«Roads»: Halbstark durch Europa
Ein junger Engländer und ein geflüchteter Kongolese schlagen sich zusammen von Tanger bis nach Calais durch. Der neue Film von Sebastian Schipper wirft drängende migrationspolitische Fragen auf. Leider fehlt ihm der Mut, sie zu Ende zu denken.
Eigentlich ist es der Fussball, der in diesem Film die Freundschaft stiftet. Und das, obwohl sich in «Roads» von Sebastian Schipper zwei Fans verfeindeter Klubs gegenüberstehen: Gyllen (Fionn Whitehead) ist Fan von Arsenal, William (Stéphane Bak) trägt ein Chelsea-Trikot. Das sind nicht die einzigen Gegensätze zwischen den beiden. Der siebzehnjährige Engländer Gyllen ist mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Marokko in den Ferien, der gleichaltrige William stammt aus dem Kongo und will von Tanger aus nach Europa, um seinen Bruder zu finden.
Nach einem Streit mit seinen Eltern hat Gyllen kurzerhand das Luxuswohnmobil seines Stiefvaters gekapert. Er will damit zu seinem biologischen Vater nach Frankreich, doch schon im Hafen von Tanger gibt der Motor den Geist auf. William bringt ihn wieder zum Laufen. Es ist die Stärke dieses Films, dass er das erwartete Abhängigkeitsverhältnis zwischen papierlosem Geflüchteten und privilegiertem Ausreisser ständig umkehrt.
Faible für Männergemeinschaften
Nachdem William dem Wohlstandskind Gyllen ein weiteres Mal aus der Patsche geholfen hat, rollen sie zusammen los. Unterwegs gabeln sie den viersprachig fluchenden Hippie Luttger (herrlich durchgeknallt: Moritz Bleibtreu) auf, der im Gegensatz zu ihnen einen Führerschein hat. Abgesehen davon verfolgt er eigene Interessen in Form eines kleinen braunen Haschpäckchens. Das ungleiche Trio schafft es dennoch über die marokkanisch-spanische Grenze, und das migrationspolitische Roadmovie ist lanciert.
Regisseur Sebastian Schipper hat ein Faible für solche Männergemeinschaften. Schon in seinem Debütfilm «Absolute Giganten» (1999) wie auch in seinem letzten Spielfilm «Victoria» (2015) standen Halbstarke im Zentrum. «Victoria» bestand aus einem einzigen 140-minütigen Take und entwickelte dabei einen ausserordentlichen Sog. Ähnlich zügig, wenn auch technisch weniger ausgefeilt, zieht uns «Roads» hinein. In unaufdringlichen Bildern zeigt Kameramann Matteo Cocco das harmonische Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller. Der flirrende Soundtrack von The Notwist und der ständige Wechsel der Fortbewegungsmittel geben einem gar das Gefühl, selbst mit den Jugendlichen unterwegs zu sein.
Im Auge des anderen
In einer ersten nachdenklichen Szene wird sich der Film dann seiner eigenen Thematik bewusst. Die beiden Protagonisten versuchen sich in einem antirassistischen Suggestivspiel: Gyllen schliesst die Augen, das Bild wird schwarz, und William sagt: «Hip-Hop-Star.» Wir blicken mit Gyllen auf und sehen das schwarze Stereotyp im Gegenüber. Es folgen: Kindersoldat, Fussballspieler, erster schwarzer Mann auf dem Mond, Jesus. Dann beschreibt sich Gyllen als Boybandmitglied, Rassist, Dartspieler und Missbrauchsopfer. Die Szene demonstriert eindrücklich die Macht des Kinos: Aus Sprache und Bildern entsteht der Anschein von Wirklichkeit. Gleichzeitig sind wir damit im politischen Kernproblem von «Roads» angekommen. Schliesslich sind rassistische Zuschreibungen eben gerade nicht in beide Richtungen gleichermassen wirkmächtig.
Der Film traut sich, komplexe Themen anzugehen, was ihm teilweise ganz gut gelingt. Zum Beispiel, als die beiden an einem französischen Provinzimbiss von ein paar Einheimischen angepöbelt werden und Gyllen sich empört wehrt. William hingegen macht ihm klar, dass er mit seiner Hautfarbe und seinem Status seine Würde nicht in gleichem Mass verteidigen kann.
Freundschaft solls richten
In der zweiten Hälfte von «Roads» schauen wir Gyllens moralischer Charakterbildung zu: Soll er Geflüchteten über die spanisch-französische Grenze helfen? Was kann er angesichts der himmelschreienden Zustände in den Lagern um Calais tun? Das sind drängende Fragen, aber Gyllen reagiert in all diesen Situationen merkwürdig passiv. Williams Lage hingegen ist viel komplizierter. Doch der Film verliert sie zusehends aus dem Blick. Stattdessen reicht er uns Erklärungen für Gyllens Familienchaos nach.
Der «Süddeutschen Zeitung» sagte Regisseur Schipper, sein Film laufe auf keine politische These hinaus: «Ausser dass wir zusammenhalten müssen. Im konkreten Fall, in konkreten Situationen – eben wie meine Hauptfiguren.» Er hat recht und beschreibt damit doch genau das Kernproblem von «Roads». Sein Film wirft zwar spannende migrationspolitische Fragen auf, doch statt eine eigene Haltung dazu zu entwickeln, versucht er, sie in individueller Zwischenmenschlichkeit abzufedern. Dieser fehlende politische Mut ist selbst der Binsenwahrheit von der völkerverständigenden Freundschaft nicht dienlich. Denn im eindrücklichen Setting des realen Calais wirkt sie nicht nur kitschig, sondern geradezu anmassend.
Roads. Regie: Sebastian Schipper. Deutschland 2019