Autoindustrie: Wer bewegt die Zukunft?
Die grossen Autokonzerne sind ins Wanken geraten, die deutsche Ampelregierung ist zerbrochen. Aber statt über eine zukunftsfähige Industriepolitik zu debattieren, wird ausgerechnet die Rückkehr zum Verbrennermotor gefordert.
Das Autoland Deutschland ist in Aufruhr. In den letzten Monaten korrigierten mit VW, BMW und Mercedes-Benz die grössten Autokonzerne ihre Gewinnerwartungen für dieses Jahr markant nach unten. Seither tobt, nach dem Bersten der Ampelregierung noch verstärkt, ein industriepolitischer Richtungsstreit. Und damit auch ein Deutungskampf über die Antriebstechnologie der Zukunft: Bereits wird eine «Kehrtwende» gefordert, weg vom Elektro- zurück zum Benzin- und Dieselauto.
Dies zunächst deshalb, weil die Verkäufe von E-Autos in Deutschland zuletzt deutlich zurückgingen. Ein kleiner Boom fand damit ein Ende: Wurde im letzten Jahr mit einer halben Million verkauften E-Autos noch ein Rekordwert erzielt, ging deren Absatz in diesem Jahr bisher um ein Drittel zurück, mit weiterhin sinkender Tendenz. Gleichzeitig war auch das Geschäft im Ausland rückläufig; vor allem im weltweit wichtigsten Automarkt China brachen die Verkaufszahlen deutscher Hersteller ein. Es herrscht Alarmstimmung.
Nur ein Teil der Wahrheit
Angesichts der Grösse der deutschen Autobranche ist das gut nachvollziehbar: Fast 780 000 Menschen sind gemäss dem Statistischen Bundesamt direkt in der inländischen Autoproduktion beschäftigt. 564 Milliarden Euro hat diese 2023 insgesamt erwirtschaftet. Und sie ist zentraler Pfeiler des deutschen Exportmodells: Von den 4,1 Millionen letztes Jahr in Deutschland gefertigten Personenwagen wurden drei Viertel ins Ausland verkauft. Es steht viel auf dem Spiel.
Vor allem die Debatten rund um VW werden dabei überaus emotional geführt. Denn VW ist nicht irgendein Unternehmen: Mit 120 000 Angestellten ist es der grösste industrielle Arbeitgeber des Landes und identitätsstiftendes Symbol deutscher Ingenieurs- und Innovationskunst. Nun erwog der Konzern öffentlich die Schliessung mehrerer Produktionsstätten in Deutschland, zum ersten Mal in seiner Geschichte. Zehntausenden Angestellten droht die Entlassung. Mehrere der seit dreissig Jahren bestehenden Tarifverträge mit der Gewerkschaft IG Metall hat VW bereits aufgekündet.
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die global agierende Volkswagen AG mit Hauptsitz im niedersächsischen Wolfsburg ist und bleibt ein Koloss: Sie ist der grösste Konzern Europas und der umsatzstärkste Autohersteller der Welt. Ihr gehören zahlreiche Automarken an, von Audi bis Porsche und Bentley, deren Modelle in über hundert Werken auf fast allen Kontinenten gefertigt werden. Dem Konzern scheint es insgesamt ganz ordentlich zu gehen: Im letzten Jahr verbuchte er einen operativen Rekordgewinn von über 22 Milliarden Euro, und auch in den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es wieder 10 Milliarden. Entsprechend grosse Dividenden haben sich die Aktionär:innen – unter ihnen das Bundesland Niedersachsen, dem der Konzern zu einem Fünftel gehört – bis zuletzt ausgezahlt: 22 Milliarden Euro seit 2021, 4,5 Milliarden allein fürs letzte Jahr.
Das Problem von VW ist vor allem bei seiner Kernmarke zu finden – und damit zu Hause in Deutschland, wo die meisten VW-Autos gefertigt werden. Die Auslastung mancher Produktionsstandorte ist mittlerweile extrem niedrig. Etwa die rund 2300 Angestellten des VW-Werks in Osnabrück haben grössten Grund zur Sorge. Mangels Aufträgen ist die Auslastung dort auf unter zwanzig Prozent der Kapazität gefallen.
