Gummischrot: Gefährdung der öffentlichen Sicherheit

Nr. 42 –

Die Kantonspolizei Bern setzt neuartige Gummimunition ein. Sie schiesst damit auf Menschen, ohne die Gefährlichkeit der Geschosse richtig geprüft zu haben.

Projektile MZW und Rubber Shot Hexagonal im Vergleich
Schlimme Verletzungen, besonders am Auge, können sie beide verursachen: Die Projektile MZW und Rubber Shot Hexagonal (rechts) im Vergleich.

Die Polizist:innen springen aus den Transportfahrzeugen und beginnen sogleich, auf Kopfhöhe der wegrennenden Menschen zu schiessen. So erinnert sich Seraina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, an jene Samstagnacht Ende April, als ein bunter, nicht bewilligter Umzug durch die Stadt Bern zog und mehr Freiräume verlangte.

Die Polizei habe «von Anfang an gewirkt, als warte sie auf einen ‹Grund›, die Situation eskalieren zu lassen», sagt Seraina. Kurz nachdem sie sich zusammen mit anderen in eine Seitengasse zurückgezogen habe, hätten die Beamt:innen geschossen. Beim Wegrennen sei einer ihrer Begleiter:innen am Wangenknochen getroffen worden, sie selbst an der Wade und am Hinterkopf. «Ich erschrak ob der Wucht der Geschosse.» Sie sei auch schon zuvor von Gummigeschossen getroffen worden, doch diesmal sei die Energie der Geschosse «massiv grösser» gewesen, obwohl sie aus grösserer Distanz beschossen worden sei.

Kompakter, dichter, gefährlicher?

Bei den Projektilen, die Seraina auf der Strasse sammelte, handelt es sich um Gummischrot des neuen Typs Rubber Shot Hexagonal. Seit September 2021 setzt die Kantonspolizei Bern laut eigenen Angaben ausschliesslich dieses Gummischrot ein. Gemäss Recherchen der «Republik» ist die Berner Kapo das einzige Polizeikorps in der Schweiz, das diese Munition einsetzt. Schrot bedeutet, dass pro Schuss mehrere Projektile gleichzeitig abgefeuert werden. Beim Rubber Shot Hexagonal der Zürcher Firma Saltech sind es 28 Gummiprojektile, die per Granatwerfer verschossen werden. Zuvor setzte die Berner Kantonspolizei Gummischrot des Typs MZW ein, das von diversen Schweizer Polizeibehörden verwendet wird.

Der WOZ liegen beide Projektile vor. Rubber Shot Hexagonal und MZW haben beide die Form sechseckiger Prismen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die neuen Geschosse sind viel kleiner. Das Volumen beträgt nicht einmal ein Drittel der alten Geschosse, die Aufprallfläche ist weniger als halb so gross. Gleichzeitig ist die Masse nur minimal geringer (8,7 Gramm statt 9,8 Gramm). Die neuen Geschosse sind also viel kompakter und dichter.

Nicht nur Seraina ist überzeugt, dass das die neuen Geschosse noch gefährlicher macht als die alten des Typs MZW, die ebenfalls immer wieder schwere Verletzungen insbesondere der Augen verursachen. «Je kleiner die Fläche, mit der das Geschoss auf die Oberfläche trifft, desto grösser ist die einwirkende Kraft und damit auch die Verletzungsgefahr», schreibt der Berner Regierungsrat im September 2022 in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zum Rubber Shot Hexagonal. Obwohl die Oberfläche der neuen Munition im Vergleich zu den alten Geschossen effektiv kleiner ist, kommt die Berner Regierung mit Verweis auf die «insgesamt deutlich geringere Energiedichte» und den «deutlich kleineren Streukreis» dann aber zum Schluss, dass das «Verletzungsrisiko beim neuen System […] deutlich kleiner ist».

Das Gutachten, das nicht existiert

Anruf bei Wundballistiker und Forensiker Beat P. Kneubuehl, der mit seiner Firma BPK Consultancy GmbH auch für Behörden Geschosse testet. Er könne keine Einschätzung zum Verletzungsrisiko durch Rubber-Shot-Hexagonal-Geschosse abgeben, sagt Kneubuehl. «Dies kann ich nur, wenn ich Versuche gemacht habe.» Solche kosteten über 20 000 Franken, und er mache diese nur, wenn er beauftragt werde, was bisher nicht der Fall gewesen sei.

Die bernische Sicherheitsdirektion wiederum schreibt auf Anfrage, die Aussagen der Regierung zum neuen Gummischrot stützten sich «auf ein externes Gutachten, das von der Kantonspolizei Bern bei BPK Consultancy GmbH in Auftrag gegeben wurde». Also bei Wundballistiker Kneubuehl.

Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, stellte die WOZ beim Kanton Bern ein Gesuch auf Einsicht in das von der Sicherheitsdirektion angesprochene Gutachten. Die Antwort kommt von der Kantonspolizei: Sie lehnt das Gesuch ab. Begründung: «Durch die Bekanntgabe von Details zur polizeilichen Arbeitsweise und den Arbeitsmethoden kann die öffentliche Sicherheit gefährdet werden.» Polizeibehörden versuchen mit diesem Argument immer wieder, das Öffentlichkeitsgesetz auszuhebeln.

