Europäische Flüchtlingspolitik: Grenzrisse und Gleichzeitigkeiten
Während Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen, wird die Rechtsstaatlichkeit an anderen Aussengrenzen der EU weiter ausgehebelt. Unterwegs auf Lesbos und an den Bahnhöfen entlang der ukrainischen Grenze.
Irina Kowalenko zeigt ihre hellblauen Nägel, auf denen weisse Wolken schweben: «Die habe ich einen Tag vor Kriegsausbruch machen lassen.» Im Gegensatz zu den bunten Nägeln wirkt ihr Gesicht wie Transparentpapier, das – wie ihre knetenden Hände – erahnen lässt, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hat.
Zusammen mit ihrer Mutter floh Kowalenko, die eigentlich anders heisst, über Nacht aus Charkiw und wurde so von einem Tag auf den anderen zum Oberhaupt der Familie. In der Schule lernte sie Englisch und Tschechisch. Daher übernimmt sie seit Tagen die Kommunikation, redet mit Bahnhofswärterinnen, Grenzschützern und freiwilligen Helfer:innen, telefoniert mit Hotels. Wie bei so vielen in diesen Tagen liegt auch in ihrem Blick etwas Abwesendes. «Gerade war alles noch anders», sagt sie.
Der Krieg verschiebt nicht nur die innere Landschaft von Menschen, die sich plötzlich von ihrem alten Leben verabschieden müssen, er verändert auch die Funktion der Orte, an denen sie ankommen. Alle paar Stunden erreichen Züge aus der Ukraine den Bahnsteig des polnischen Örtchens Przemysl, der nun Erstaufnahmezentrum, Krankenstation und Suppenküche in einem ist. Am Tisch eines Restaurants neben dem Bahnhof, an dem Zuggäste noch vor wenigen Tagen Apfelkuchen mit Vanilleeis bestellen konnten, sitzen müde Feuerwehrmänner und eine Sanitäterin über Bechern mit Orangensaft, die eine Hilfsorganisation zwischen Bahnhofsgang und Restauranttür verteilt.
Ein paar Tage zuvor, am Bahnhof von Zahony in Ungarn, wundert sich eine Frau aus Kiew, warum die Landschaft um sie herum plötzlich so «grell» sei. Das ist es wohl auch, was eine Entwurzelung mit dem eigenen Blick auf die Welt macht. Sie verändert die Wahrnehmung: deren Form, das Licht. Seit Kriegsbeginn sind 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Es ist die grösste Fluchtbewegung in Europa seit Jahrzehnten. Millionen erleben einen Riss durch die eigene Existenz. Eine Zäsur, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und von der geflüchtete Menschen in Lagern wie Moria auf Lesbos oder in jenen von Bangladesch noch Jahre später erzählen, um sich zu erinnern, wer sie einmal waren.
In einer rechtlichen Parallelwelt
Donnerstagmorgen, der 17. März, auf Lesbos. In diesem Jahr kamen bisher nur etwas mehr als 200 Personen an jenem Ort an, der in den letzten Jahren zu einem Drehkreuz der Flucht nach Europa wurde. Trotzdem wagen weiterhin Menschen, die meisten von ihnen aus Afghanistan und Somalia, die Überfahrt auf die Ägäischen Inseln – die nicht nur wegen der hohen Wellen, sondern auch wegen der immer brutaleren Zurückweisungen durch die Grenzschützer:innen gefährlicher wurde.
Auf dem Boden des Friedhofs neben dem Dorf Kato Tritos liegt eine zertretene Plastikrose. Eine Gruppe Männer trägt zwei Körper in einem weissen Leintuch zum Erdhügel am hinteren Ende des aufgeweichten Feldes. Sechs von sieben Geflüchteten, die in den ersten beiden Märztagen an der Südküste von Lesbos angespült wurden, werden an diesem Tag im engen Kreis beerdigt. Bei den Menschen wurden keine Dokumente gefunden. Keine Telefone. Nichts, was sie ausgewiesen hätte.
Durch Fotos in den sozialen Medien erfuhren Angehörige dennoch von ihrem Tod, konnten sie teilweise identifizieren. Einige reisten nach Lesbos und standen plötzlich einer rechtlichen Parallelwelt gegenüber, die sie nicht für möglich gehalten hätten. Kaya Aden, die eigentlich anders heisst, kam aus England, um ihren Neffen zu finden, der auf dem Schlauchboot gewesen sein soll. Bis sie die Insel wieder verliess, konnte sie ihn nicht finden. Bei den Behörden habe sie kaum Informationen bekommen, erzählt sie. Lange wusste sie nicht, an wen sie sich wegen der Fahndung wenden soll. Bis sie verstand, dass schon lange nicht mehr nach ihrem Neffen gesucht wurde.
Kurz bevor auf dem Friedhof, auf dem nur wenige Gräber einen Namen tragen, die Beerdigung der sechs Geflüchteten stattfindet, beginnt im grossen Gerichtsgebäude der Hafenstadt Mytilini das Berufungsverfahren von Amir Zahiri (27) und Akif Razuli (24). Die beiden Männer aus Afghanistan erreichten die Insel im März 2020, Zahiri mit seiner schwangeren Frau und seiner Tochter.
Wenige Tage zuvor hatte Griechenland das Recht auf Asyl ausgehebelt, nachdem die Türkei der EU mit der Öffnung der Grenzen gedroht hatte. Die Hoffnung von Flüchtenden auf ein sicheres Leben wurde zum politischen Druckmittel. Die griechische Küstenwache setzte an den Landgrenzen Tränengas und Blendgranaten ein. Jene, die auf dem Meer übersetzten, kamen in Untersuchungshaft – auch Zahiri und Razuli. Ein halbes Jahr später wurden sie der «Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt» und des verursachten Schiffbruchs angeklagt und zu fünfzig Jahren Haft verurteilt.
