Abstimmung Steuer-AHV-Deal: Die umzingelte Pirateninsel
Die Schweiz stimmt bald über den Steuer-AHV-Deal ab. Die WOZ widmet sich in zwei Teilen den zentralen Fragen, die sich dabei stellen. Zunächst: Wer sind die Gewinner, wer die Verliererinnen des Deals?
Die Schweiz ist in Sachen Steuern eine Pirateninsel. Die Piraten plündern im Ausland die Schatzkammern, um die Beute dann auf der Insel zu verteilen: die Juwelen den Anführern, die Silbermünzen der breiten Bevölkerung. Lange gab es so nur Gewinner auf der Insel.
Bereits Anfang der achtziger Jahre, als Deutschland von seinen Firmen 60 Prozent Steuern verlangte, lockten die Schweizer Kantone mit Unternehmenssteuern von durchschnittlich 32 Prozent und zahlreichen Steuerprivilegien. Inzwischen haben sie ihre Steuern weiter massiv gesenkt, sodass die Schweiz mit rund 24 000 privilegiert besteuerten Firmen heute einer der weltweit grössten Hubs für Pharma-, Finanz- und Rohstoffkonzerne ist.
Verlierer sind die anderen Länder, aus denen die Konzerne ihre Gewinne abziehen, um sie hier zu versteuern. Die GewinnerInnen sind die Konzerne und ihre AktionärInnen, denen so Milliarden in die Taschen fliessen. Gewinnerin war lange Zeit auch die hiesige Bevölkerung: Die Schweiz hat so viele Firmen angelockt, dass die Steuereinnahmen trotz sinkender Steuersätze ab den neunziger Jahren explodiert sind.
Der Piratenvergleich hinkt jedoch ein wenig: Das Schweizer Geschäft war jahrzehntelang legal. Seit der Finanzkrise 2008 gehen die Länder der OECD, des Klubs der reichen Nationen, aber immer schärfer gegen Inseln wie die Schweiz vor. So verbot die Organisation der Schweiz etwa Steuerprivilegien für Holdings, die Anteile an Auslandtöchtern halten. Ein erster Versuch, solche Privilegien abzuschaffen, war 2017 mit der Unternehmenssteuerreform III gescheitert. Nun nimmt der Bundesrat mit dem Steuer-AHV-Deal, der am 19. Mai an die Urne kommt, einen weiteren Anlauf.
Wer erhält wie viel von der Beute?
Mit der Unternehmenssteuerreform III hatte die Schweiz die Flucht nach vorn ergriffen: Bereits der Bundesrat wollte mit der Reform die «Attraktivität des Standorts stärken», indem die alten Privilegien durch neue ersetzt würden. FDP und SVP packten mit dem Wirtschaftsverband Economiesuisse im Rücken im Parlament weitere Privilegien drauf, sodass nicht nur anderen Ländern Verluste drohten, sondern auch der Schweiz: Die Reform hätte Steuereinbussen von 2,6 Milliarden Franken gebracht. Selbst Bürgerliche warnten, «das Fuder nicht zu überladen». Sie wussten: Wenn die Beute für die Bevölkerung zu klein würde, würde diese Nein sagen.
Genau das geschah, als die Reform im Februar 2017 an der Urne mit 59 Prozent versenkt wurde. Neben jenen, die den Raub am Ausland verurteilten, stimmten auch all jene gegen die Reform, die ihren Teil an der Beute reklamierten.
Mit dem Steuer-AHV-Deal wollen die Bürgerlichen die damaligen AbstimmungsgewinnerInnen an Bord holen, was ihnen im Fall der SP auch gelungen ist. Damit Konzerne ihre Gewinne weiterhin in der Schweiz versteuern, sollen die alten Steuerprivilegien durch neue – wenn auch etwas eingeschränkte – Privilegien ersetzt werden. Etwa mit einer Patentbox, mit der Gewinne aus Patenten tiefer besteuert werden; mit Abzügen für Forschung und Entwicklung; und mit einer zinsbereinigten Gewinnsteuer, mit denen Firmen einen fiktiven Zins auf Eigenkapital abziehen können. Zudem soll der Bund den Kantonen eine Milliarde Franken geben, damit diese ihre Steuersätze weiter senken können. Alles Anreize für Firmen, ihre Gewinne in der Schweiz zu versteuern.
