Extreme Architektur: Sicherheitszellen für Murmeltiere

Nr. 28 –

Barrikaden und Schweizer Bunker, bombardierte Flüchtlingslager und Gated Communities. «War Zones», ein Magazin der ETH Zürich, analysiert Architektur im Kriegszustand.

Wo das Überleben noch am ehesten gelang: «The Siege of Sarajevo», Survival Map 1992–1996. Foto: FAMA Collection

Welche Rolle spielen Architektinnen und Architekten auf Kriegsschauplätzen? Welche Auswirkung hat ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis auf den Städtebau, und wie verändern sich die Wohnräume in militärisch besetzten Gebieten? Die algerische Architekturhistorikerin Samia Henni hat in «War Zones», einem Magazin des ETH-Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (GTA), zwölf Autorinnen und Autoren zusammengebracht, die solche Fragen auf unterschiedliche Art und Weise beleuchten. Mit ihrer Auswahl richtet Henni das Augenmerk auf Zusammenhänge zwischen Architekturgeschichte, Städteplanung, kolonialistischen Praktiken und Militäroperationen der Gegenwart.

Die Beiträge reichen von der Bunkerkultur in der Schweiz über den Barrikadenbau in Lahore bis zum Wiederaufbau von zerbombten Flüchtlingslagern im Libanon. Neben renommierten ForscherInnen wie dem französischen Architekturhistoriker Jean-Louis Cohen kommen im Heft auch unbekannte junge ArchitektInnen wie Ayesha Sarfraz und Arsalan Rafique aus Lahore oder die Historikerin Asja Mandic aus Sarajevo zu Wort. Henni, während des Bürgerkriegs in Algier aufgewachsen, studierte in ihrer Heimatstadt sowie in Mendrisio, Rotterdam und Zürich Architektur und lehrt heute an der Cornell University in Ithaca. 2017 publizierte sie ebenfalls beim GTA-Verlag «Architecture of Counterrevolution. The French Army in Northern Algeria», ein Buch über die Auswirkung der französischen Militärstrategie während des Algerienkriegs auf Städtebau und Raumplanung im Maghrebstaat.

Apokalypse berechnen

«Stellen Sie sich eine Nation mit Sicherheitszellen in jedem Haus vor.» Für «War Zones» zeichnet die Schweizer Historikerin Silvia Berger Ziauddin ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Zivilverteidigung und Sicherheitsdenken anhand der Geschichte der Schweizer Atombunker nach. In ihrem Beitrag «Calculating the Apocalypse» geht es um Murmeltiere, die dem Schweizer Zivilschutz als Werbeträger für Bunkerbau herhalten mussten, aber auch um die enge Zusammenarbeit der Schweiz mit US-amerikanischen Spezialisten, als es darum ging, Baukriterien für Atomschutzbunker festzulegen. Zwischen 1963 und 1970 verdoppelte sich die Zahl dieser Atombunkerbauten in der Schweiz von 50 000 auf 100 000. 2006 erreichte die Schutzrate 114 Prozent: Es sind also mehr Schutzplätze als Einwohnerinnen und Einwohner vorhanden.

Bereits in den siebziger Jahren schwang sich die Schweiz zur internationalen Bunkerexpertin hoch. Da hierzulande keine Versuchsanlagen erstellt werden konnten, errechneten Experten die Wirtschaftlichkeit von Bunkerbauten aufgrund von Investition und Schutzwirkung, was schliesslich zur Basis der staatlich geförderten Bunkerbauprogramme wurde.

Aber Mitte der siebziger Jahre bremsten Wirtschaftskrise und Ölschock den Bunkerbau im Inland. Nun brachte die Schweizer Bunkerindustrie ihr Know-how als «Superpower Underground» ins Ausland, indem sie an internationalen Zivilschutzmessen auftrat. Bekanntermassen deckten sich auch Potentaten wie Muammar al-Ghaddafi oder Saddam Hussein bei den Schweizern mit Bunkerbautechnologie ein, und bis heute sind Schweizer Firmen auf dem internationalen Markt führend.

Überwachungstürme in Lahore

Ihren Fokus auf Sicherheitsbauten der Gegenwart legen die beiden pakistanischen ArchitektInnen Ayesha Sarfraz und Arsalan Rafique. Sie haben die in den letzten Jahren entstandenen Sicherheitsbauten, Barrikaden und Überwachungstürme in der Mall von Lahore, jener 6,5 Kilometer langen Hauptverkehrsader der Stadt, analysiert. An der Mall liegen zahlreiche öffentliche Gebäude, Unis, Museen und religiöse Bauten. Sie ist zudem zentraler Ort für politische Kundgebungen und öffentliche Proteste. In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es an der Mall aber auch immer wieder Bombenanschläge mit vielen Todesopfern und bewaffnete Attacken. Sarfraz und Rafique zeigen in ihrem Artikel unter anderem auf, wie die staatlichen Sicherheitsmassnahmen Bürgerinitiativen zur Folge haben, die neue «Gated Communities» schaffen. Diese wiederum schliessen ganze Bevölkerungsgruppen aus, was die soziale Spaltung in der Stadt fördert.

Die bosnische Historikerin Asja Mandic hingegen kehrt in ihrem Artikel zurück in die Zeit der Belagerung Sarajevos während des Bosnienkriegs zwischen 1992 und 1996 und beschreibt Zerstörung und Niedergang der städtischen Infrastruktur. Mandic stützt sich dabei unter anderem auf den «Sarajevo Survival Guide», eine Art «Guide Michelin», der in den ersten beiden Jahren der Belagerung entstand und aufzeigte, wie man in Sarajevo ohne Transportmittel, Hotel, Taxi, Telefon, Essen, Shops, Heizung, Wasser, Information und Elektrizität überlebte – oder starb.

Illustriert wird Mandics Artikel von einer zur selben Zeit entstandenen «Survival Map», die den Belagerungsring um die Stadt mit allen Waffentypen sowie die Gefahrenzonen mit den Positionen von Heckenschützen aufzeigt. Es sind solche Illustrationen, die in Zusammenarbeit mit dem GTA-Archiv zusammengetragen wurden, die «War Zones» noch lesenswerter machen, indem sie Türen zu überraschenden Assoziationsräumen öffnen.

Samia Henni (Hrsg.): War Zones. gta-Verlag. Zürich 2019. 134 Seiten. 25 Franken. In englischer Sprache