Theresa May: Pflichtbewusst ins Abseits
Grossbritanniens Premierministerin ist mit ihrer Brexit-Strategie gescheitert – weil sie ein «Volk» imaginierte und ihre Ersatzfamilie beschützte. Der verzweifelte Hilferuf an Labour dürfte zu spät kommen.
Es gab eine Zeit, da galt Theresa May als genau die Premierministerin, die das Land braucht. Als sie in den Wochen nach dem Brexit-Entscheid das höchste Amt übernahm, wurde sie von Journalistinnen und Regierungskollegen als verlässliche, pflichtbewusste und fleissige Politikerin gepriesen, etwas langweilig vielleicht, aber in der aufgepeitschten Stimmung nach dem Referendum würde das von Vorteil sein. Jetzt, da Mays Karriere dem Ende zugeht, wird einzig über die Frage debattiert, welchen Platz in der Rangliste der schlechtesten RegierungschefInnen sie einnimmt. Die Atmosphäre im Land ist gereizter denn je.
Sicher stellt der Brexit eine Herausforderung dar, an der sich jedeR RegierungschefIn ein paar Zähne ausgebissen hätte, und freilich sind selten einzelne Personen für politische Krisen verantwortlich. Aber wer nach den Gründen sucht, weshalb der Brexit zu einem solchen Schlamassel geführt hat, findet in den Entscheiden der Premierministerin die schlüssigsten Antworten.
Ziel: Einwanderung beschränken
Die Frage auf dem Wahlzettel, den am 23. Juni 2016 über 33 Millionen BritInnen in die Urne warfen, lautete, ob sie in der EU bleiben wollten oder nicht; darüber, was genau das bedeuten würde, wurden sie nicht befragt. Aber anstatt die Bevölkerung in einen Prozess der Meinungsbildung einzubeziehen – etwa über Volksversammlungen, Fokusgruppen oder schriftliche Konsultationen –, entschied die Regierung einfach selbst, wie der Brexit interpretiert werden sollte: Grossbritannien müsse die Kontrolle über die Grenzen, die Gesetze und das Geld haben.
Dass May dabei insbesondere das Ende der Personenfreizügigkeit als wichtigstes Brexit-Ziel ausmachte, ist kaum erstaunlich. Bereits zu ihrer Zeit als Innenministerin von 2010 bis 2016 war die Beschränkung der Einwanderung ihr Steckenpferd; ihre Migrationspolitik erhob Hartherzigkeit zur einzigen Tugend: «Das Ziel ist es, hier in Grossbritannien ein richtig feindliches Klima für illegale Migranten zu schaffen», sagte sie etwa im Jahr 2012.
Völlig überzeugt von ihrer eigenen Brexit-Politik, versäumte es May, im Parlament Brücken zu schlagen und einen Konsens zu finden. May habe sich einen «Populismus zu eigen gemacht, der die knappe und uneindeutige Mehrheit, die für den Brexit gestimmt hat, als ‹das Volk› interpretierte», schreibt der irische Historiker Fintan O’Toole in einem neuen Buch über den Brexit. Und die imaginären Wünsche dieses «Volkes» leiteten Mays Politik.
Die einzige Gruppe, auf die sie Rücksicht nahm, waren die Hardliner in der eigenen Partei, rechtskonservative Abgeordnete wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg. Ihren Vorgaben entsprechend zog May ihre roten Linien – und befand sich damit schnell auf Kollisionskurs mit der EU.
Drei Jahrzehnte Streit
Dass EU-Chefunterhändler Michel Barnier die BritInnen in den Verhandlungen auszumanövrieren verstand, liegt nicht nur an der Regierung. Der folgenreichste Fehltritt war der frühzeitige Beginn des Austrittsprozesses im Frühling 2017: Mit der Auslösung von Artikel 50 begann der zweijährige Countdown, der der EU als überaus wirksames Druckmittel diente. Zu diesem Schritt wurde London nicht allein von den Brexit-AnhängerInnen und den britischen Medien gedrängt, sondern auch von der EU selbst. Sogar die grosse Mehrheit der Labour-Fraktion stimmte für das entsprechende Gesetz.
Dennoch war die Kompromisslosigkeit, mit der May ihre Strategie in den folgenden zwei Jahren durchzudrücken versuchte, entscheidend verantwortlich für ihren Misserfolg – besonders nach dem Wahldesaster vom Juni 2017. Nachdem May die vorgezogene Neuwahl vermasselt hatte und mit einer Minderheitsregierung vorliebnehmen musste, übte sie ihr Amt weiterhin so aus, als verfüge sie über eine satte Parlamentsmehrheit. Um an der Macht zu bleiben, schloss sie sogar einen Pakt mit der nordirischen Democratic Unionist Party.
