Falsche Abgaswerte: Mit allen Tricks in den Autokrieg
Nach dem VW-Skandal werden nun reihenweise Topmanager gefeuert. Doch das Problem reicht viel tiefer: Die ganze Branche betrügt systematisch.
Das VW-Topmanagement wurde seit Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass der Abgasausstoss seiner Dieselfahrzeuge mittels einer speziellen Software manipuliert wird. Spätestens seit Mai 2014 war das Kader durch eine wissenschaftliche Untersuchung des eher kleinen, in San Francisco angesiedelten Instituts International Council on Clean Transportation (ICCT) über den Betrug im eigenen Haus detailliert ins Bild gesetzt. Die Studie besagt, dass Dieselfahrzeuge von VW (und anderen Pkws bislang nicht genannter anderer Hersteller) im realen Strassenverkehr massiv höhere Stickoxidemissionen aufweisen als von den deutschen Zulassungsbehörden zertifiziert.
Grösser, schwerer, schneller
Auch die deutsche Regierung ist seit rund einem Jahr darüber informiert, dass die Abgaswerte von Diesel-Pkws deutscher Provenienz deutlich über den offiziellen Grenzwerten liegen. In einem an die Europäische Kommission gerichteten Schreiben der Regierung vom 18. August 2015 – also mehr als einen Monat vor dem sogenannten Dieselgate – heisst es: «Belastbare Indizien, dass die realen durchschnittlichen Stickoxid-Emissionen auch von derzeit auf den Markt kommenden Euro-6-Diesel-Pkw erheblich höher sind als der einzuhaltende Grenzwert (80 mg/km), liegen seit Herbst 2014 vor.» In diesem Schreiben geht es nicht um Modelle eines spezifischen Autokonzerns: Es handelt sich hier also nicht allein um einen VW-Skandal, es betrifft die Automobilität generell. Laut diesem Brief betrug der gemessene Stickoxid-Schadstoffausstoss bei diversen Diesel-Pkws teilweise das Sechsfache des Grenzwerts der EU.
Nun musste die Führung des Volkswagenkonzerns zugeben, weltweit bei rund elf Millionen Dieselpersonenwagen der Konzernmarken VW, Audi, Seat und Skoda (in der Schweiz sollen genau 128 802 Autos betroffen sein) eine spezifische Software zur «Abgasnachbehandlung» programmiert zu haben: Diese schaltet bei den Fahrzeugen auf dem Prüfstand auf einen spezifischen Fahrmodus, bei dem deutlich niedrigere Abgasemissionen gemessen werden als im normalen Fahrbetrieb. Die höchst perfide manipulierte Software wird seit mindestens sechs Jahren gezielt eingesetzt.Dies um die Behörden zu täuschen, wie der VW-Konzern gegenüber der US-Umweltbehörde Epa zugeben musste.
Dabei ist der jetzige Eklat nur ein Teil des Gesamtskandals, der die Branche weltweit seit Jahrzehnten prägt. Einen wesentlichen Hintergrund bilden die Trends im Automobilsektor, wie sie auf dem Genfer Autosalon im Frühjahr ebenso wie auf der soeben beendeten Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main festgestellt werden konnten: Der durchschnittliche Pkw mit Baujahr 2015 wiegt mit 1,25 Tonnen rund doppelt so viel wie ein durchschnittlicher Pkw mit Baujahr 1975. Zudem weist er eine rund zweieinhalbfach höhere PS-Leistung auf und verfügt neben dem Hauptmotor noch über mindestens ein halbes Dutzend weitere Motoren und Motörchen – nicht zuletzt zum Betrieb einer (1975 noch unbekannten) Klimaanlage.
Dass diese Hilfsmotoren bei den herkömmlichen Verbrauchstests im Stand-by-Zustand schlummern, ist bloss ein Teil des Problems. Es sind die Trends, die den Energieverbrauch der Autos steigern, was durch immer aufwendigere Technik (die erneut zusätzliches Gewicht mit sich bringt) nur teilweise wieder reduziert, vor allem aber durch raffinierte oder auch banale Manipulationen verschleiert wird. Banal ist beispielsweise, dass die Fahrzyklen auf dem Prüfstand meilenweit von der realen Fahrpraxis entfernt sind: Der Test-Pkw darf nicht zu kalt, nicht zu heiss, nicht zu schwer sein, und er darf vor allem nicht mit Volllast beschleunigt werden. Nicht getestet werden also die meisten Betriebsweisen, die im Alltag gang und gäbe sind. Die unabhängigen Spezialisten des deutschen Umweltbundesamts gehen davon aus, dass die realen Kraftstoffverbräuche und Emissionen in den meisten neuen Pkws um bis zu fünfzig Prozent höher sind als offiziell zertifiziert. So gibt es de facto in den letzten fünfzehn Jahren generell keinen relevanten Rückgang der Abgase pro Fahrzeug – und wegen der zunehmenden Motorisierung teilweise sogar eine Zunahme der Schadstoffemissionen.
