Die Brexit-Szenarien: Ein gutes Stück Ratlosigkeit

Nr. 51 –

Nachdem die EU-Länder den Vertrag zu Grossbritanniens Austritt per Ende März gebilligt haben, liegt die Entscheidung beim Parlament in London. Wie geht es jetzt weiter? Ein Überblick.

Eine grössere Demütigung können sich die Brexit-HardlinerInnen nicht vorstellen. Ausgerechnet Irland droht ihren Traum zu zerstören: die kleine Nachbarinsel, die erste Kolonie Grossbritanniens, der ewige Untertan, belächelt und verachtet. Dass dieses Land den sauberen EU-Austritt der ehemaligen Imperialmacht verhindert, lässt manchen rechtskonservativen Tories den Kragen platzen. «Wir können den Iren schlichtweg nicht erlauben, uns so zu behandeln», sagte einer von ihnen gegenüber der BBC. Priti Patel, Theresa Mays ehemalige Ministerin für Internationale Entwicklung und glühende EU-Gegnerin, bemängelte kürzlich die Verhandlungsstrategie Londons, weil die Gefahr von Lebensmittelknappheit in Irland im Fall eines harten Brexit nicht als Druckmittel eingesetzt werde. Theresa May hätte also sagen sollen: Wenn ihr nicht spurt, hungern wir euch aus.

Die Ausraster der Brexit-AnhängerInnen, durchzogen von imperialnostalgischer Arroganz, haben einen offensichtlichen Grund: Ihre Wünsche sind endgültig mit der Realität kollidiert, und die Realität war härter. Der EU-Austritt, den sie gerne hätten, ist nicht möglich. Seit vielen Monaten hat sich die britische Regierung auf diesen Moment zubewegt, jetzt steckt der Brexit fest, einfache Auswege bieten sich kaum.

Knackpunkt Irland

Allerdings liegt das nicht an der Sturheit Irlands, wie die Brexit-AnhängerInnen behaupten, sondern an der Strategie der BritInnen: Sie können keinen Plan vorlegen, der eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland vermeidet. Damit das Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der Nordirlandkonflikt offiziell beigelegt wurde, eingehalten wird, dürfen hier keine Schlagbäume errichtet werden. Doch sollte hier im Zuge des Austritts der BritInnen eine EU-Aussengrenze entstehen, wären Grenzposten unumgänglich. Die Notlösung, auf die sich Brüssel und London geeinigt haben, der sogenannte Backstop, sieht einen vorübergehenden Verbleib Grossbritanniens in der Zollunion vor – und zwar, bis eine bessere Lösung gefunden ist.

Der Backstop ist auch der Hauptgrund, weshalb May die Unterstützung des rechten Flügels ihrer Partei verloren hat: Die Abgeordneten befürchten, dass Grossbritannien auf ewig in der Zollunion verbleiben müsste und der «richtige» Brexit nie vollzogen würde. Verzweifelt versuchte die Premierministerin letzte Woche, der EU Zugeständnisse abzugewinnen, mit denen sie ihre innerparteilichen GegnerInnen beschwichtigen könnte – vergebens. Eine Neuverhandlung sei ausgeschlossen, sagten EU-FunktionärInnen sowie der irische Premierminister Leo Varadkar.

So hat die Regierung mit der EU einen Vertragsentwurf ausgehandelt, der im Land kaum Zustimmung findet und den sie nicht durchs Parlament bringen kann. Die entscheidende Abstimmung im Unterhaus ist auf nächstes Jahr verschoben – entgegen allen Erwartungen hofft May noch immer, Brüssel zu Konzessionen bewegen zu können. Unterdessen schreitet die Zeit unerbittlich voran: In weniger als hundert Tagen kommt der Stichtag, dann wird Grossbritannien austreten.

Wie geht es weiter? Selbst unter Journalisten, Kommentatorinnen und Politikexperten, die eigentlich den Durchblick haben sollten, herrscht ein gutes Stück Ratlosigkeit. «Was wird mit dem Brexit passieren? Hilfe bitte!», twitterte Sunder Katwala, Direktor des Thinktanks British Future. Die Einschätzungen der PolitologInnen widersprechen sich zuweilen, etwa in Bezug auf die Befugnisse des Parlaments oder was die Möglichkeiten betrifft, einen chaotischen Austritt zu verhindern. Einige grobe Szenarien sind dennoch denkbar.

Ein zweites Referendum?

Zunächst könnten die ParlamentarierInnen abklären, ob das Unterhaus einem alternativen Brexit zustimmen würde. Im Gespräch ist immer wieder das Modell Norwegen, doch dafür fehlt wohl die Mehrheit. Die bevorzugte Option der Labour-Führung wären hingegen Neuwahlen. Jeremy Corbyn verspricht, einen besseren Deal aushandeln zu können, wobei er bislang eher vage Pläne vorgelegt hat, wie dieser aussehen könnte.

