E-Auto: Revolutiönchen unter der Motorhaube

Nr. 35 –

Die Autobranche verpasst sich ein grünes Update und treibt energisch die Umstellung auf den Elektroantrieb voran. Aber was, wenn das die Erderwärmung sogar befeuert?

  • Citicar der US-Firma Sebring-Vanguard, 1974. Foto: Alamy

Howard Kleiner ist ein Prolet wie aus dem Bilderbuch: Der Autoverkäufer trägt einen Oberlippenbart, kombiniert Baseballcap mit Hawaiihemd, raucht fette Zigarren – und steht auf viel PS. Vor ein paar Wochen kursierte im Internet ein Video, das zeigt, wie der Kerl ein Pärchen berät, das sich auf seinem Verkaufsgelände nach einem Wagen umschaut. Kleiner hört sich gelangweilt die Wünsche der beiden jungen Leute an («spritsparend», «leise»), verschwindet um die Ecke – um wenig später mit einem gepanzerten Geländewagen angerauscht zu kommen, der auch bei der US-Army zum Einsatz kommen könnte. «Was haltet ihr denn davon?», fragt er aus dem Fahrerfenster heraus, während er das Gaspedal im Leerlauf durchtritt und entzückt die Rauchwolke bestaunt, die aus dem Auspuff schiesst.

Tatsächlich legen sich nicht nur in den USA immer mehr Leute ein Sport Utility Vehicle – kurz: SUV – zu, und es gibt vielleicht auch so manchen Händler, der ein bisschen so tickt wie Howard Kleiner. Doch der Clip ist ein Fake. Gespielt wird der Verkäufer von Arnold Schwarzenegger, der nach seiner Hollywoodkarriere einige Jahre Gouverneur Kaliforniens war und sich dabei als Politiker präsentierte, dem die Umwelt am Herzen liegt. Daher auch seine jüngste Rolle: Das Video wurde von einer Vereinigung namens Veloz produziert und soll augenzwinkernd für Elektroautomobilität werben. «Die Autos der Welt stellen auf elektrisch um, allerdings nicht schnell genug», heisst es auf der Website der «nonprofit organization»: «Eine Bewegung ist notwendig, und Veloz will diese Bewegung ins Leben rufen.» Das klingt schön demokratisch. Nur zwei Mausklicks später ist allerdings zu lesen, dass General Motors, BMW oder auch Uber im Führungsgremium dieses «nichtkommerziellen» Vereins vertreten sind.

Die Industrie im Dienst der Klimarettung?

Die Anekdote illustriert, wie offensiv die Autobranche das Thema Elektromobilität vorantreibt – und sich dabei so geriert, als stünde sie seit jeher im Dienste der Klimarettung. Das gilt nicht nur für die USA, wie eine Äusserung des VW-Chefs Herbert Diess in der «Süddeutschen Zeitung» Ende 2018 belegt. Im Interview wurde der Manager gefragt, was er von den AktivistInnen halte, die sich damals im Hambacher Forst mit dem Energiekonzern RWE anlegten. Diess verwies auf den Widerspruch, dass sein Unternehmen gegenwärtig «Milliarden in die Elektrifizierung der Fahrzeugflotte» investiere, während gleichzeitig die Energiewirtschaft den Braunkohleabbau ausweite; da Letzteres das Klima zerstöre, erwog er, sich den Protesten anzuschliessen: «Ich werde vielleicht hingehen. Denn was die Energiewirtschaft da machen will, führt unsere ganze Elektrifizierungsstrategie ad absurdum.»

Der Chef des grössten Automobilkonzerns der Welt, der wegen manipulierter Abgaswerte ins Zwielicht geraten ist, als Ökoaktivist in einem Baumhaus? Die Vorstellung ist ähnlich bizarr wie die jüngst in Berlin anzutreffenden Plakate, auf denen mit einem Elektroauto und dem Slogan «Endlich können wir die Kinder auf die Klimademo fahren» fürs Elterntaxi geworben wurde. Tatsache ist, dass die Branche viel in die Elektroautomobilität investiert: Manche Schätzungen gehen davon aus, dass es in den kommenden Jahren mehrere Hundert Milliarden Franken sein könnten. «Environmentally sexy» soll das Elektroauto nämlich sein, wie es vor einiger Zeit in einer Kampagne des Fiat-Konzerns hiess – und deswegen alternativlos, wenn der Klimakollaps abgewendet werden soll.