So blieb May zwar in Downing Street No. 10, aber schon bald zeichnete sich ab, dass ihre Strategie ins Abseits führen würde. Spätestens im vergangenen Herbst war klar, dass May gescheitert war: Der Deal, den sie mit Brüssel ausgehandelt hatte, stiess rundum auf Ablehnung, sowohl bei der Bevölkerung als auch im Parlament. Aber anstatt sich Gedanken über Alternativen zu machen, schaltete die Premierministerin auf stur und behauptete, ihr Austrittsvertrag sei der einzig mögliche.
Ein entscheidender Grund, weshalb May keinen Richtungswechsel riskierte, lag in ihrem Bestreben, auf keinen Fall den Zusammenhalt der Konservativen zu gefährden. Nebst der Umsetzung des Brexit-Entscheids ist dies das zweite Primat ihrer Politik: Die Tories dürfen nicht gespalten werden. Teilweise ist dies eine Folge ihrer fast schon intimen Beziehung zur Partei.
Denn für May sind die Tories kein Mittel zum Zweck: Laut Kabinettsministern und engen Bekannten, die das Nachrichtenportal «Politico» zitiert, stellt die Partei für sie eine Ersatzfamilie dar. Dass der bittere Streit um die Europafrage, den sich die Mitglieder dieser Familie seit drei Jahrzehnten liefern, zum endgültigen Bruch führt – wie es ein weicher Brexit tun könnte –, will die Premierministerin nicht zulassen. Die Konsequenzen für das Land scheinen dabei nebensächlich zu sein.
Mays Kuhhandel
In den vergangenen Wochen haben die zynischen Manöver ihren Höhepunkt erreicht. Anfang März versuchte May vergeblich, Labour-Abgeordnete in EU-skeptischen Wahlkreisen für ihren Deal zu gewinnen, indem sie armen Städten Transferzahlungen von 1,6 Milliarden Pfund versprach – eine vergleichbar mickrige Summe, die den sozialen Kahlschlag der vergangenen zehn Jahre kaum aufheben könnte. Danach appellierte May an die WählerInnen und behauptete, der Brexit-Stillstand sei einzig dem Widerwillen des Parlaments geschuldet; dann wiederum versuchte sie, die HardlinerInnen mit dem Zuckerbrot des eigenen Rücktritts zu locken: Sie sollten für den ungeliebten Deal stimmen, und als Geschenk würden sie die ungeliebte Premierministerin los – ein Kuhhandel.
Mays unflexible Brexit-Strategie konnte jedoch nicht verhindern, dass sie sich am Ende auf einen weichen EU-Austritt einstellen muss, oder zumindest auf einen langen Aufschub. Am Dienstag hat sie erstmals Bereitschaft signalisiert, die Opposition miteinzubeziehen – ein verspäteter und verzweifelter Hilferuf an Jeremy Corbyn, ihr aus der Patsche zu helfen, aber auch eine Anerkennung der Tatsache, dass der harte Brexit nicht realistisch ist. In konservativen Kreisen hat dies jedoch solche Empörung ausgelöst, dass schwer zu sehen ist, wie May eine Regierungskrise oder eine Spaltung der Tories vermeiden kann. Sie könnte sich entscheiden, selbst über die Klippe zu springen und Neuwahlen anzukündigen – das wäre auf jeden Fall der demokratischste Ausweg aus der Pattsituation.
Aber die Verfehlungen der letzten zwei Jahre haben ihren Schaden bereits angerichtet: Sie haben verhindert, dass die gesellschaftlichen Bruchlinien gekittet werden konnten. Auf beiden Seiten sind die Fronten verhärtet. Die ProeuropäerInnen halten zunehmend einen vollständigen Brexit-Stopp für die einzige Lösung, während die Brexit-AnhängerInnen auf einen harten Austritt drängen.
Am vergangenen Freitag haben sich Hunderte Brexit-Fans vor dem Parlament versammelt und die PolitikerInnen vor einer «Sabotage» des EU-Ausstiegs gewarnt. Darunter waren nicht nur Ukip-AnhängerInnen, sondern auch rechtsextreme Chaoten, die Politikerinnen und Journalisten bedrohten. Das Gerede vom «Willen des Volkes», den die Premierministerin umzusetzen behauptete – und darin von der Boulevardpresse gestützt wurde –, hat diesen aggressiven Ausbruch des Patriotismus begünstigt. Egal wie die Brexit-Saga ausgehen wird: Der wiedererstarkende Rechtsextremismus wird sich nicht so schnell bezwingen lassen.