Anschreiben gegen das drohende eigene Verschwinden: Ruth Schweikert dokumentiert in «Tage wie Hunde» ihre Krebserkrankung. «Ich sterbe nicht!»
Krankheit und Tod hatten in der Literatur schon immer einen festen Platz. Was sich in den letzten Jahren jedoch geändert hat, ist der Umgang mit den Diskretionszonen, der Grad der persönlichen Zurschaustellung, gleichgültig, ob es um das Sterben von Vater oder Mutter oder das eigene Siechtum geht – insbesondere im Fall einer Krebserkrankung. Was die Normalgesellschaft normalerweise hinter Spital- und Hospizpforten verschwinden lässt, rückt in der Literatur aus dem Bereich des Intimen und erscheint öffentlich verhandelbar. Mag sich die soziale Ungleichheit aufspreizen und breitmachen – vor dem grossen Gleichmacher Tod verliert sie ihre Bedeutung. Mit der existenziellen Grenzüberschreitung, die dem Tod eigen ist, geht aber auch eine Nivellierung im Formalen einher: Die Texte sind nunmehr gar nicht mehr oder nur notdürftig verschlüsselt, die Grenzen zwischen Reportage, autobiografischem Bericht und Prosa verwischt.
Von wegen «Büchelchen»
Zehn Jahre nach einer wahren Flut von literarischen Werken zum Thema Krebs, damals eingebettet in die grossen politischen Debatten um das Sterbenwollen und Sterbenlassen, stellt die Zürcher Schriftstellerin Ruth Schweikert ihr eindrückliches und sehr berührendes persönliches Krebs-«Tagebuch» vor, das viel mehr ist als das «Büchelchen», als das die Autorin es in vorweggenommenem Understatement bezeichnet. «Tage wie Hunde» ist ebenfalls kein Roman, im engen Sinne auch kein Krankenbericht, sondern ein facettenreich ausgeleuchteter Erzählraum, in dem die durch ein unvorhergesehenes, aber nicht unwahrscheinliches Ereignis eingeengten existenziellen Möglichkeitswelten eingefangen werden. Keine «Heldinnengeschichte» solle es sein, gibt Schweikert als Leseleitfaden mit, «nicht einmal eine richtige Geschichte mit Anfang und Ende, eine Recherche eher zu bestimmten Motiven; Fragmente und Erfahrungen». Aber von Beginn an habe sie gewusst, dass sie das «Krebsgefängnis», die neunmonatige chemotherapeutische Behandlung, nur schreibend überstehen würde.
Am Nachmittag des 16. Februar 2016 erhält Ruth Schweikert ihre Krebsdiagnose, und danach zerfällt ihr Leben in ein Davor und Danach. Sie steht vor einem Zürcher Café, wo sie verabredet ist, raucht eine Zigarette und wartet auf den alles entscheidenden Anruf der Ärztin. Immer wieder ruft sie diese Szene auf und diese zweite, dritte und vielleicht letzte Zigarette, ab der ihre Lebenszeit anders bemessen sein wird. Wie viele Sekunden dauert es, bis das Wasser im Spülbecken überläuft? Denn der Krebs, «triple negative breast cancer», ist äusserst aggressiv, «schnell und potent wie ich selbst».
Es beginnt der Kampf gegen das eigene Verschwinden. «Ich sterbe nicht!», so die trotzige Reaktion auf den Output der Suchmaschinen in ihrem Computer und die aufsteigenden Tränen, aber ist «Kampfbereitschaft die angemessene Haltung», Optimismus, positive Energie? Schweikert entscheidet sich dafür, den Tag der Diagnose zum Ausgangspunkt zu nehmen, ihre Alltagsgeschichte neu zu vermessen, die erinnerte Vergangenheit, die beängstigende («einmal Krebs, immer Krebs»), aber auch viel intensiver erlebte Gegenwart, unter Ausklammerung der Zukunft: «Und was, wenn ich schon wüsste, ich erlebe das Erscheinen dieses Büchelchens nicht mehr?»
Annäherung an den Vater
Formal auf sieben Tage einer Woche verteilt, setzt sie zu dieser Arrondierung an, die sich zweifach gliedern lässt: den Blick der Kranken auf die Welt und den der Welt auf die Kranke. Anders als früher nimmt sie nun die Menschen wahr, die an Krebs leiden wie sie, FreundInnen, Bekannte oder ganz Fremde wie die junge Frau im hellen Sommerkleid, der sie sagen möchte, dass sie vor einem Jahr auch so ausgesehen habe mit dem weissen Netz am Oberarm für den Katheter. Die Krankheit schafft eine unausgesprochene GenossInnenschaft im Triemli-Spital, wo Schweikert behandelt wird, unterwegs im Zug, in Paris oder London, wo sie sich Auszeiten gönnt. Sie ermöglicht aber auch eine vorsichtige Annäherung an die Eltern, vor allem den Vater, der in dieser Zeit stirbt und bis zuletzt um seine Autonomie ringt.