Ob diese Erzählung stimmt, ist fraglich. Zumindest legen das die Argumente Winfried Wolfs nahe. Der deutsche Publizist, der einst Abgeordneter der PDS (der späteren Partei Die Linke) im Bundestag war und dort vergeblich für ein Tempolimit auf den Autobahnen kämpfte, sass vor einigen Wochen in einer Diskussionsrunde im Zürcher Kulturzentrum Kosmos: Dabei wurde darüber gestritten, wie sich der städtische Verkehr auf klimafreundlich umstellen lasse. Bei der Debatte kam bald das Thema Elektroauto auf – und Wolf redete sich in Rage: Der Publizist schimpfte auf die «Reformfürze» der Branche, die es vielfach gegeben habe und deren letzter Schrei nun der Elektroantrieb sei; jedes Mal aber, wenn die Autoindustrie sich krisenbedingt neu erfunden habe, seien danach mehr Autos auf den Strassen und die Belastung für die Umwelt höher gewesen als zuvor.

Wolf beobachtet die Entwicklungen in der Industrie seit Jahrzehnten. Was den gegenwärtigen Hype ums E-Auto angeht, warnt er davor, den Konzernen auf den Leim zu gehen: Es sei «unglaublich», wie präsent das Elektroauto in der Werbung und der öffentlichen Wahrnehmung sei. «Wenn Sie jedoch die harten Zahlen nehmen, dann sind wir momentan in Deutschland lediglich bei einem Anteil von 0,5 bis 1 Prozent Elektroautos und meinetwegen in zehn Jahren bei 10 oder 15 Prozent. Letztlich wird sich damit aber vor allem die PKW-Dichte insgesamt erhöht haben», sagt er.

Wolfs Rechnung geht so: Wenn man etwa die Ankündigung von VW für bare Münze nimmt, bis 2030 den Anteil von Elektroautos bei den neu produzierten Fahrzeugen auf 30 bis 40 Prozent zu steigern, so heisst das nur bedingt, dass weniger mit Benzin und Diesel betriebene Autos auf den Strassen unterwegs sein werden. Gleichzeitig gehen die Unternehmen nämlich von einem Wachstum der Gesamtzahl der hergestellten Autos aus. Wolfs Schlussfolgerung lautet daher, dass unterm Strich mehr PKWs im Verkehr sein werden, die absolute Zahl der Benziner und Diesel sich nur geringfügig verringert haben wird und Elektroautos vor allem in urbanen Räumen zum Einsatz kommen werden – und das, obwohl es gerade dort gute Alternativen gibt. Besonders «environmentally sexy» klingt das nicht.

Streitpunkt Klimabilanz

Hinzu kommt der eigentliche Knackpunkt: die Frage, inwieweit das Elektroauto überhaupt weniger klimaschädlich ist als ein mit Benzin oder Diesel betriebener Wagen. Diese Frage verursacht seit Jahren Kontroversen – und sie ist tatsächlich nicht so einfach zu beantworten, da die Ermittlung der Klimabilanz eines Autos eine komplexe Angelegenheit ist. KritikerInnen wie Winfried Wolf verweisen im Wesentlichen auf drei Aspekte, die den umweltpolitischen Nutzen der Elektroautos fragwürdig erscheinen lassen: erstens deren «ökologischer Rucksack», zweitens die Frage nach der Herkunft des Stroms, mit dem diese fahren, und drittens die sogenannten «Bumerangeffekte».

Unter dem ökologischen Rucksack versteht man die CO2- Bilanz, die durch die Herstellung von Elektrowagen entsteht: Diese als «Nullemissionsautos» zu definieren, wie es die Europäische Union tut, ist irreführend, da die Ermittlung der Klimabilanz nicht erst bei der Inbetriebnahme des Fahrzeugs ansetzen darf. Am meisten ins Gewicht fällt hierbei die Herstellung der Batterie. Für diese werden Rohstoffe wie vor allem Lithium oder auch Seltene Erden gebraucht, die meist aus dem Globalen Süden stammen und deren Abbau CO2-intensiv ist.

Folglich weisen Elektroautos, wenn sie vom Band rollen, erst einmal eine deutlich schlechtere Klimabilanz auf als herkömmliche PKWs, was sie erst im Betrieb wiedergutmachen. Das kann je nach Fahrzeug lange dauern. Wolf zitiert eine vom schwedischen Umweltministerium in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2017. Der zufolge rechnet sich ein Elektroauto von der Grösse eines Tesla Model S – einer Kombilimousine – erst dann, wenn es acht Jahre lang gefahren wird. Selbst eine Anfang 2019 veröffentlichte VW-Studie relativiert das Bild vom E-Auto als «grüner Technologie»: Demnach ist ein Golf mit Elektromotor erst nach 100 000 gefahrenen Kilometern umweltverträglicher als ein Diesel-Golf.

