Berlinale: Vom roten Terror zur weissen Wellnessfolter
Deutschland, kein Sommermärchen: An den Filmfestspielen in Berlin vertieft sich ein junger Franzose in den deutschen Terrorismus, und Andreas Dresen fühlt der Wendejugend den Puls.
«Die Demokratie ist das kleinste aller Übel.» Da sitzen sie zusammen am Tisch, der Rainer Werner Fassbinder und seine Mutter Liselotte Eder, die beiden haben sich in Rage geredet über die Demokratie und den Terror und die Staatsgewalt, und als sie allmählich ermattet sind von ihrem Disput, sagt die Mutter zum Sohn: «Das Beste wäre so ein autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und lieb.»
Wir sind bei Fassbinder in seinem Film «Deutschland im Herbst» (1978). Das heisst, nein, eigentlich sind wir in einem neuen Dokumentarfilm, der allein aus Archivbildern eine Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) montiert. «Une Jeunesse allemande» nennt der Franzose Jean-Gabriel Périot seine Spurensuche, die an der Berlinale die Sektion Panorama eröffnete. Es ist ein historisches Patchwork, das mit dem Kino beginnt und auch im Kino endet, eben bei dieser Szene von und mit Fassbinder.
Das hat durchaus seine Logik, weil sich einige Biografien späterer RAF-Mitglieder ja zunächst übers Kino kreuzten: nämlich an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, die 1966 gegründet wurde, um die schwächelnde deutsche Filmwirtschaft mit Nachwuchs zu versorgen. Dieser Nachwuchs hatte dann allerdings zum Teil ganz anderes im Sinn, und die ganze Ironie dieser Konstellation bündelt sich in der offiziellen Eröffnungsrede, die Regisseur Périot in seinen Film einbaut: Da begrüsst Willy Brandt, damals Bürgermeister von Berlin, mit paternalistischen Worten den ersten Jahrgang der neuen Filmschule – und unter den Studierenden sitzt unter anderem ein gewisser Holger Meins.
Der Traum von der Revolte
Das Bezwingende an diesem ersten Teil von «Une Jeunesse allemande» ist, dass Périot die Geschichte dieser Generation anhand ihrer eigenen Bilder erzählt. Dazu gehören frühe TV-Auftritte von Ulrike Meinhof, die in einer grauen Herrenrunde in bestechender gedanklicher Schärfe über die erodierte Glaubwürdigkeit der Nazigeneration referiert. Périot findet den Takt jener Zeit aber auch in Spielfilmen von Klaus Lemke oder Peter Zadek, in Meinhofs Fernsehfilm «Bambule» oder unvollendet gebliebenen Schulfilmen von Holger Meins und anderen. Er zeigt so, wie der Film als Proberaum für die Revolte bespielt wurde – auch wenn es manchmal nur ein «Farbtest» ist, entstanden im Rahmen eines Kameraseminars an der Filmakademie: Da rennt, wie in einem Stafettenlauf, ein junger Mensch nach dem anderen mit einer wehenden roten Fahne durch die Strassen von Berlin.
Da zeigte sich der Traum von der Revolte noch verspielt, als formales Experiment. Die Kamera wurde als politische Waffe in Anschlag gebracht. Sowie der Terror zum neuen Medium wurde, wurde die Kamera als Waffe überflüssig: Filme waren dann nicht mehr nötig – und da stösst auch Jean-Gabriel Périots Konzept an seine Grenzen. Weil die entsprechenden Bilder fehlen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Perspektive zu wechseln und den Rest der Geschichte über die Reaktion von Medien und Staat zu erzählen. Die Montage verengt sich dabei fast zwangsläufig zur Nacherzählung historischer Ereignisse.
Wie aber kommt ein junger Franzose überhaupt dazu, einen Dokumentarfilm über die RAF zu machen? Daran sei Fassbinder schuld, sagte Regisseur Jean-Gabriel Périot in Berlin. Alles habe damit angefangen, dass er «Deutschland im Herbst» gesehen, aber nichts davon verstanden habe. Sein Dokumentarfilm sei letztlich vor allem sein persönlicher Versuch, Fassbinder zu verstehen. Mag das auch ironisch gefärbt sein, so ist das doch «très français»: Da dreht einer einen Dokumentarfilm über die Entstehung der RAF aus dem Geist einer rebellischen Jugend, aber eigentlich will er damit nur das Kino besser verstehen.