Die SP sagt, dass die Schweiz mit dem Deal als Steuerstandort an Attraktivität einbüsse und somit anderen Ländern weniger Steuern rauben würde. Tatsächlich würde die effektive durchschnittliche Steuerbelastung der heute privilegierten Konzerne laut Bund von rund neun auf elf Prozent steigen. Doch das sei nur die halbe Geschichte, widersprechen die NGO Alliance Sud sowie das Nein-Komitee aus Grünen, der Gewerkschaft VPOD und weiteren Organisationen.
Erstens sind die Zahlen des Bundes grobe Schätzungen. Selbst die Steuerverwaltung weiss nicht, wie stark die Konzerne die neuen Privilegien ausschöpfen könnten. Zweitens ist entscheidend, wie viel Steuern die anderen Länder, die ebenfalls ihre Steuersysteme umkrempeln, verlangen werden. Drittens geht es nicht nur um die heute privilegierten Firmen: Die Schweiz könnte mit den Steuermassnahmen auch neue Firmen anlocken, die bisher keine Privilegien genossen haben. So schreibt der Bund in einer Studie, dass die Attraktivität der Schweiz sowohl für heute privilegierte als auch für normal besteuerte Firmen gegenüber dem Ausland steigen würde. Er schätzt, dass die Schweiz unter anderem wegen «Zuwanderung von Steuersubstrat» zusätzlich 1,5 Milliarden Franken einnehmen wird.
Kurz: Mit dem Steuer-AHV-Deal würden andere Länder zusätzlich Steuereinnahmen verlieren.
Verlieren würde auch die Schweizer Bevölkerung. Vor allem, weil von den neuen Privilegien und Steuersenkungen auch bisher normal besteuerte Firmen profitieren würden. Die Verluste wären gegenüber der gescheiterten Unternehmenssteuerreform III jedoch etwas kleiner. Erstens, weil die alten Privilegien eingeschränkt würden, zweitens würden bisherige AktionärInnenprivilegien geschmälert: GrossaktionärInnen (die nur auf rund fünfzig Prozent ihrer Dividenden Steuern zahlen) müssten künftig beim Bund siebzig Prozent versteuern. Zudem soll die steuerfreie Ausschüttung gewisser («stiller») Kapitalreserven eingeschränkt werden.
Statt 2,6 soll die Reform die Bevölkerung noch 2 Milliarden Franken kosten. Falls die Schweiz tatsächlich 1,5 Milliarden Franken ausländisches Steuersubstrat anlocken könnte, blieben noch Steuerausfälle in Höhe einer halben Milliarde.
Die InselbewohnerInnen entschädigen
Ins Boot geholt haben die Bürgerlichen die SP vor allem mit ihrem Zugeständnis bei der AHV. Diese soll jährlich zwei Milliarden mehr erhalten. Zwar sollen die Beiträge nicht nur von den Firmen, sondern auch von den Angestellten und dem Bund bezahlt werden. Doch die SP kämpft seit langem für die Stärkung der AHV, die einen starken Rückverteilungseffekt von oben nach unten hat. Und die jährlich zwei Milliarden Franken würden rund zwei Fünftel der Defizite decken, die der Versicherung bis 2030 drohen.
Die Pirateninsel ist umzingelt. Andere Länder, die mit dem aktuellen Deal erneut verlieren würden, machen nicht nur politisch Druck: Um Konzerngewinne zurückzuholen, senken viele ebenfalls ihre Steuern. Die Schweiz wiederum muss mit ihren Steuern immer tiefer runter, um die Konzerne zufriedenzustellen, sodass die eigene Bevölkerung zunehmend leer ausgeht. Das zeigen nicht nur die drohenden Verluste von Steuereinnahmen beim Steuer-AHV-Deal, sondern auch die Entwicklung in Tiefsteuerkantonen wie Luzern; dort sind die Firmensteuereinnahmen jüngst fast um ein Drittel eingebrochen.
Die Alternative bestünde darin, Konzerne, die seit Jahrzehnten von sinkenden Steuern profitieren, wieder stärker zu besteuern, indem globale Mindeststeuersätze festgesetzt werden. Genau darüber ist in der OECD eine Diskussion angelaufen. Und was macht SVP-Bundesrat Ueli Maurers Finanzdepartement? Es zerpflückt die Vorschläge in einem Positionspapier in der Luft. Die Schweiz klammert sich an ihre Pirateninsel, obwohl selbst die eigene Bevölkerung immer weniger von den Silbermünzen erhält.
In der nächsten WOZ: Was abstimmen, um den Steuerwettbewerb langfristig zu stoppen?