Für den Betrieb des E-Autos ist zudem entscheidend, woher der Strom für die Batterien stammt. Der ins Netz gespeiste Strommix unterscheidet sich von Land zu Land. So liegt der Anteil erneuerbarer Energien in Österreich bei rund achtzig Prozent und in der Schweiz immerhin bei deutlich über sechzig Prozent (ein gutes Drittel kommt hierzulande aus AKWs); in Deutschland dagegen wird mehr als die Hälfte des Stroms aus fossiler Energie gewonnen. Das heisst: Wer in Deutschland ein Elektroauto fährt, tut das zur Hälfte mit Kohle – sofern er nicht Solarzellen auf dem Garagendach hat und damit die Batterie lädt. Sehr bedenklich ist die Situation in China, das die Elektroautomobilität besonders vorantreibt, was wiederum den chinesischen Energiebedarf weiter anheizt: In der Volksrepublik sind derzeit 38 Atomkraftwerke in Betrieb, 19 weitere befinden sich im Bau und zusätzliche 38 sind geplant. Kaum vorstellbar, wie viele AKWs es wären, falls in China einmal eine ähnliche Autodichte wie in Europa herrschen sollte und diese überwiegend elektrisch fahren würden.

Und schliesslich sind da noch die Bumerangeffekte: AutofahrerInnen, die ihren Benziner oder Diesel durch ein Elektroauto ersetzen, neigen dazu, dieses wesentlich häufiger zu fahren, da das ja als umweltfreundlich gilt. Zahlen aus Norwegen, das in der Elektromobilität als Modellland gilt, zeigen, dass die KäuferInnen von E-PKWs deutlich weniger den öffentlichen Nahverkehr nutzen als zuvor (nämlich fast gar nicht mehr). Faktisch geht die Elektroautomobilität also auf Kosten der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, obwohl es unstrittig ist, dass diese ökologisch betrachtet die bessere Alternative darstellen.

Der Pionier aus dem Tessin

Zumindest Letzteres würde auch Marco Piffaretti sofort unterschreiben: Der Autodesigner ist ein Fan des öffentlichen Nahverkehrs. Piffaretti leitet seit 2018 den Geschäftsbereich Mobilität bei Energie 360°, einer Aktiengesellschaft in öffentlicher Hand, die sich der Förderung erneuerbarer Energien verschrieben hat. Als er aus dem Tessin nach Zürich gezogen sei, erzählt Piffaretti, habe er sein Auto abgeschafft: Bus- und Tramverkehr in der Stadt seien ausgezeichnet. Und doch ist Piffaretti zugleich ein Fürsprecher der Elektroautomobilität: Der Tessiner gilt in der Schweiz als Pionier in diesem Bereich, schon vor dreissig Jahren hat er elektrisch betriebene Wagen selbst entworfen und gebaut.

Vieles von dem, was Wolf in seinem Buch «Mit dem Elektroauto in die Sackgasse» geschrieben habe, könne er unterschreiben, sagt Piffaretti. «Ich sehe das natürlich auch so, dass es keinen Sinn ergibt, ein zweieinhalb Tonnen schweres Auto zu produzieren, um damit achtzig Kilo Mensch zu transportieren.» Trotzdem müsse man differenzieren. Aus deutscher Perspektive habe Wolf recht, in der Bundesrepublik gebe es viel Potenzial, die öffentlichen Verkehrsmittel auszubauen. «Aber wenn Sie an die Schweiz denken und insbesondere an Zürich – wie soll man da den ÖV noch gross ausbauen?», sagt der Designer. Zudem würden hierzulande schon lange ausschliesslich Elektrozüge fahren, während in Deutschland die Lokomotiven noch zu vierzig Prozent mit Diesel betrieben würden.

Dass auch das E-Auto nicht gänzlich emissionsfrei sei, liege auf der Hand. «Die Gesetze der Chemie und Physik gelten auch fürs Elektroauto. Wenn wir das energetisch betrachten, gibt es dennoch gerade in diesem Punkt einander widersprechende Studien: mal solche mit eher ‹linken›, mal solche mit eher ‹rechten› Ergebnissen», sagt Piffaretti. Gerade deswegen müsse man genau schauen, welche Daten Eingang in welche Studie gefunden hätten: «Wenn Sie an die Leipziger BMW-Fabrik denken, vor der Windräder stehen, die das Werk mit Energie versorgen, dann ist die Klimabilanz einer dort produzierten Batterie sicher besser. Natürlich sieht das ganz anders aus, wenn sie dieselbe Batterie in Polen mit Kohlestrom herstellen.»