Unerwartet knallig
Eine Generation später: wieder deutsche Jugend, aber unter ganz anderen Vorzeichen. Wieder fangen wir im Kino an, aber hier ist der Saal abgewrackt, und Filme laufen schon längst keine mehr. So beginnt «Als wir träumten», Andreas Dresens Verfilmung des gleichnamigen Wenderomans von Clemens Meyer, die an der Berlinale im Wettbewerb läuft. Der Film spielt in Leipzig nach der Wende, mit gelegentlichen Rückblenden in die Kindheit davor. Vier Generationen haben sich verbündet zu diesem Porträt einer Jungsclique um die Wendejahre: Wolfgang Kohlhaase (83) hat den Roman von Clemens Meyer (37) in ein Drehbuch verwandelt, und Regisseur Dresen (51) dirigiert fünf Jungschauspieler, die allesamt noch gar nicht auf der Welt waren, als die Mauer fiel. Mittendrin im deutschen Ensemble: der Zürcher Joel Basman, geboren im Jahr eins nach der Wende.
Den episodischen Drive der Vorlage übersetzt Dresen in ein pulsierendes Zeitbild, wie man es von ihm, dem grossherzigen Naturalisten des deutschen Kinos, so knallig nun wirklich nicht erwartet hätte. Dabei wird hier nicht einfach eine historische Schwelle nach den Bedürfnissen des Ausstattungskinos musealisiert. Nein, «Als wir träumten» zeigt den verzweifelten Übermut einer Jugend, die über dem Abgrund einer Zukunft tanzt, der vor ihr klafft. Besinnungsloser Vandalismus geht Hand in Hand mit nachbarschaftlicher Fürsorge für betagte Frauen, und die Selbstvergessenheit, die die Technomusik verheisst, ist stets gefährdet durch die Schlägertrupps der Neonazis.
Die neue Zeit jedenfalls, die angebrochen ist, hat nicht auf die Jungs gewartet, die hier durch ein Leben taumeln, von dem sie noch nicht wissen, was es für sie bereithält. Sie träumen davon, DJ oder Boxer oder Reporter zu werden, stattdessen enden sie als Dealer oder als Junkies. Oder sie landen im Jugendknast, und als sie wieder draussen sind, sehen sie ihrer Jugendliebe zu, wie sie sich im Stripclub verdingt. Wie in «Une Jeunesse allemande» – und doch ganz anders – sieht man hier den Träumen dabei zu, wie sie kaputtgehen. Aber immer noch besser, man hat welche, die überhaupt kaputtgehen können, als dass man sich das Träumen ganz abgewöhnt hat. Oder wie Drehbuchautor Kohlhaase das Ende der Jugend trocken auf den Punkt brachte: «Da will man wissen, was die Welt kostet. Und dann merkt man, dass die Welt schon verkauft ist.»
Rituale der Selbstoptimierung
Nochmals eine Generation später gilt das erst recht: wieder in Berlin, in Sebastian Schippers Film «Victoria». Da gerät eine junge Spanierin zu später Stunde an ein paar Partybuben, lässt sich von diesen zu einem Banküberfall mitschleppen, der sogar klappt – bis dann doch alles schiefgeht. Hier ist die Jugend im Europa der Austerität angekommen: Was kann man noch verlieren, wenn es nichts zu gewinnen gibt? Wenn dieser mitreissende Berliner Nachtfilm aber einen Preis gewinnen wird, dann deshalb, weil «Victoria» ein filmischer Hochleistungsakt unter erhöhtem Risiko ist: Schipper hat ihn in einer einzigen Einstellung gedreht, 140 Minuten ohne Schnitt. Dreimal hat er das gedreht, der dritte Take ist schliesslich der Film.
Und wer an der Berlinale nach einer neoliberalen Pointe zu all diesen Träumen suchte, die früher oder später entsorgt werden, konnte sie in «Freie Zeiten» finden, einem schlichten, kleinen Dokumentarfilm über die Sachen, die wir heute so gemeinsam machen, wenn wir nicht arbeiten: Wir arbeiten an uns selbst und nennen es Freizeit. Da ist die Berliner Mädchenband, die in ihrem Übungsraum auf sympathisch undisziplinierte Weise mit dem eigenen Ungenügen hadert. Da ist die Freiluftgruppe, die sich zum organisierten Lachen trifft. Da sind die Selbsthilfegruppen für Männer, die an ihrer Autorität, und für Frauen, die an ihrem Gewicht arbeiten. Und immer wieder: Yoga und andere Mikroregimes des Wohlbefindens.
Die Situationskomik, die die deutsche Regisseurin Janina Herhoffer dabei findet, ist zwar oft etwas wohlfeil. Aber was dieser Film leistet, ist ein Panorama von alltäglichen Ritualen der Selbstoptimierung – bis zu dem Punkt, da man sich nicht mehr ganz sicher ist, ob das, was wir sehen, noch Wellness ist oder schon weisse Folter aus freien Stücken. «Ich weiss schon», sagt die Yogalehrerin bei einer besonders strapaziösen Übung, «es gibt angenehmere Sachen.» Und dann sehen wir einen älteren Herrn, der mit verschnürten Beinen flach auf einer Wolldecke liegt, und aus dem Off erklingt der Entspannungsbefehl: «Auch die Augenbrauen entspannen, abwärts und auseinander.»
