Indien nach den Wahlen: «Die Fanatiker benutzen Modi»

Nr. 22 –

Narendra Modis BJP hat die sich über Wochen erstreckenden Wahlen am Ende deutlich gewonnen. Die Feministin Annie Raja über die erste Amtszeit des rechten Premiers, den Kampf gegen das Kastensystem – und den Kommunismus in Kerala.

Annie Raja in der Zürcher Buchbar Sphères: «Als Narendra Modi an die Macht kam, versprach er das Blaue vom Himmel. Aber Indiens Kernmentalität ist noch immer feudal und patriarchal.»

WOZ: Frau Raja, in der deutschen Zeitung «Die Welt» stand neulich, die Entwicklung in Indien sei vielversprechend. Die Wirtschaft wachse, die Reformen von Premier Narendra Modi zeigten Wirkung. So gesehen wäre ja die Wiederwahl Modis eigentlich ein Anlass zur Freude. Vermutlich aber sehen Sie das anders.
Annie Raja: Auf jeden Fall! Seit den neunziger Jahren verfolgt auch Indien eine neoliberale Politik, die exklusiv den Interessen der Konzerne folgt. So werden etwa die natürlichen Ressourcen systematisch der Bevölkerung genommen und den Konzernen übertragen. Diese Politik bestimmt seit etwa dreissig Jahren die Entwicklung des Landes. Doch als 2014 Modi an die Macht kam, hat sich die Lage noch weiter verschärft.

Inwiefern?
Zum Beispiel im Zuge der Demonetisierung. Eines Abends im Jahr 2016 trat Modi vor die Kameras und erklärte, ab dem nächsten Tag seien die 500- und die 1000-Rupien-Noten nicht mehr gültig. Es gab keine Diskussion im Parlament oder mit der indischen Zentralbank, nicht einmal das Kabinett war in diese Entscheidung involviert. In Indien werden aber vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts von mittleren und kleinen Unternehmen erwirtschaftet. Dieser ökonomische Sektor basiert auf dem Bargeldverkehr. Was passierte nach Modis Erklärung? Viele mittlere und kleine Unternehmen kollabierten natürlich.

Liberale Ökonominnen und Ökonomen argumentieren aber mit Wachstumszahlen, die man nicht einfach wegdiskutieren kann.
Das stimmt. Allerdings kommt es darauf an, wie man Wachstum definiert. Zählt man auch den Wohlstand der breiten Bevölkerung dazu – oder nur die Profite der Konzerne und Aktienmärkte? Fakt ist: Die Wirtschaft in Indien hat sich verändert, ebenso das Verständnis von Produktion. Inzwischen scheint es das vorherrschende Ideal zu sein, möglichst viel Wohlstand anzuhäufen, ohne dabei im eigentlichen Sinn zu produzieren – allein durch Aktivitäten auf dem Finanzmarkt.

Modis Reformen sind demnach nicht erfolgreich?
Als Modi an die Macht kam, versprach er das Blaue vom Himmel. Die Jugendarbeitslosigkeit ist ein gewaltiges Problem, und so verkündete er, jährlich zwei Millionen neue Jobs schaffen zu wollen. Er hat dieses Versprechen nicht nur nicht gehalten, sondern durch die Demonetisierung sogar die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört. Man sollte im Fall Indiens also nicht von einem «jobless growth» sprechen – einem Wirtschaftswachstum, bei dem keine neuen Arbeitsplätze entstehen –, sondern von einem «jobloss growth», einem Wachstum, das sogar auf Kosten von Arbeitsplätzen geht.

Wird Indien Ihrer Meinung nach in den westlichen Medien verzerrt wahrgenommen?
In Indien sind bis auf wenige Ausnahmen alle Medien in den Händen von Konzernen und berichten deren Interessen entsprechend. Was die internationalen Medien angeht, stimmen diese wiederum gerne in die gleiche Melodie ein. Das ist auch nicht verwunderlich, schliesslich sind jene ebenfalls oft in der Hand grosser Unternehmen, die global agieren und ökonomische Interessen verfolgen.

Welche Kräfte bestimmen ausser dem Neoliberalismus die soziale Realität des Landes?
Der andere Faktor ist sicherlich die politische Kraft, die hinter Modi steht: seine Partei, die hindunationalistische BJP, aber wichtiger noch: die Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS. Sie bestimmt Modis Agenda. Das ist eine Organisation fanatischer Hindus, deren erklärtes Ziel es ist, Indien bis spätestens 2025 in eine reine Hindunation zu verwandeln – was ja nicht mehr weit in der Zukunft liegt.

Wie lässt sich der Einfluss dieser Organisation erklären?
Als Modi an die Macht kam, erklärte die RSS, dass nun endlich ein Hindu regieren würde – obwohl auch die vorherigen Regierungschefs Hindus waren. Was macht Modi also besonders? Er ist Mitglied der RSS. Sie nutzt die Regierung für ihre Ziele. Unmittelbar nachdem Modi an die Macht kam, haben die Angriffe auf die muslimischen und die christlichen Minderheiten angefangen. Im Fall der Muslime etwa, weil man ihnen vorwarf, Rindfleisch zu essen. Das Ziel der Fanatiker ist, Minderheiten einzuschüchtern, damit diese stillhalten und sie so ihre Agenda durchsetzen können.