Bei sich zu Hause im Tessin habe er eine Fotovoltaikanlage auf dem Garagendach installiert, erzählt der Entwickler; eine bereits gebrauchte Elektroautobatterie nutzt er, um tagsüber die Sonnenenergie zu speichern und dann abends sein E-Auto damit zu laden. Entsprechend fordert er schweizweit einen umfassenden Ausbau der Solarenergie. Würde man diese umfassend nutzen, wäre selbst ein Totalumstieg aufs Elektroauto möglich, glaubt Piffaretti.

Er rechnet vor: Wenn man – rein hypothetisch – alle 4,5 Millionen PKWs in der Schweiz über Nacht auf einen elektrischen Antrieb umstellen würde, ergäbe das eine jährliche Einsparung von 42 Terawattstunden an Erdölverbrauch, von 9 Millionen Tonnen CO2 sowie von 3 Milliarden Franken, die zuvor für den Kauf von Öl anfielen. Die über Nacht neu entstandene E-Auto-Flotte würde derweil nur etwa 11 Terawattstunden Strom benötigen, weil Elektroautos energieeffizienter fahren als Benziner oder Diesel. «Wenn Sie nun die Flachdächer, die in der Schweiz schon existieren und nicht anderweitig genutzt werden, komplett mit Fotovoltaik ausstatten, hätten wir schon die besagten 11 Terawattstunden», sagt Piffaretti.

Trotzdem will auch Piffaretti nicht einfach den Status quo beibehalten und lediglich die Autos elektrifizieren. Er teile das Bestreben, den städtischen Verkehr primär an den Bedürfnissen der Fussgängerinnen und Velofahrer auszurichten. «Aber wir haben noch einen Restverkehr, etwa Warentransporte, auf die Geschäfte angewiesen sind. Und dann ist da ja auch der wachsende E-Commerce, den Sie auch nicht mit dem Tram bewerkstelligen können», sagt er.

Letztlich liegen Pionier Piffaretti und Kritiker Wolf gar nicht so weit auseinander, wenn man ihre Zukunftsvisionen miteinander vergleicht. Wolf sagt: «Der Verkehr in Kopenhagen hat einen Anteil von zwei Drittel Radfahrern, das kann man doch als Vorbild nehmen und dann kombinieren mit dem gut ausgebauten Zürcher öffentlichen Nahverkehr. Dann wäre es möglich, einen Verkehr hinzubekommen, der zu achtzig Prozent aus Fahrrad, Fuss und ÖV besteht. Und der Rest meinetwegen aus Elektroautos.»

Allein: Dieses Modell dürfte von der Autoindustrie, einer der mächtigsten Branchen der Welt, mit Händen und Füssen bekämpft werden. Für die Konzerne ist eine Aufrechterhaltung des motorisierten Individualverkehrs alternativlos. Deswegen treiben sie die Etablierung des Elektroautos so voran – ganz nach der Maxime: Wenn schon Wandel, dann wollen wir diesen lieber gestalten als erleiden. Der Individualverkehr bliebe dabei aber natürlich unangetastet – und die Profite langfristig gesichert.

Es lohnt sich daher ein Blick zurück in die Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg, als sich der motorisierte Individualverkehr durchsetzte. Die Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen erinnern in ihrem Buch «Imperiale Lebensweise» daran, wie sich in den USA Konzerne, darunter General Motors, zusammenschlossen, um die Strassenbahnnetze Dutzender Städte aufzukaufen und zu zerschlagen – mit dem Ziel, so dem Auto auf die Sprünge zu helfen. Das klingt nach einer wilden Verschwörungstheorie, doch die «General Motors streetcar conspiracy» ist gut dokumentiert dank eines Urteils des Obersten Gerichtshofs und einer Untersuchung des US-Senats in den fünfziger Jahren – auch wenn umstritten ist, ob dergleichen kriminelle Energie tatsächlich zur Durchsetzung des PKW nötig war.