Andererseits kann sich die Kranke nicht wehren gegen den veränderten Blick, den die Welt auf sie richtet. Zugewandte Textnachrichten von fern lebenden FreundInnen und Bekannten, einfühlsam die einen, frappierend andere. «Nimmt man die Brust ab?», fragt jemand – diese Brust, die die Jugendliche nicht mochte, als sie wuchs, und die nun zum sorgsam zu Erhaltenden gehört. Der Glückwunsch zur neuen Frisur (Perücke nach der Chemo!) lässt sich ironisch wenden, so wie der Wunsch, einem gut aussehenden Arzt gefallen zu wollen, auch jetzt noch.
Eingetaktet in die Welt medizinischer Befunde, statistischer Wahrscheinlichkeiten, angezweifelter bildgebender Untersuchungen, selbstgewählter Therapien und Wohlfühlmassnahmen, versucht Schweikert, ein Stück Normalität zu behaupten. Sie macht sich Gedanken, wie der jüngste Sohn die Nachricht aufnimmt, unterrichtet, schreibt während eines Stipendienaufenthalts im beschaulichen Edenkoben an ihrem Buch, legt Rechenschaft über ihre widerstreitenden Gefühle ab: Scham, Angst und das Glück, manchmal zu vergessen. Begleitet wird sie dabei von der immerwährenden Frage aller Kranken: Womit habe ich das verdient?
Es sind die Kolleginnen und Schicksalsgenossen – Susan Sontag, aber vor allem Walter Matthias Diggelmann, Jörg Steiner oder Roger Willemsen –, die sie davon überzeugen, dass die Krankheit keine Strafe ist und «nicht die kleinste Botschaft hat (…), einfach nichts bedeutet, nichts!» Diggelmanns Gastbereitschaft gegenüber dem Tod mag sie zwar nicht folgen, doch sie schöpft erzählerische Inspiration aus den Lektüren: «Eine Geschichte verheimlicht das, was wirklich geschieht», zitiert sie den 2013 ebenfalls an Krebs gestorbenen Jörg Steiner.
Bilanzierung der Krankheit
Während sie sich also gegen das drohende Verschwinden stemmt, nimmt sie die Alltagsdinge um sich herum wahr, die tatsächlich allmählich abhandenkommen: Schnee, Wollmützen, Streusalz oder Schneekanonen, von denen sie sich vorstellt, dass sie zu Beginn des 22. Jahrhunderts nur noch hinter Panzerglas zu besichtigen sind. «Ausgestorben, ausgerottet», so wie vielleicht irgendwann auch der Krebs von der Bildfläche verschwindet und unheilbare Tumore nur noch Ausstellungsstücke sind.
Immer wieder bleiben Schweikerts Sätze in der Luft hängen ohne Punkt, weisen ins Offene. Sie wechselt Erzählhaltungen, vom Ich in die dritte Person, um Distanz zu dieser Frau mit fünf Söhnen und drei Fehlgeburten zu schaffen, die im Alter von 51 Jahren und 6 Monaten die Diagnose Brustkrebs erhielt, «den Knoten hatte sie selbst getastet, so lassen es die erhaltenen Quellen vermuten». Auch die Bilanzierung der Krankheit scheut sie nicht: 1600 Franken für die Perücke, 50 000 für die Behandlung, elf Versicherungsbeitragsjahre müssten dafür reichen. Die Gates-Stiftung, liest sie, veranschlagt nicht mehr als 1000 US-Dollar für ein Menschenleben.
Dass das Jahr 2016 für Schweikert nicht nur das Jahr der Krankheit wird, sondern auch eines des Erfolgs – gleich mehrere Preise werden ihr verliehen –, mag die Schriftstellerin als böse Ironie empfinden, doch «Tage wie Hunde» bestätigt einmal mehr jede Auszeichnung. Im Bemühen, das, was geschieht, in ein Bild zu fassen, erklärt sie den Sterbevorgang zur «umgekehrten Geburt», wissend, dass es nicht beschreibt, sondern abstrahiert und doch plastisch wirkt. «Wer oder was draussen in der Welt existierte, wird wenn er sie es stirbt, verschwindet, zerstört oder unzugänglich ist, nach innen genommen, wird zu Erinnerung, zu Erzählung.»
Veranstaltungen in Solothurn: Fr, 31. Mai 2019, 18 Uhr; So, 2. Juni 2019, 10.30 und 13.30 Uhr.
Ruth Schweikert: Tage wie Hunde. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2019. 198 Seiten. 32 Franken