Pop: Ein Lob auf die sündige Antriebslosigkeit

Nr. 38 –

Ihre Tränen sind vom Gähnen, dabei spielen sie ständig am Anschlag: Die Band One Sentence. Supervisor pulverisiert im Ausland die Vorurteile über Schweizer Musik – mit syrischer Laute, schwebenden Gitarren und politischem Anspruch.

Die Band als Businessmodell? One Sentence. Supervisor führen uns mit ihrem Stockfoto-Bandfoto in die Irre. Foto: Philippe Bodinger

Vor zehn Jahren hätte man eine solche Band noch erfinden müssen: One Sentence. Supervisor proben im aargauischen Baden, ihre Drummerin ist Tausendsassa der Zürcher Musikszene, ihr Sänger WOZ-Autor, und ihr Lautenspieler flüchtete einst aus Syrien in die Schweiz. Der deutsche «Rolling Stone» schrieb über die Band: «Man kann es beinahe nicht glauben, dass dieser Song, diese hymnischen Gitarren, dieser leicht düstere Gesang aus der Schweiz kommt.» Wieso nicht? Es verändert sich gerade etwas in der Schweizer Musikszene, und One Sentence. Supervisor (kurz OSS) stehen für diese Veränderung.

Ein lauer Spätsommerabend in Zürich. Die alternative Musikszene trifft sich im Bogen F. Das Schweizer Label Irascible schenkt sich ein Fest zum 18. Geburtstag. Für OSS ist es die Feuerprobe der Songs vom neuen Album «Acedia» vor der versammelten Schweizer Indieszene. «Herzlich willkommen im Erwachsenenleben», sagt Donat Kaufmann in den Saal, und auf das, was folgt, hat einen das Album nicht vorbereitet.

Die zehn Songs, die auf der Platte noch melancholisch schwelgen konnten, drücken live ständig an den energetischen Anschlag. Der Bass von Andreas Hefti pulsiert ungestüm, Jonas Osters Gitarre schert immer wieder aus und verkeilt sich mit der Oud von Bahur Ghazi. Aus Tupfern entstehen Muster, die beiden zeichnen Figuren auf die Klangwände. Drummerin Sarah Palin treibt alle unermüdlich vor sich her, um sie dann wieder einzuholen. Einen Frontmann gibt es nicht: Sänger Kaufmann klingt verwischt, fern, dennoch scheint er alle mitzutragen. Live klingen die neuen Songs organischer, und sie wachsen über die Platte hinaus.

Jammen und Kiffen in Ruinen

Gegründet haben sich OSS im Umfeld des inzwischen geschlossenen Konzertlokals Merkker in Baden. Das letzte psychedelisch-poppige Album trug den etwas gespreizten Titel «Temporär Musik 1–13». Es kreuzte flächige Gitarren mit elegisch-eingängigen Refrains und brachte der Band internationalen Erfolg: eine Tour in China, Gigs an einflussreichen Festivals wie The Great Escape in Brighton und Transmusicales in Rennes, Konzerte als Vorband der Londoner Band Archive. Nach dem Austritt ihres Drummers probten sie neue Songs mit dem Drumcomputer. Schliesslich fragten sie die Schlagzeugerin Sarah Palin an, die davor in Zürcher Formationen wie JJ & Palin oder Phil Hayes & The Trees spielte und zeitweilig Mitglied der New Yorker Rockband Boytoy war. Palin steckte damals gerade in einer musikalischen Krise: «Alles, was ich wollte, war, in einer Band zu spielen, die viel unterwegs ist. Aber die musst du in der Schweiz erst finden», erzählt sie. Zum Kennenlernen blieb keine Zeit, denn die Aufnahmen für das neue Album standen an. «Ich wusste, wir gehen auf dieses Reisli, und wollte herausfinden, ob es zusammen funktioniert. Das tat es», so Palin. Die Band mietete sich in ein Einfamilienhaus mit integriertem Studio in Holland ein, schlief im Massenschlag und nahm die neuen Songs auf.

Im Frühling folgte eine weitere prägende Erfahrung: Mit einem Dutzend Schweizer MusikerInnen reisten drei Bandmitglieder nach Tunesien. Dort jammten sie zusammen mit lokalen Acts: «Im Zentrum stand der musikalische Austausch, ansonsten war die Retraite an sehr wenige Bedingungen geknüpft. Wir konnten einfach drauflos spielen», erzählt Kaufmann. «Allerdings auch nichts anderes», wirft Drummerin Palin ein und schiebt nach: «Denn wir wurden bekocht und hatten kein Auto, lediglich viel zu kiffen.» Sie spielten in unbeheizten Ruinen im tunesischen Hinterland, bis sich die musikalischen Lager zusehends vermischten. Kaufmann: «Es war ungerichtet, aber nie ziellos.»