Ganz nüchtern betrachtet, haben VW und weitere deutsche Autohersteller derzeit Mühe, sich in einem Weltmarkt zu behaupten, der sich in einer Phase des rasanten Wandels befindet. Das hat viel mit dem Aufstieg chinesischer Autohersteller zu tun, die in den letzten Jahren von der dortigen Regierung umfangreich subventioniert wurden. Dutzende chinesische Autobauer gibt es mittlerweile, von denen einige – so betonen es Marktkenner:innen und E-Enthusiast:innen – heute überlegene Produkte fertigen. Als «Smartphones» auf Rädern werden die Autos von Firmen wie BYD gern bezeichnet, weil sie allen möglichen IT-Komfort bieten – zum Entsetzen von Datenschützer:innen auf der ganzen Welt. Deutsche Hersteller hingegen haben es entgegen allen Versprechungen noch nicht geschafft, gute E-Autos zu erschwinglichen Preisen auf den Markt zu bringen.
Weltmarkt und Protektionismus
Vom Konkurrenzdruck, der von China ausgeht, zeugt eine weitreichende Massnahme der EU: Sie ging vorletzte Woche dazu über, chinesische E-Auto-Importe mit «Ausgleichszöllen» von bis zu 35 Prozent zu belegen, worauf die chinesische Regierung umgehend wirtschaftspolitische Vergeltung ankündigte.
Deutschland hatte sich gegen die Strafzölle ausgesprochen. Mit gutem Grund: Auch die grossen deutschen Autokonzerne produzieren in chinesischen Werken Autos, die sie teils auch dort verkaufen möchten. Das zahlte sich aus, bis in China die Nachfrage nach Verbrennerautos rasant zu sinken und jene nach Elektrofahrzeugen ebenso rasant zu steigen begann – und sich herausstellte, dass sich die E-Autos einheimischer Marken weit besser verkaufen als jene deutscher Hersteller.
Wirtschaftswissenschaftlerin Katharina Keil beobachtet die Entwicklungen im Autoland Deutschland von Lausanne aus, wo sie am Uni-Institut für Geografie und Nachhaltigkeit zu Fragen der Industrieproduktion und sozial-ökologischer Transformation forscht. «Die aktuelle Krise der deutschen Hersteller ist ein Symptom von Konsolidierungsprozessen, die in der globalen Autoindustrie am Laufen sind», fasst Keil die Situation zusammen. Die Branche habe eine starke Tendenz zu Oligopolen, also zu mächtigen Marktleadern – und nun, da sie sich im Umbruch befinde, würden manche gewichtige Akteure zwangsläufig an Terrain verlieren. Gerade die Entwicklung bei VW sei derzeit interessant: «Historisch betrachtet hat VW das Spiel immer gewonnen», sagt Keil, «aber diesmal sieht es schlecht aus.»
Ganz ähnlich klang zuletzt sogar Herbert Diess, von 2018 bis 2022 VW-Vorstandsvorsitzender. In der ZDF-Talksendung von Markus Lanz erklärte er, dass grosse Industrieplayer oft gerade deshalb in Probleme gerieten, weil sie aus kurzfristigem Profitdenken auf überholten Technologien verharrten.
Die Gründe für die Krise sind demnach vor allem in den Teppichetagen der Konzerne zu suchen. Das hält die Kritiker:innen aus dem liberalkonservativen Lager nicht vom Versuch ab, mit schrillen Tönen politische Vorteile daraus zu ziehen. Allen voran Friedrich Merz, CDU-Oppositionsführer und mittlerweile Kronfavorit für die Kanzlernachfolge: Vor allem aufgrund politischer Eingriffe habe VW voreilig auf eine Produktionsumstellung hin zu Elektroantrieben gesetzt, liess er verlauten.
Lindners harte Hand
Mobilitätsforscher und Buchautor Oliver Schwedes, der als Gastprofessor an der Technischen Universität Berlin tätig war, ortet den Grund für die Krise der Automobilindustrie hingegen keineswegs bei etwaigen politischen Eingriffen. Ganz im Gegenteil, solche seien bislang viel zu wenig resolut erfolgt. «Bei den Antriebstechnologien verläuft der Übergang in Deutschland gerade sehr unübersichtlich», sagt Schwedes, «alle sind irritiert, nichts scheint entschieden.» Während nun aber manche eine Rückkehr des Verbrennermotors heraufbeschwören, ist er der festen Ansicht: «Der Elektroantrieb wird sich durchsetzen, das ist nicht mehr aufzuhalten.»
