisch eingestellt wäre, wie es ihre KollegInnen in der Legislative inzwischen sind, müsste sie mit Reto Nause längst das tun, was sie 2003 mit dem damaligen Polizeidirektor Kurt Wasserfallen getan hat: ihm das Dossier entziehen. Wasserfallen hatte damals ein friedliches SchülerInnen-Protestlager gegen den Irakkrieg mit Wasserwerfern und Polizeitauchern räumen lassen. Die Folge: Protest im damals linksliberalen «Bund», auf der Strasse, in der Politik.

Auch die Lokalpresse hat sich in der Zwischenzeit verändert: «Berner Zeitung» und «Bund» wurden unter das Dach der Tamedia gebracht und kamen unter starken Effizienzdruck, während ehemalige KollegInnen bei der Medienstelle der Polizei fleissig Meldungen für die Onlineauftritte der Zeitungen liefern. Gibt es unter diesen Bedingungen noch Zeit und Raum für kritische Distanz?

Die «Berner Zeitung» jedenfalls bezeichnete den Farbanschlag von Anfang Jahr, der als Begründung für die erste Welle der erwähnten Hausdurchsuchungen herhalten musste, als «Terrorismus». Um diesen – wie er schrieb – «starken Begriff» zu rechtfertigen, berief sich der BZ-Redaktor auf ein Papier des Schweizerischen Versicherungsverbands und die Worte des Anwalts des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter, Sektion Stadt Bern.

Der Berner Politszene ist 2007 mit dem Tod des links-grünen Anwalts Daniele Jenni ein wichtiges Sprachrohr verloren gegangen. Jenni hatte jahrzehntelang die Polizei kritisch begleitet. Nach seinem Tod kam die Zusammenlegung von Stadt- und Kantonspolizei. «Es ist extrem frustrierend und rechtsstaatlich sehr bedenklich, was heute in Bern passiert», sagt Seraina Patzen, Stadtparlamentarierin der Jungen Alternative.

Auferstehung der Stadtpolizei?

Muss die Linke deshalb nicht dringend aktiv werden? Den Ressourcenvertrag mit der Kantonspolizei neu verhandeln und fordern, dass sie die Hoheit über Polizeieinsätze auf Stadtgebiet zurückerhält? «Das müsste sie wohl», sagt Patzen. «Gleichzeitig würde ich gerne zuerst einmal von der rot-grünen Stadtregierung ein echtes Interesse an solchen Fragen spüren», sagt sie. «Es ist unbefriedigend, wenn die Stadtregierung die ganze Verantwortung auf den Kanton schiebt.» Die SP-Parlamentarierin und Juristin Yasemin Cevik sagt: «Eine Rückkehr zur Stadtpolizei halte ich im Moment für unrealistisch: Uns fehlt im Kanton die Mehrheit. Wir müssen aber bei der anstehenden Revision des Polizeigesetzes versuchen, was die Gemeinden ursprünglich bei der Schaffung des Fehlkonstrukts Einheitspolizei erfolglos gefordert hatten: eine Möglichkeit, selbstständig Untersuchungen einleiten zu können.»

Egal welche linke Legislativpolitikerin oder welchen Aktivisten man fragt, es herrscht ziemliche Ratlosigkeit und Ohnmacht im Umgang mit der Polizei: Egal was man tue, es ändere sich nichts, so der Tenor. Man könnte in der Hauptstadt nicht nur von einem Polizeiproblem reden, sondern auch von einem Demokratieproblem.

Neuer Vorwurf: Kein Interesse auch am zweiten Verdächtigten

Am 19. August 2015 stürmte die Sondereinheit Enzian wegen eines jungen Manns – nennen wir ihn Beat – zwei Häuser an der Berner Murtenstrasse. Die Polizei verdächtigte ihn offenbar, an einem Farbanschlag auf einen Polizeiposten vom Februar beteiligt gewesen zu sein. Die Bewohner an der Murtenstrasse wurden gefesselt, ihnen wurden die Augen verbunden – alle Zimmer dieser nicht beschuldigten Personen wurden durchsucht. Doch am Wohnort von Beat tauchte die Polizei nicht auf. Als er vom Einsatz erfuhr, meldete sich Beat bei der Polizei. In der WOZ von letzter Woche berichtete er: «Die Polizei hat sich nicht für mich interessiert. Ich habe bis heute nichts von ihr gehört.»

Jetzt erhebt auch ein anderer junger Mann – nennen wir ihn Markus – ähnliche Vorwürfe gegen die Berner Kantonspolizei. Angeblich wegen Markus wurden am 1. April 2015 im selben Stil in Ostermundigen und im Quartier Breitenrain zwei Zwischennutzungen gestürmt und komplett durchsucht, auch hier inklusive stundenlanger Zwangsmassnahmen – Fesselung, Augen verbinden – gegen nicht beschuldigte HausbewohnerInnen. Der damals Gesuchte: «Ich war an jenem Morgen weder im einen noch im andern Haus. Als ich von den Razzien erfuhr, nahm ich mir einen Anwalt. Er hat mehrmals versucht, mit der Polizei einen Termin abzumachen. Man wimmelte ihn ab oder beantwortete seine Anrufe nicht. Am Tag nachdem er es ein weiteres Mal erfolglos probiert hatte, stattete die Polizei meiner Freundin einen Besuch ab: Wo ich mich aufhielte? Ich habe die Welt nicht mehr verstanden: Die suchen überall nach mir, aber mich wollen sie gar nicht! Die haben sogar bei meiner Freundin am Arbeitsplatz angerufen! Nach drei Wochen teilte die Polizei mit, ich müsse mich halt persönlich melden. Das habe ich getan. Meine Frage, warum sie zwei Häuser stürmen und durchsuchen oder bei meiner Freundin vorbeigehen, wenn sie mich auch einfach anrufen und einladen könnten, haben sie nicht beantwortet. Das Verhör schien dann reine Formalität. Die Beamten wirkten gelangweilt. Nach zehn Minuten war es vorbei.»

Die Medienstelle der Kantonspolizei liess Anfragen zu Effizienz und Verhältnismässigkeit der Einsätze unbeantwortet.

Daniel Ryser