Plädoyer für eine «Vollbremsung»

Trotzdem taugt diese Affäre, um Zweifel daran zu nähren, dass das Auto sich quasi naturgesetzmässig durchgesetzt hat, einfach weil es so praktisch ist. Das bietet Argumentationsstoff für Leute wie Klaus Gietinger. Der deutsche Autor und Filmemacher (unter anderem von mehreren «Tatort»-Krimis) hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, in dem er mit der Autoindustrie abrechnet. Dabei betont er einen Aspekt, der in der Debatte erstaunlicherweise eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt: den gewaltigen Blutzoll, den das Auto – ob nun mit Benzin, Diesel oder Batterie betrieben – einfordert.

Für Gietinger ist das Auto schlicht eine «Massenvernichtungswaffe». Das klingt arg polemisch, doch der Autor hat bemerkenswerte Zahlen recherchiert. Demnach sterben pro Jahr weltweit 1,35 Millionen Personen bei einem Autounfall: alle 23 Sekunden ein Mensch. 2030 wird das Auto seit seiner Erfindung Gietinger zufolge insgesamt knapp 70 Millionen Todesopfer gefordert haben. «Stellen Sie sich vor, jeden Tag würden 2,5 Titanics untergehen, 7 vollgestopfte Jumbojets 747–600 abstürzen oder 37 Mal das schlimmste deutsche Zugunglück (Eschede 1998) geschehen. Dürfte da noch jemand fliegen oder mit dem Zug fahren?», schreibt er.

Er habe schon vor zehn Jahren ein mathematisches Modell entwickelt, um diese Zahlen zu errechnen, erzählt Gietinger. «Ich habe das in einer internationalen Verkehrszeitschrift veröffentlicht – damals waren es natürlich noch ein paar Millionen Tote weniger. Jedenfalls hat bis heute kein Wissenschaftler Einspruch erhoben, was die Korrektheit meiner Zahlen angeht», sagt er. «Aber es scheint auch nicht so viele zu interessieren, dass das Auto so tödlich ist.» Gietinger war früher selbst Auto gefahren, ehe er ins Nachdenken geriet, als Bekannte und FreundInnen bei Unfällen ums Leben kamen.

In seinem Buch «Vollbremsung» fordert Gietinger nicht nur eine Verkehrswende, sondern gleich eine «Verkehrsrevolution»: Er will nicht nur mehr Fahrradverkehr und eine Stärkung des ÖV, sondern gleichzeitig eine dramatische Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs. Das Elektroauto ist für den Sozialwissenschafter eine «Scheinalternative», er setzt auf eine radikale «De-Car-isierung» anstelle einer blossen Dekarbonisierung. Das würde aber bedeuten, dass die Menschen künftig weniger lange Strecken zurücklegen: Laut Gietinger hat der durchschnittliche Deutsche 1928 alles in allem rund 3000 Kilometer im Jahr zurückgelegt, heute sind es 14 000 Kilometer. Seine «Verkehrsrevolution» würde heissen, dass diese Strecke wieder auf 6000 Kilometer schrumpft.

Aber ist das erstrebenswert? Und wie soll das den Menschen vermittelt werden? «Ich denke, dass das unsere einzige Alternative ist – es bleibt ja nicht mehr viel Zeit, bis der Klimacrash kommt», sagt Gietinger. «Ausserdem ist der Mensch eigentlich ein Nahmobilitätswesen: Weiter weg fahren wir doch höchstens in den Urlaub oder für einen wichtigen Geschäftstermin, aber ansonsten lebt man vor allem im Nahbereich. Und wenn ich nun die Geschwindigkeit und die Strecken reduziere, stärke ich damit zugleich diesen Nahbereich: Neue Geschäfte und Jobs könnten dort entstehen, wo die Menschen auch leben.» Man dürfe nicht vergessen, dass gerade das Auto wesentlich zur Trennung von Arbeits- und Wohnort und zur Suburbanisierung beigetragen habe.

Immerhin dürfte der Zeitgeist aus einer Richtung wehen, die solchen Zukunftsvisionen Rückenwind verschafft: Für viele Jüngere ist die Anschaffung eines Autos nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor dreissig Jahren, erst recht nicht in der Stadt. Darauf verweist auch Wolf: In Berlin beispielsweise habe schon heute die Mehrheit der Haushalte keinen eigenen PKW mehr. «Das ist doch ein gewaltiges politisches Potenzial, das man ausschöpfen könnte», glaubt er. Und dann ist da ja noch die Klimabewegung. Auch wegen dieser spricht man inzwischen von einer «Flugscham». Die Problematik des wachsenden Autoverkehrs ist dagegen noch nicht so prominent in der Debatte angekommen. Aber es gibt keinen Grund, warum sich das nicht noch ändern sollte.