Emilie Zoé: «Am besten haben wir in Wohnzimmern gespielt»
Die Westschweizerin Emilie Zoé macht wunderschönen Lo-Fi-Rock und gibt entfesselte Konzerte. Ihre Intuition und Risikofreude lassen ihre Musik immer wieder anders klingen.
Emilie Zoé macht sich bereit für den Absprung: One, two, three, four – als würde sie eine Lunte zünden. Über dem treibenden Schlagzeugbeat von Nicolas Pittet spielt sie ein bedrohlich schimmerndes Gitarrenriff und erhöht mit dem rotzig gesungenen Refrain das Energielevel, bevor sie den Song richtiggehend zerschreddert. Sie springt in den ZuschauerInnenraum und spielt ein rabiates, dissonantes Solo, stolpert wieder hinauf auf die Bühne und haucht, noch ganz ausser Atem, mit fokussiertem Blick eine Melodie ins Mikro.
Während ihrer intensiven Konzerte, wie kürzlich im Zürcher Club Exil, setzt Emilie Zoé sich immer wieder aus: den Fliehkräften ihrer Riffs, ihren körperlichen Grenzen, ihrer mit dem Wahnsinn spielenden Bühnenperformance. Schon die Duobesetzung ist ein ständiges Wagnis: Es gibt hier kaum etwas, an das sie sich klammern könnte; mit seinem rudimentären, soundversessenen Spiel ist Pittet eher ein Gegenspieler als eine Stütze. Auch ihr schroffes, zuweilen auch ganz sanftes Gitarrenspiel erinnert stets an die Leere, die auf einer solchen Bühne zunächst einmal klafft.
Explosiv zerlegt
«Es ist schon riskant, so zu zweit aufzutreten», sagt Emilie Zoé vor dem Konzert im Keller des «Exils». «Man hört jeden Fehler. Aber wenn wir mit diesen Fehlern gut umgehen, spielen wir trotzdem ein gutes Konzert.» Angefangen hat Zoé mit einer dreiköpfigen Begleitband, doch bald entschied sie sich für die radikale Reduktion. Mit Louis Jucker, einem Freund und Mitmusiker, ein paar Instrumenten und einer analogen Bandmaschine verbrachte sie fünf Wintertage in einem alten Schützenhaus im Jura. Heraus kam das wunderbare «Dead-End Tape», das 2016 beim kleinen Label Hummus Records in La Chaux-de-Fonds erschien. Mit ihrem intimen Lo-Fi-Sound fahren einem diese schwermütigen Songs sofort unter die Haut. «Ich liebe es, wenn Fehler auf der Aufnahme bleiben. Wir haben viele Fehler behalten.»
Emilie Zoé wuchs in Lausanne auf und begann nach der Matura ein Studium in Elektrotechnik an der ETH Lausanne. Gitarre hatte sie bis dahin nur für sich alleine in ihrem Zimmer gespielt. Während einer Projektwoche für Songwriting im Wallis lernte sie MusikerInnen kennen, die von ihrer Kunst lebten. Sie beschloss, es ihnen gleichzutun, und brach ihr Studium ab. Einer von ihnen war der jurassische Chansonnier Félicien Donzé, in dessen Band die heute 28-Jährige ein paar Jahre als Gitarristin spielte und durch die sie auch Nicolas Pittet traf. Ausserdem war sie vier Jahre lang Tourgitarristin der Basler Folksängerin Anna Aaron.
«My Little Liar», jener Song, den Emilie Zoé live so explosiv in seine Einzelteile zerlegt, findet sich auch auf dem «Dead-End Tape». Doch er klingt hier völlig anders: Statt ein Schlagzeug hören wir nur ein dumpfes Rasseln, die Gitarre tänzelt elegant in der Lauerstellung, dafür schimmert die Stimme umso mehr. Das erinnert an die düsterste Ecke des amerikanischen Folks, an einen King Dude mit Riot-Grrrl-Attitüde. Diese Version steht der Platte ebenso gut wie die rockige der Bühne. Für Emilie Zoé ist ein Song kein abgeschlossenes Werk, sondern steht in ständigem Austausch mit den Räumen, die er zum Klingen bringt. So wandelt sich ihre Musik andauernd, Aufnahmen und Konzerte sind Momentaufnahmen.
Auf den Raum kommts an
Dieses Jahr haben Emilie Zoé und Nicolas Pittet schon über hundert Konzerte gespielt, viele davon in kleinen Konzertlokalen oder privaten Räumen. «Die besten Konzerte dieser Tour haben wir in Wohnzimmern gespielt», erzählt Zoé. «Für mich lässt sich ein Konzert nicht vom Ort und von den Leuten trennen, die es organisieren oder die zuhören.» Das habe nicht nur mit der Grösse zu tun, auch auf der grossen Bühne der Winterthurer Musikfestwochen etwa habe sie sich nicht zuletzt deshalb sofort wohlgefühlt, weil ihr die Haltung hinter diesem Festival gefalle.
Auch hinter dem zweiten Album von Emilie Zoé steckt eine akribische Suche nach einem Raum mit der richtigen Resonanz. Ganze zwei Jahre lebten die Songs bereits auf der Bühne, bevor sie letztes Jahr auf «The Very Start» erschienen. Während dieser Zeit experimentierten sie zusammen mit Freunden: in einem professionellen Studio, einem Treppenhaus mit viel Hall, einem Raum mit ganz trockenem Sound und zuletzt in ihrem Proberaum bei Neuenburg, wo das Album schliesslich entstand. Obwohl «The Very Start» nicht so brüchig klingt wie sein Vorgänger, entstand es ähnlich intuitiv und von Zufällen geprägt. Ein Grossteil davon sind Aufnahmen, die ursprünglich nur zu Übungszwecken gedacht waren.
Nachhallender Gitarrenlärm
Auf der Bühne würden die wilden Ausbrüche kaum funktionieren, wäre da nicht auch eine latente Spannung in den Songs, die kaum je über einen richtigen Refrain verfügen und mit einfachen Elementen vibrierende Kontraste erzeugen. In «6 O’Clock» wiegt die Gitarre sich über einem schweren, scheppernden Beat im Walzertakt. In «Tiger Song» singen Emilie Zoé und Pittet im Chor gegen ein kantiges Riff an.
Am Schluss des Konzerts spielen die beiden den Song «Sailor», der in einen versetzt gesungenen Chor ausläuft. Die Instrumente werden immer leiser, bis sich die beiden Stimmen allein und etwas verloren mit den wiederkehrenden Worten im Raum drehen. Die beiden steigen von der Bühne und gehen singend hinaus, während die Erinnerung an den verklungenen Gitarrenlärm nachhallt.
Live: St. Gallen, Palace, Freitag, 6. Dezember 2019, mit One Sentence. Supervisor; Delémont, Forum Saint-Georges, Samstag, 14. Dezember 2019.
Emilie Zoé: The Very Start. Hummus Records. 2018