Diese ethische und ökologische Krise betrifft die Autobranche weltweit. Dennoch gibt es eine VW-spezifische Komponente. Denn der VW-Konzern stellt seit Jahrzehnten einen besonders aggressiven – auf Expansion nach aussen und Vereinnahmung nach innen gerichteten – Charakter unter Beweis.
Mitte der neunziger Jahre gab es den López-Skandal: Das VW-Management unter Ferdinand Piëch heuerte einen Topmanager von General Motors (GM) an: José Ignacio López liess Tausende Seiten Geheimdokumente von seinem früheren Arbeitgeber mitgehen und sagte, dass sich VW «im Krieg» mit der US-Konkurrenz befinde. Zwischenzeitlich wagte VW-Chef Ferdinand Piëch nicht mehr, US-Boden zu betreten, da ihm eine Inhaftierung drohte. Am Ende musste López gehen und VW eine fette Kompensation an GM zahlen.
Ein Jahrzehnt später folgte der Hartz-Skandal. Es stellte sich heraus, dass sich das VW-Management, nachweislich der VW-Personalvorstand Peter Hartz, den Gesamtbetriebsrat mit einem flächendeckenden Korruptionsnetz gefällig gemacht hatte. Der Betriebsratsvorsitzende Klaus Volkert hielt sich sogar auf Konzernkosten eine brasilianische Geliebte. Am Ende mussten Hartz und Volkert gehen.
«Vorsätzliche Körperverletzung»
Und nun also VW-Dieselgate. Im Hintergrund für diese seit 2005 betriebene Grossfälscherei steht das von den VW-Bossen Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn 2005 formulierte Ziel, bis spätestens 2018 grösster Automobilhersteller der Welt zu sein. Doch die aufgezeichneten Stickoxidwerte liegen im Durchschnitt um das 7-Fache, bei einem getesteten Auto gar um das 25-Fache über den Vorgaben der US-Umweltbehörde Epa. Die Deutsche Umwelthilfe, ein Forum für Umweltorganisationen, Politiker und Entscheidungsträgerinnen aus der Wirtschaft, sieht den Tatbestand der «vorsätzlichen Körperverletzung» erfüllt.
VW ist also besonders aggressiv, doch der López-, der Hartz- und der Dieselskandal sind keine Sonderfälle, sondern kapitalistischer Alltag. José Ignacio López hatte recht: Es herrscht Autokrieg. Peter Hartz Engagement kann unter dem Blickwinkel kapitalistischer Profitlogik sogar als verdienstvoll gewertet werden: Er wirkte bei VW mit einem spezifischen Arbeitsmodell und bundesweit als Erfinder der «Hartz-IV-Sozialhilfe» als Lohndrücker. Und dem fingierten Absenken der Abgaswerte entspricht die reale Anhebung der Profitrate.
Benzin im Blut
Auto und Umwelt sind ein unauflöslicher Widerspruch. Und die Sinnkrise der kapitalistischen Gesellschaft wird von der Autoindustrie auf perverse Weise aufgriffen. Porsche – eine VW-Tochter – schaltete jüngst flächendeckend Anzeigen mit dem Slogan «Sie haben Benzin im Blut? Wir legen Ihnen die Faszination Porsche ans Herz!». Die Frage, warum eine hochgradig giftige Substanz im Blut anregend wirken soll, stellt sich offenbar zumindest den WerbestrategInnen nicht. Zum gleichen Zeitpunkt schaltete der Autovermieter Sixt eine Anzeige mit dem Bild einer Frau am Steuer und der Schlagzeile «Blumen sind nett. Rasen ist geil!». Ein Zusammenhang mit den jährlich über 50 000 Strassenverkehrstoten in Europa erschliesst sich offensichtlich auch hier nur wenigen.
Auf der Automesse IAA waren es erneut in erster Linie die extrem PS-starken Pkws, die als Publikumsmagneten wirkten. Bei diesen liegen selbst die offiziell ausgewiesenen Schadstoffwerte weit über den Werten, die die EU und die Regierungen in Berlin, Brüssel und Bern als anzustrebende Limits benennen. Es fragt sich generell, weshalb überhaupt von Grenzen gesprochen wird, wenn sie sowieso überschritten werden.
Letzten Endes kann nur eine radikale Verkehrswende eine menschliche und umweltgerechte Perspektive weisen: eine Politik der Verkehrsvermeidung, der Förderung der nicht motorisierten Verkehrsarten und des öffentlichen Verkehrs bei gleichzeitigem Zurückdrängen des Pkw- und Lkw-Verkehrs und der Verwirklichung autofreier Städte. Sollte Dieselgate dazu führen, über diese Alternative nachzudenken, war dies der richtige Skandal zur richtigen Zeit.
Winfried Wolf ist Chefredaktor der Zeitschrift «Lunapark21» und zusammen mit Bernhard Knierim Koautor von «Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform», 2014 im Schmetterling Verlag, Stuttgart, erschienen.