«Der Krieg kam dazwischen»

Einen ähnlich unverkopften Ansatz verfolgte beim neuen Album ihr kanadischer Produzent, Radwan Ghazi Moumneh, bekannt auch als Musiker Jerusalem in My Heart. «Er kümmert sich keinen Deut um die Frage, wie sich etwas verkaufen lässt», erzählt Kaufmann. Diese klangliche Kompromisslosigkeit hört man auf «Acedia» in Songs wie «Double You Part 1» und «Seems Less Seamless». Produzent Moumneh hat dem Sound von OSS schwelende Dringlichkeit eingeflösst, dem Lautenspieler Bahur Ghazi gab er Raum für verspielte Ornamente. Dessen arabische Oud wirkt dabei niemals wie ein exotisches Gimmick, sondern ist das scheppernd-psychedelische Echo auf Jonas Osters Gitarre.

Ghazi ist in Syrien aufgewachsen, studierte sein Instrument in Ägypten und hat sich zudem in die türkische Musiktradition eingehört. Diese Instrumentalgeschichten lässt er nun in die Rocksongs von OSS fliessen. «Ich merkte dabei, wie nah mir psychedelische Rockmusik eigentlich ist», erzählt er. Rhythmisch und klanglich sei sie gar verwandt mit syrischer Hochzeitsmusik: «Genau wie Rock hat auch diese Beats. Ihre Arrangements sind simpel, sie groovt unheimlich, und man kann zu ihr tanzen.» Vielleicht hätte es ihn schon früher in eine Rockband verschlagen, meint er: «Aber das Leben, der Krieg, kam dazwischen.»

Siesta als Sünde

Diese Band hat seit ihrem Bestehen einen politischen Anspruch. Im Titeltrack von «Acedia» heisst es: «Don’t be alarmed, tell Ma I’m alright, I am almost not harmed, my tears are from yawning.» Keine Sorge, ich bin unverletzt, meine Tränen sind vom Gähnen. Dann beschwört Kaufmann: «What if I let the noon day demon take over the night?» Was, wenn ich den Mittagsdämon die Nacht beherrschen liesse? Die Zeile referiert auf den etwas hochtrabenden Albumtitel: «Acedia» ist ein mittelalterlicher Begriff für die sündige Antriebslosigkeit, die Mönche meist in der Mittagszeit befiel – Siesta als Todsünde. Ziemlich pessimistisch, oder? Kaufmann widerspricht vehement: «Nein, Acedia ist eine Chance, weil jeder aufkeimende Zweifel uns aus dem Rad kippt.» Die Mönche allerdings trieb der Mittagsdämon statt in widerständigen Tatendrang in lethargische Mutlosigkeit.

Etwas angestrengt wirken auch die Pressebilder: Auf diesen posiert die Gruppe nach dem Vorbild der Stockfotografie in steriler Umgebung als stereotype Rockband oder als Geschäftsleute – die Band als Businessmodell. Simpler vielleicht, aber allemal eindrücklich portiert das Video zu «Acedia» seine politische Botschaft: Darin stapft Sänger Kaufmann zu schwebenden Riffs durchs Gelände und filmt sich mit einer selbstgesteuerten Drohne, die über eingepackte Gletscher und montanindustrielle Erdfurchen fliegt und uns so die Folgen kapitalgetriebener Umweltzerstörung zeigt.

Neues Selbstbewusstsein der Szene

Dass OSS auch im Ausland gehört werden, ist übrigens weniger das Verdienst der nationalen Popförderung als einer veränderten Stimmung in der Schweizer Musikszene. So nennen Bands in Gesprächen immer wieder Schweizer MusikerInnen als Einflüsse. Bei OSS ist das nicht anders, und auch ihre Bandgeschichte widerspiegelt ein Stück weit diesen neuen kollaborativen Geist. Sänger Kaufmann spricht von einem Gemeinschaftsgefühl, in dem man sich gegenseitig unterstützt. «Genau, das ist neu», pflichtet Drummerin Palin ihm bei. «Früher kannte man gar nichts anderes als Konkurrenz.» Und das verändert die internationale Wahrnehmung von Schweizer Musik? «Natürlich!», sagt Palin. «Wenn du dich gegenseitig mehr respektierst, trägst du das auch mit nach aussen.»

One Sentence. Supervisor liessen schon einmal die Vorurteile über die hiesige Musikszene bröckeln. Mit «Acedia» ist die Band nun angetreten, sie zu pulverisieren.

One Sentence. Supervisor: Acedia. Irascible Records. 2019