Die Opposition könnte Neuwahlen durch ein Misstrauensvotum gegen die Regierung erzwingen. Doch um zu gewinnen, ist die Unterstützung der zehn Abgeordneten der Democratic Unionist Party (DUP) nötig, jener erzkonservativen nordirischen UnionistInnen also, die bislang die Regierung gestützt haben. Noch vehementer als die Tories wehren sie sich gegen den Backstop, weil er einen Keil zwischen Nordirland und Grossbritannien treiben würde. Wenn sich bei diesen Parlamentsmitgliedern (MPs) die Überzeugung festigt, dass die Premierministerin keine besseren Konditionen aushandeln kann, könnten sie sich einem Misstrauensvotum anschliessen – und gemeinsam mit Labour, den LiberaldemokratInnen, den Grünen und der Schottischen Nationalpartei Theresa May stürzen.

Viele proeuropäische MPs in der Labour-Fraktion würden indes lieber einen anderen Weg gehen: ein zweites Referendum, das sogenannte People’s Vote. Im Unterhaus hat sich eine überparteiliche Koalition von «Remain»-AnhängerInnen gebildet, darunter auch einige Tories, die ein erneutes Plebiszit als einzigen Ausweg aus der Sackgasse sehen. Die Chancen, dass es dazu kommt, sind in den vergangenen Wochen deutlich gestiegen. Aber so einfach ist es nicht.

Die «Leave»-WählerInnen vermuten hinter einer zweiten Abstimmung ein durchsichtiges Manöver der Elite, den Brexit zu stoppen. Diese Bedenken könnten teilweise zerstreut werden, wenn Theresa May als Initiatorin aufträte: Sie, die sich zwei Jahre lang an der Umsetzung des Brexit abgearbeitet hat, steht nicht im Verdacht, insgeheim die ganze Sache abblasen zu wollen. Allerdings sagte die Premierministerin, dass sie sich nicht auf ein zweites Referendum einlassen werde, weil es einem Vertrauensbruch gegenüber den britischen WählerInnen gleichkäme.

Eine weitere Schwierigkeit ist der genaue Wortlaut der Frage, die auf dem Abstimmungszettel stehen soll. Die BefürworterInnen des People’s Vote plädieren für drei Optionen: Verbleib in der EU, Austritt mit Mays Deal oder Austritt ohne Deal. So würde jedoch das «Leave»-Votum auf zwei Optionen aufgespalten – Grossbritannien könnte EU-Mitglied bleiben, obwohl der Stimmenanteil weit geringer wäre als der «Leave»-Anteil von 2016. Kaum ein demokratischer Ausgang.

Im Dunst der Mythen

Unterdessen hoffen manche Brexit-Fans, dass alle Versuche, doch noch einen geregelten Austritt zu erreichen, am Ende scheitern. Dann würde Grossbritannien am 29. März 2019 ohne Nachfolgevertrag aus der EU gekippt. Dass das Land darauf überhaupt nicht vorbereitet ist und ÖkonomInnen plausible Szenarien vorlegen, in denen die britische Wirtschaft eine rasante Talfahrt antritt, stört sie nicht. Das Land werde «gedeihen und prosperieren», sagte Aussenminister Jeremy Hunt am Wochenende.

Es ist gerade die Notstandsidee, der die Brexiteers mit Begeisterung entgegenblicken. Werden auf einmal Handelsschranken errichtet und droht plötzlich eine Knappheit an Lebensmitteln und Medikamenten, würde sich Grossbritannien in der Rolle des alleinigen Kämpfers gegen einen scheinbar mächtigeren Feind wiederfinden. Wie Churchill gegen die Nazis. Oder der heilige Georg gegen den Drachen. Dieser wichtigste aller englischen Mythen habe bereits im Referendum von 2016 eine entscheidende Rolle gespielt, schrieb Autor James Meek kürzlich in der «London Review of Books». Der Antagonismus, den ein No Deal herbeiführen würde, gäbe den Brexiteers die Möglichkeit, den Mythos zu neuem Leben zu erwecken und den Nationalismus für die Einigung der gespaltenen Gesellschaft nutzbar zu machen.

Diese rechten IdeologInnen sprechen nicht für die Mehrheit der BritInnen. Als sich vor zwei Wochen knapp 1500 Protestierende beim Londoner Hyde Park einfanden, um unter der Ägide eines rechtsextremen Provokateurs gegen den «Brexit-Verrat» zu protestieren, taten sich wenige Kilometer entfernt fast zehnmal so viele AntirassistInnen zusammen. Manche kamen mit proeuropäischen Flaggen, andere mit Plakaten gegen Xenophobie und Faschismus. Auch einige linke Brexit-WählerInnen waren darunter. Es war ein deutliches Zeichen: Die progressiven Kräfte überlassen die Bühne nicht den rückwärtsgewandten EU-SkeptikerInnen, sondern kämpfen über die Brexit-Debatte hinaus für eine Gesellschaft, die allen Platz bietet.