Da haben wir ihn, den autoritären Herrscher, von dem bei Fassbinder die Rede war, ganz gut und ganz lieb. Es ist die Yogalehrerin.
«Als wir träumten» kommt im April in die Kinos.
Terrence Malick : Im Schaumbad des Predigers
Jetzt rhapsodiert er wieder. Eine schöne Frau lässt ihre zarten Finger durch kristallklares Wasser gleiten, dazu haucht die Stimme eines berühmten Schauspielers: «Oh, life!» Das muss ein Film von Terrence Malick sein, dem ätherischen Evangelisten des US-Autorenkinos.
So ist es: Der Film heisst «Knight of Cups» und ist Malicks jüngster Versuch, die ästhetischen Eigenschaften von Werbespot, Youtube und «Musenalp» in einem neuen Transzendentalismus des Kinos zu versöhnen. Oder wie es einmal in diesem Bilderreigen heisst: «Bruchstücke eines Lebens, die nie zusammenfinden, einfach verstreut dort draussen.» So könnte man auch das poetische Programm von «Knight of Cups» zusammenfassen, der an der Berlinale im Wettbewerb läuft.
Die zarten Hände gehören Freida Pinto, der berühmte Schauspieler ist Christian Bale. Der war einst der «American Psycho», zuletzt war er Moses, jetzt spielt er eine Kreuzung aus beiden. Ein Traumwandler im Sumpf der weltlichen Genüsse. Ein schweigsamer Ritter im verspiegelten Käfig der Postmoderne. Ein Suchender, dem im hedonistischen Exzess von Hollywood der Sinn für die wahren Werte abhandengekommen ist. Cate Blanchett, Natalie Portman und Freida Pinto spielen die Frauen, die seinen Weg säumen, aus dem Off begleitet uns eine ewige Predigt von Selbstvergessenheit und Besinnung, von Selbstverlust und Läuterung. Und alles ist eingeseift von diesem Schaum der keimfreien Assoziation, der seit «The Tree of Life» (2011) als künstlerische Handschrift von Malicks Spätwerk gelten darf.
Manche nennen das lyrisch. Aber wo der Film die Scheinwelten des Glamours vorführt, ist das etwa so tiefgründig, wie wenn Theodor W. Adorno in einer Freikirche gelandet und dort dement geworden wäre. Und wenn sich unser einsamer Ritter mit schönen Frauen in der Kunst der Ausschweifung übt, wirkt das bei Malick so sündhaft wie ein Kindergeburtstag.
Aber vielleicht tun wir dem Regisseur da unrecht, denn das ist das Schöne an diesem Film: Die Bilder von Kameramann Emmanuel Lubezki widerlegen immer wieder den Sermon, den der Erweckungsprediger Malick ihnen unterlegt. Da raunt es von einer Perle, die man nur im Licht in den Augen der Mitmenschen finden könne. Aber die Kamera kann sich nicht sattsehen am Licht, wie man es wohl nur in teuren Villen finden kann. Oder sie versenkt sich in den Anblick einer Frau, die bei Nacht nackt im fluoreszierenden Licht eines Pools badet. So predigt dieser Film zwar die spirituelle Besinnung, aber die Transzendenz entdeckt er dann doch in den irdischen Dingen.
Florian Keller
Nachtrag vom 19. Februar 2015 : Im Taxi durch Teheran
«Du bist gar kein Taxifahrer», sagt einer der Fahrgäste im Film einmal. Stimmt: Am Steuer sitzt Jafar Panahi, der Filmregisseur, der keiner mehr sein darf, seit er 2010 von einem iranischen Gericht zu zwanzig Jahren Arbeitsverbot verurteilt wurde. Doch der 54-Jährige dreht unverdrossen weiter, behauptet die Freiheit der Kunst auch dort, wo der Raum immer enger wird. Sein neuster Film, an der Berlinale soeben mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, spielt in einem Taxi, und so heisst er auch: «Taxi». Der Regisseur steuert darin durch Teheran, während Fahrgäste zu- und wieder aussteigen – ein Roadmovie als Kammerspiel, ein Gesellschaftspanorama auf engstem Raum.
In der Schweiz kommt «Taxi» voraussichtlich im Herbst ins Kino, im Iran könnte es noch länger dauern. Immerhin: In einem Interview mit der iranischen Agentur Irna wünscht sich Panahi, dass sein Film auch in seiner Heimat in die Kinos findet: «Die Verantwortlichen verstecken sich hinter politischen Mauern und sagen nicht, dass unsere Filme nie die Genehmigung erhalten haben, in iranischen Kinos gezeigt zu werden.»
Florian Keller