«Ohne einen einzigen Beweis, der bei Gericht gegen sie vorgebracht werden konnte, sitzen die beiden nun seit zwei Jahren in Haft», sagt ihr Anwalt Alexandros Georgoulis. Verfahren wie diese seien nur dazu da, Menschen von der Überfahrt abzuschrecken. Im Mai 2021 wurde ein Asylsuchender aus Somalia wegen «Menschenschmuggels» zu 146 Jahren Haft verurteilt. Auch ihn hat Georgoulis juristisch vertreten. «Menschen, die in Europa lediglich um ein gerechtes Asylverfahren anfragen, landen ohne Schuld in jahrelanger Haft.»
Aufrüstung an den Grenzen
Für Flüchtende aus Afghanistan, dem Irak, Syrien oder Somalia gibt es keine legalen Fluchtrouten nach Europa. Und die Wege, die sie nehmen müssen, werden immer gefährlicher – was auch daran liegt, dass der europäische Grenzschutz in den letzten Jahren immer brutaler geworden ist.
Die Kriminalisierung von Flucht zeigt sich nicht nur in kafkaesken Gerichtsverfahren wie jenem gegen Amir Zahiri und Akif Razuli. Illustrieren lässt sich der Abbau der Rechtsstaatlichkeit auch mit den systematischen illegalen Pushbacks: Flüchtende werden zurückgedrängt, bevor sie überhaupt einen Asylantrag stellen können. Auf dem Meer bedeutet es, dass die griechische Küstenwache das Boot der Flüchtenden manövrierunfähig macht. Die Grenzschützer:innen nehmen den Booten dabei teilweise den Motor ab oder erzeugen mit grösseren Booten Wellen, um die Menschen zurück in türkische Gewässer zu treiben.
Haben sie einmal das Land und damit europäischen Boden erreicht, werden sie auch dort immer wieder aufgegriffen und teilweise sogar auf «Rettungsinseln» gebracht, die später wieder in türkische Gewässer gezogen werden. Betroffene berichten auch am Grenzfluss Evros vom Einsatz von Elektroschocks, der Abnahme persönlicher Gegenstände, dem erzwungenen Entkleiden und sexueller Erniedrigung. Während die EU-Kommission auf entsprechende Recherchen internationaler Medien, die Berichte des Flüchtlingshilfswerks UNHCR oder von Organisationen wie Human Rights Watch stets «sehr besorgt» reagiert, hat sich bisher kaum etwas geändert. Auch die internen Untersuchungen blieben meist folgenlos.
Letzten Sommer setzte die Kommission die Zahlungen an die griechische Küstenwache aus. Trotzdem fliesst vonseiten der EU vor allem eines an die Grenzen: Geld. Das Budget von Frontex wurde von 333 Millionen Euro auf 543 Millionen im letzten Jahr erhöht. Bis 2027 soll das jährliche Budget der Grenzschutzagentur auf 5,6 Milliarden ausgeweitet werden. Auch der Schweizer Anteil soll auf rund 61 Millionen Franken steigen und sich damit verdreifachen. Weil die Asylbewegung dagegen das Referendum ergriffen hat, wird Mitte Mai über diese Aufstockung abgestimmt.
Nach der Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze vor zwei Jahren sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen Griechenland 700 Millionen für «Grenzschutz und Migrationsmanagement» zu. Zusätzlich finanzierte die EU mit 276 Millionen Euro fünf neue Hochsicherheitslager für Geflüchtete auf den Ägäischen Inseln. Die Camps hinter Nato-Stacheldraht sind inzwischen auf Samos, Leros und Kos in Betrieb – und werden zu jeder Tages- und Nachtzeit von privatem Sicherheitspersonal, Polizist:innen, Kameras, Bewegungsmeldern und teilweise Drohnen überwacht.
Entmenschlichte Situation
Steht man vor dem Gerichtssaal auf Lesbos oder am Friedhof der Namenlosen, werden die Folgen dieser politischen Entscheidungen deutlich. Der «harte Grenzschutz», wie es auf Pressekonferenzen in Griechenland heisst, bedeutet für die Geflüchteten und ihre Angehörigen einen irreparablen Riss.
Kurz nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine haben sich die 27 EU-Staaten und die Schweiz auf einen besonderen Schutzstatus für Flüchtende geeinigt. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach von einer «historischen Entscheidung». Während Europa in diesen Tagen beweist, dass es möglich ist, Flüchtenden nach demokratischen Werten und internationalem Recht in Europa Schutz zu gewähren, zeigen die ersten Wochen der offenen Grenzen zur Ukraine auch eines: wie weit sich die Situation für Geflüchtete aus Afghanistan, Somalia oder dem Irak an anderen europäischen Grenzen entmenschlicht hat.
Am Tag nach der Beerdigung der sechs Geflüchteten in Kato Tritos verlässt Anwalt Alexandros Georgoulis ohne richterliche Entscheidung den Gerichtssaal: Das Berufungsverfahren von Zahiri und Razuli wurde erneut vertagt, nun soll es in der ersten Aprilwoche stattfinden. Eine Stunde später wird der norwegische Fotograf Knut Bry* in den Gerichtssaal geführt. Der 75-Jährige wurde verhaftet, weil er am Hafen von Mytilini Bilder von einem Schiff der Küstenwache gemacht haben soll. Die Anklage lautet auf Spionage. So beginnt ein neuer Tag auf Lesbos.
* Die Anklage gegen Bry wurde diesen Montag nach einem erneuten Gerichtstermin fallen gelassen.