Warum sie im Fall des Gutachtens Transparenz verhindern will, zeigt eine weitere Nachfrage bei Kneubühl: «Es gibt kein Gutachten von mir und meiner Firma zu diesem Projektil», sagt er. Er habe 2020 auf Anfrage der Kantonspolizei einzig eine «rudimentäre Einschätzung» zum Verletzungsrisiko der neuen Projektile abgegeben. Und Kneubuehl schränkt die Aussagekraft dieser Einschätzung weiter ein: Diese basiere auf Daten der Kantonspolizei und des Herstellers. Er könne damit zwar Berechnungen machen – «dies aber stets nur unter der Bedingung, dass die angegebenen Daten der Realität entsprechen». Überprüfen könne er das nicht. Wenn die Berechnungsgrundlage «nicht von einer neutralen Prüfstelle kommt», so Kneubuehl, «kann ich nicht garantieren, dass die von mir errechneten Daten der Wirklichkeit entsprechen». Für ein Gutachten hätte er zudem zusätzliche Daten benötigt. Kneubuehl sagt, er habe denn auch erwartet, dass auf die «rudimentäre Einschätzung» ein entsprechender Auftrag folgen würde. Ein solcher aber sei bis heute nie erfolgt.

«Weniger tödlich»

Heisst also: Die Berner Kantonspolizei setzt seit über zwei Jahren Projektile ein, deren Gefährlichkeit sie nie richtig prüfen liess – mit einer Geschossart, die in der Branche als «less lethal» (weniger tödlich) bezeichnet und wegen deren Einsatzes die Schweiz von Amnesty International harsch kritisiert wird. Gleichzeitig behaupten Regierung, Sicherheitsdirektion und Kantonspolizei mit Verweis auf ein nicht existierendes Gutachten, dass die neuen Geschosse ein «deutlich kleineres Verletzungsrisiko» aufweisen würden. Wie gross das Verletzungsrisiko der Geschosse tatsächlich ist, bleibt unklar.

Am 24. Februar setzte die Berner Polizei nach einem Eishockeymatch in Biel Gummimunition ein. Ein Fan wurde dabei schwer am Auge verletzt. Laut Regierung ist klar: Geschossen wurde mit einem Granatwerfer des Typs GL06 40 mm. Dieser kann Einzelprojektile verschiessen, die wegen ihrer Gefährlichkeit ebenfalls stark kritisiert werden – oder eben das Rubber-Shot-Hexagonal-Schrot. Welches Geschoss verwendet wurde, wird aktuell durch die Berner Staatsanwaltschaft untersucht. «Aufgrund der hängigen Untersuchung» will diese aktuell keine Auskunft geben.

Für die Bernerin Seraina, die bis heute psychisch unter den Folgen der Vorfälle vom April leidet, ist derweil klar: «Wer mit diesen neuen Geschossen auf Menschen schiesst, nimmt schwere Verletzungen nicht nur in Kauf, sondern legt es richtiggehend darauf an.»

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Kommentare

Kommentar von annafierz

Fr., 20.10.2023 - 15:58

Danke für diesen Artikel. Gibt es Daten zum Streukreis des GL06-Schrots? Wenn er kleiner wäre als der aus dem MZW, wäre das unabhängig von der Energiedichte beim Aufprall ein Beitrag zur Risikominderung. Unabhängig davon sind die Überlegungen, die Sie auch machen:

Wenn doch so ein Teil aufprallt, kommt die Wirkung auf mehrere Faktoren an: einerseits die gesamte kinetische Energie, die proportional ist zu seiner Masse, aber auch zum Quadrat seiner Geschwindigkeit. Andererseits auf die Energiedichte beim Aufprall, wozu man die kinetische Energie durch die betroffene Fläche dividieren muss. Ein deutlich kleineres, aber fast gleich schweres Projektil könnte dann gefährlicher sein als sein grösseres, minim schwereres Pendant, wenn es mit einer vergleichbaren Geschwindigkeit aufträfe. Was weiss man über diese Geschwindigkeit, z.B. nach der Minimaldistanz?

Es ist überfällig, Augenärzte für solche Evaluationen beizuziehen. That said weiss ich als simple Praktikerin nicht, wie man sinnvolle Grenzwerte fürs Auge definieren könnte. Resultate bei Versuchstieren gibt es einige, auf unsere Spezies sind sie nicht übertragbar. Ganz bestimmt müssten sie um ein Mehrfaches tiefer liegen als die aktuell zitierten, die sich auf die Schwelle für penetrierende Verletzungen beziehen. Das ist am Auge absurd: Schwere Sehbehinderungen bis hin zur Erblindung sind auch durch stumpfe Prellungen möglich. Vgl. https://www.ophta.ch/wp-content/uploads/2023/05/Gummischrot-ophta_3-2023.pdf