Brexit: Mit dem Brecheisen für den Austritt
Die aussergewöhnlichen Vorgänge im britischen Unterhaus haben eine vorgezogene Parlamentswahl ein grosses Stück näher gebracht. Doch die Strategie birgt Gefahren: für Premier Boris Johnson wie auch für die Opposition.
Das hatte sich Boris Johnson anders vorgestellt. An der ersten Parlamentssitzung nach den Sommerferien wollte nichts klappen: Zuerst kamen dem eigentlich selbstbewussten Redner die rhetorischen Fähigkeiten abhanden, er gab konfuse und ausweichende Antworten und erntete oft Gelächter. Dann lief ein Tory-Abgeordneter mitten in seiner Rede zu den LiberaldemokratInnen über und raubte ihm die konservative Mehrheit. Und wenige Stunden später verlor der frischgebackene Premierminister seine erste – und entscheidende – Abstimmung im Parlament: Das Unterhaus bot ihm die Stirn und verweigerte sich seiner Brexit-Politik.
Auf diesen Moment ist die britische Politik seit dem Sommer zugesteuert. Kaum hatte Johnson Ende Juli die Zügel in die Hand genommen, begann ein rauer Wind durchs Regierungsviertel zu wehen. Dominic Cummings, der als Chefstratege der Brexit-Kampagne vor drei Jahren sein Geschick und seine Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt hatte, wurde zum wichtigsten Berater des Premiers ernannt. Er trimmte den Regierungsapparat auf Disziplin, warnte Ministerinnen und Beamte, dass Ungehorsam nicht toleriert würde, und er garantierte, dass Angestellte, die der Presse Informationen zuspielen, sofort rausfliegen. Hart ist auch seine Brexit-Politik: Cummings hat den Bulldozer als Werkzeug gewählt.
Blockierung des Souveräns
Letzte Woche wurde klar, was das bedeutet. Zuerst kam Johnsons Ankündigung, das Parlament fünf Wochen lang in die Zwangspause zu schicken – gerade dann, wenn die proeuropäischen Abgeordneten versuchen wollen, den ungeordneten Brexit Ende Oktober per Notfallgesetzgebung doch noch abzuwenden. Der dreiste Schachzug kommt einer Blockierung des nominellen Souveräns im Land gleich – und er führte dazu, dass sich innerhalb von wenigen Stunden über 2000 Protestierende im Regierungsviertel versammelten.
Am Samstag folgten landesweite Kundgebungen, von Brighton bis Glasgow ging die Bevölkerung auf die Strasse, über 100 000 Leute nahmen insgesamt teil. In London war das Areal vor dem Regierungssitz gerammelt voll von Demonstrierenden, darunter Grüne, Liberaldemokratinnen, Labour-Aktivisten und Parteilose. Eine Gruppe blockierte sitzend die Westminster Bridge und rief im Chor: «Wenn du unser Parlament schliesst, dann schliessen wir die Strassen!»
Doch Johnson schaltete einen Gang höher. Um die proeuropäischen RebellInnen auf den eigenen Bänken einzuschüchtern, stellte er ihnen ein Ultimatum: Wer für eine Gesetzesvorlage stimme, die den No-Deal-Brexit vom Tisch nehme, werde sofort aus der Partei geworfen – im britischen Parlamentsbetrieb eine unerhört autoritäre Drohung. Und schliesslich legte Michael Gove, Kabinettsmitglied und enger Verbündeter des Premierministers, in einem Fernsehinterview nach: Auf die Frage, ob die Regierung einen Beschluss des Parlaments akzeptieren würde, sagte er: «Sehen wir erst mal, was drin steht.» Mit anderen Worten: Die Regierung behält sich vor, ein Gesetz zu ignorieren.
Dieser Brecheisenmethode liegt ein gewisses Kalkül zugrunde. Trotz allem Geschrei um den No-Deal wäre es Johnson wohl lieber, er brächte eine Einigung mit der EU zustande: Er ist sich bewusst, dass die wirtschaftlichen Verheerungen eines chaotischen Austritts den Ruf der Tories als VerteidigerInnen des britischen Kapitals dauerhaft aufs Spiel setzen können.
Aber wenn das Parlament den Brexit verschieben kann, fehlt Grossbritannien laut Johnson jegliches Druckmittel, um die EU zurück an den Verhandlungstisch zu zwingen. Weitere Verhandlungen würden «absolut unmöglich», sagte der Premierminister am Montagabend. Das ist zwar eine fragwürdige Argumentation, und dass sich die EU so erpressen lässt, ist zu bezweifeln. Aber auf jeden Fall zog Johnson seine Konsequenz: Die Legislative muss kaltgestellt werden. Damit hat er jedoch erst recht den Zorn der Abgeordneten provoziert.