Sie sprechen sogar von faschistischen Tendenzen.
In den vergangenen Jahren wurden Dutzende Muslime von Lynchmobs abgeschlachtet. Ausserdem liessen die Behörden den Viehhandel verbieten. Was natürlich auf die muslimische Gemeinschaft abzielt, da diese vom Handel mit Vieh lebt, etwa von der Lederfabrikation. Ziel der Regierung ist, die Lebensgrundlage der Minderheiten zu zerstören – um auf diese Weise Muslime zur Konvertierung zu zwingen.

Sie dagegen sind als ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei eine Stimme der Opposition. Sie arbeiten in Delhi, stammen aber aus Kerala, wo der Kommunismus recht stark ist.
Sehr stark sogar!

Das ist doch bemerkenswert; in anderen Weltregionen hat der Kommunismus zuletzt nicht gerade an Bedeutung gewonnen.
Wir waren in drei Bundesstaaten sehr stark – Westbengalen, Tripura und Kerala. In Westbengalen und Tripura mittlerweile nicht mehr, aber in Kerala sind wir immer noch sehr bedeutend.

Wie erklärt sich das?
Kerala ist der historisch erste Fall, in dem eine kommunistische Partei durch Wahlen an die Regierung gekommen ist. Seitdem gewinnen mal wir Kommunisten die Wahlen, dann wieder die Opposition. Für unsere Politik spricht aber, dass, auch wenn wir die Macht verlieren, die neue Regierung in der Regel unsere Reformen nicht wieder rückgängig macht. Weil sich diese an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren – wie etwa Zugang zu sauberem Wasser oder Bildung.

Welche Position vertreten Sie gegenüber der Religion?
Innerhalb unserer Partei spielt die Kasten- und Religionszugehörigkeit keine Rolle – wir haben Mitglieder aus allen Kasten und aller Religionen. Allerdings haben wir zu lange das Kastensystem nicht als soziale Realität anerkannt, sondern uns stets nur als Partei des Klassenkampfs begriffen. Erst in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren haben auch wir in der Kommunistischen Partei verstanden, dass die Leute nicht nur wegen ihrer Klassen-, sondern auch wegen ihrer Kastenzugehörigkeit leiden. Inzwischen haben wir uns zivilgesellschaftlichen Organisationen angenähert, die sich in der Kastenfrage engagieren.

Ist das ähnlich wie im Westen, wo manche die sogenannte Frauenfrage lange als blossen Nebenwiderspruch abtaten?
Letztlich handelt es sich in beiden Fällen um politische Fehler. Deswegen schätze ich Lenin. Er sagte klar: Solange die Frauen in der Küche bleiben müssen, kann das keine wirkliche Revolution sein! Er war ein wahrer Kommunist. Die Parteiführungen in Europa oder Asien sollten sich fragen, wie viele der Spitzenposten bei ihnen mit Frauen besetzt sind. Da geben noch immer Chauvinisten den Ton an.

Wie ist das in Ihrer Partei?
Das ist bei uns genauso wie überall. Deswegen kämpfen wir intern für eine bessere Repräsentation der Frauen. Wenn ich das anspreche, bekomme ich zu hören, ich sei arrogant. Aber ich erwidere dann: Das mag sein, aber du bist nur ein halber Kommunist, während ich immerhin zu zwei Dritteln Kommunistin bin. Wir haben die Geschlechterverhältnisse nie als wirkliches Problem begriffen, deswegen haben wir wohl auch weniger Frauen als Männer in der Partei. Man tut, als ob man die treibende Kraft für die Sache der Frauen wäre, aber ermöglicht es den Frauen nicht, selbst ihre Stimme zu erheben.

Indien gilt als eines der gefährlichsten Länder für Frauen.
Die Alphabetisierungsquote bei Frauen ist sehr tief, die Arbeitslosigkeit unter Frauen ist ein grosses Problem. Dazu kommt, dass 96 Prozent der arbeitenden Frauen im informellen Sektor tätig sind und keinerlei offiziellen Status als Arbeiterinnen haben. Und obwohl der indische Kapitalismus inzwischen grenzüberschreitend agiert, ist die feudale und patriarchale Mentalität erhalten geblieben oder hat sich sogar intensiviert.

Haben die Globalisierung und das Internet nicht auch einen positiven Effekt – gerade auf das Denken der Jüngeren?
Das mag sein. Aber die Kernmentalität ist immer noch feudal und patriarchal. Frauen werden als Objekte betrachtet, über die Männer verfügen können. Modi hatte bei seiner Wahlkampagne 2014 versprochen, dass er der Gewalt gegen Frauen ein Ende bereiten würde. Aber was ist in den letzten fünf Jahren geschehen? Im September wurde in Kaschmir eine achtjährige Muslimin nach einer Gruppenvergewaltigung ermordet – in einem Hindutempel. Lokale BJP-Vertreter solidarisierten sich anschliessend sogar mit den Tätern. Die Gewalt gegen Frauen steigt. Und eine Ursache dafür liegt darin, dass der Premier und die Regierungspartei solche Taten verurteilen sollten – aber nichts dergleichen passiert. Zu schweigen heisst, Zustimmung zu erteilen.

Annie Raja ist führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Indiens und Generalsekretärin der National Federation of Indian Women. Dieses Jahr war sie Hauptrednerin an der 1.-Mai-Kundgebung in Zürich.