Die deutsche Autoindustrie werde es mit Unterstützung von willfährigen Politiker:innen vielleicht noch schaffen, den Prozess zu verzögern, sagt Schwedes. Dies aber höchstens zwecks kurzfristiger Profitmaximierung – und keineswegs im Interesse des Industriestandorts Deutschland. «Nehmen wir an, die deutschen Autohersteller konsolidieren sich jetzt durch Entlassungen und Effizienzsteigerungen, setzen aber wieder voll auf den Verbrennermotor», erläutert Schwedes, «dann haben sie damit schlimmstenfalls nochmals zehn Jahre lang ein Erfolgsmodell, bevor sie endgültig untergehen.»
In der Präambel ihres Koalitionsvertrags hatten sich SPD, Grüne und FDP noch auf die Formulierung geeinigt, dass das Erreichen der Pariser Klimaschutzziele «oberste Priorität» habe. «Schritt für Schritt beenden wir das fossile Zeitalter», hiess es im Koalitionsvertrag – auch indem man «die Technologie des Verbrennungsmotors» hinter sich lassen wolle. Ein Vorhaben, das die Ampelregierung in der Folge aber gleich selbst beständig verwässert, ja untergraben habe, sagt Schwedes.
Wichtiger Akteur war dabei Verkehrsminister Volker Wissing, der letzte Woche als einziges FDP-Regierungsmitglied den Ampelbruch überstand, indem er kurzerhand aus der Partei austrat. Wissing war es, der es etwa schaffte, den Verkehrsbereich von Sektorzielen zur Emissionsreduktion im Klimaschutzgesetz zu befreien. Und durchsetzte, dass Deutschland die Einigung der EU-Staaten über ein «Verbrenner-Aus» bis 2035 im letzten Moment sabotierte, indem es in Brüssel unter dem Schlagwort «Technologieoffenheit» noch ein Schlupfloch für synthetisch hergestellte Kraftstoffe und damit womöglich auch für Verbrennermotoren erzwang.
Dass in Deutschland der Absatz von E-Autos in diesem Jahr so dramatisch zurückging, dürfte auch ganz direkt damit zusammenhängen, dass die Regierung Ende 2023 die Zahlung eines «Umweltbonus» beim Kauf von Elektrofahrzeugen ersatzlos auslaufen liess. Wie so oft in der Ampelära lag der Grund dafür darin, dass sich Finanzminister Lindner erfolgreich dagegen stemmte, Deutschlands Schuldenbremse aufzuweichen. Seine harte Haltung hatte einschneidende Folgen – insbesondere seit das deutsche Bundesverfassungsgericht vor einem Jahr entschied, dass die Regierung unerlaubterweise ein Corona-Sondervermögen für den Klimaschutz umgewidmet habe. Ausgerechnet im Klima- und Transformationsfonds (KTF), einem Ampelprestigeprojekt, klaffte somit eine sechzig Milliarden Euro grosse Finanzierungslücke. Und Lindner weigerte sich konsequent, sie mit neuen Sondervermögen zu decken.
Zukunft als «Mobilitätsdienstleister»?
Vonseiten der Opposition, wirtschaftsliberaler Kommentator:innen und der Autolobby wird also eine angeblich überambitionierte Transformationspolitik der Ampel beklagt. Dabei konnte man seit drei Jahren vielmehr eine beständige Obstruktionspolitik der FDP beobachten. Die Frage laute nun, so Mobilitätsforscher Schwedes, ob die nächste Regierung bereit sei, gemeinwohlorientierte Industriepolitik zu betreiben – oder ob sie die deutsche Autoindustrie sich selbst und damit kurzfristigen Profitinteressen überlassen werde.
Mit der Antriebsfrage allein sei das Problem dabei aber alles andere als gelöst, betont Schwedes. Hypes rund um die Elektromobilität habe es auch in der Vergangenheit schon gegeben, etwa in den Neunzigern. Damals sei für Deutschlands Autohersteller zeitweise sogar eine Zukunft als «Mobilitätsdienstleister» vorgesehen gewesen, in enger Kooperation mit Bahn und lokalen ÖV-Anbietern. Gewonnen habe am Ende aber die Marktlogik – mit dem Resultat, dass heute auch Elektroautos in immer grösseren und schwereren Ausführungen produziert würden. So hält Schwedes abschliessend fest: «Es bleibt gesamtgesellschaftlich absolut widersinnig, wenn unzählige Menschen täglich zwei bis drei Tonnen Stahl und Blech in Bewegung setzen, um ihren zarten Hintern fortzubewegen.»