Trotz aller Drohungen stimmten die ParlamentarierInnen am Dienstagabend gegen die Regierung und für eine Vorlage, die den Weg zu einer Blockierung des No-Deal-Brexit ebnet. Auch 21 Tories stellten sich auf die Seite der Opposition, um den chaotischen EU-Austritt am 31. Oktober vom Tisch zu nehmen; alle sind daraufhin aus der Partei ausgeschlossen worden. Das Votum zum No-Deal-Brexit erfolgte am Mittwoch nach Redaktionsschluss der WOZ.
Johnson als Volkstribun
Die aussergewöhnlichen Vorgänge im Unterhaus haben eine vorgezogene Parlamentswahl ein grosses Stück näher gebracht – manche vermuten, dass dies von Anfang an Cummings’ Plan war. Aber eine Wahlkampagne wird für die Tories kein Kinderspiel. Johnsons Strategie ist klar: Er wird versuchen, die Wahl zu einem Kampf zwischen den einfachen Leuten und der «Remain-Elite» zu stilisieren. Ungeachtet der Tatsache, dass er selbst ein archetypischer Vertreter des Establishments ist, dass er die Steuern für die reichsten BürgerInnen senken will und sich noch immer damit brüstet, die BankerInnen nach der Finanzkrise in Schutz genommen zu haben. Trotz alldem wird er sich zum Volkstribun erklären: zum Mann, der das demokratische Votum umsetzen will, während das Parlament den Willen der BritInnen zu durchkreuzen versucht.
Aber das «Leave»-Lager hat sich inzwischen radikalisiert, Nigel Farages Brexit-Partei macht dem Premierminister genauso zu schaffen wie seiner Vorgängerin Theresa May. Zwar vermag Johnson mit seiner harten Linie manche EU-GegnerInnen zurück zu den Tories zu locken: Vor seiner Wahl erreichte die Brexit-Partei in Umfragen rund zwanzig Prozent, seither sind es nur noch vierzehn. Dennoch hält sich Farages Partei zäh: Die ganz überzeugten «Leave»-WählerInnen trauen dem ehemaligen Ukip-Chef noch immer mehr als Johnson.
Die Brexit-Partei hat den Tories einen «Nichtangriffspakt» angeboten – aber vorerst nur, wenn sich die Partei einem No-Deal-Brexit verschreibt. Das kommt jedoch für Johnson nicht infrage, und deshalb wird ihm Farage noch reichlich Kopfschmerzen bereiten. Laut dem Politikexperten Matthew Goodwin von der Universität Kent könnte die Brexit-Partei die Tories Dutzende Sitze kosten.
Auch für die Opposition birgt eine Neuwahl Gefahren. Im Gegensatz zur Wahlkampagne von 2017 wird Labour dem Brexit nicht mehr ausweichen können – der EU-Austritt wird das entscheidende Thema sein. Nachdem sich die Führungsgruppe um Jeremy Corbyn in den vergangenen Monaten immer weiter in Richtung einer Anti-Brexit-Haltung bewegt hat, kann sie darauf zählen, einen guten Teil der proeuropäischen Stimmen auf sich zu ziehen. Gefährlich wird es, wenn Labour in Johnsons Falle tappt und sich als Partei des «Remain-Establishments» identifizieren lässt.
Stattdessen sollte das transformative Programm, das Labour umsetzen will, als radikale Alternative zur Politik der vergangenen vier Jahrzehnte präsentiert werden. Zu den Plänen gehören etwa die kommunale Kontrolle über die Energie- und Wasserversorgung, der Aufbau einer grünen Industrie, eine Demokratisierung der politischen Institutionen und eine Verschiebung der wirtschaftlichen Macht von Unternehmensbossen zu den Angestellten.
Dass sich in den vergangenen Wochen eine Strassenbewegung gegen die Tory-Regierung gebildet hat, wird dieser Strategie enorm helfen. Am Montag hatte Boris Johnson Mühe, sich auf seine Rede zu konzentrieren, weil im Hintergrund ein lautstarker Chor skandierte: «Stoppt den Staatstreich!» Täglich finden jetzt Anti-Tory-Demos statt. Die Unterstützung von der Strasse wird entscheidend sein, wenn Corbyn den Eindruck vermeiden will, er vertrete nur die Interessen des Parlaments. Labour als Anti-Establishment-Kraft, sowohl in Westminster als auch in den Kommunen: Das ist der einzige Weg, einen Sieg des blonden Populisten abzuwenden.