Sailing Stones in Tunesien: In der Grotte gegen Grenzen

Nr. 27 –

«Ah, ein Kulturaustausch!» – Mehr als vierzig MusikerInnen und Veranstalter aus Tunesien und halb Europa treffen sich südwestlich von Tunis für ein künstlerisches Experiment mit abschliessendem Festival. Eine Reportage über Klangwolken, helvetische Privilegien und die Bedeutung der Musik in Tunesien.

  • Wenn es das Wetter zulässt, auch draussen: Aufnahmen für das Album «Sailing Stones Tapes».
  • Auf dem Weg zu den «Räumen des Seins»? Mit der «GNV Fantastic» von Genua nach Tunis.
  • Ankunft in Amars Kulturreservat, der Grotte von ­Althiburos.
  • Tunnelblick in der Technogrotte.
  • Anrennen gegen die Vergesslichkeit, während der Shuttlebus wartet.
  • Wird er zustimmen? Die Organisator­Innen in den Verhandlungen mit dem Alkoholbaron.
  • Für den kurzen Moment der Einkehr.
  • Eingenebelt in die Klangwolken des Sailing- Stones-Festivals.

«Jonathan – Zeit für Freiheit» steht auf dem Wohnwagen, dessen Räder mir bis knapp zur Schulter reichen. Jonathan bewirbt «Stille-Retreats» in der Sahara. Hinter dem Steuer, gut zwei Meter über Boden, sitzt ein langer weisser Mann mit langem weissem Haar und blickt auf mich herab. Er winkt freundlich, ich winke freundlich.

Jonathan ist unser Nachbar am Hafen von Genua. Neben ihm warten wir in unserem überfüllten Tourbus, um in den Bauch der Fähre nach Tunis vorgelassen zu werden. Wir, das ist in diesem Moment eine befreundete Gruppe von MusikerInnen und Veranstaltern, aktiv irgendwo zwischen dem St. Galler «Palace» und dem «Royal» in Baden, assoziiert mit den Bandnamen Pyrit, Bit-Tuner, Lord Kesseli and The Drums und One Sentence Supervisor. Wir sind auf dem Weg in eine KünstlerInnenresidenz in Tunesien.

Das Bild des bulligen Wohnlastwagens mit dem europäischen Nummernschild, aus dem man mit sicherer Distanz das Fremde betrachten und notfalls einfach drüberfahren kann auf dem Weg zu den «Räumen des Seins» unten im Süden, hängt noch in meinem Kopf, als Jonathan längst verschwunden ist. Als wollte es mich vor mir selbst warnen.

Als ich unsere Reise wenige Tage zuvor in einem Gespräch erwähne, sagt mein Gegenüber zufrieden: «Ah, wie schön, ein Kulturaustausch!» Für einen Moment kriege ich schwitzige Hände. Der Begriff «Kulturaustausch» hat etwas Sorgloses, er verspricht Begegnungen auf Augenhöhe. Doch die Aura der Egalität kann trügerisch sein. Droht sie nicht die ungleich verteilten Privilegien zu verschleiern, die den Begegnungen oft zugrunde liegen und diese beeinflussen? Das Privileg etwa eines Schweizer Passes, der mich in manchen Staaten sogar besser schützt als jener der Einheimischen?

Und liegt es nicht nahe, diese zufälligen Privilegien mit Kenntnissen oder Fähigkeiten zu verwechseln und in koloniale Muster zurückzufallen, anstatt diese zu überwinden?

Es fehlt an Bühnen

Unser Ziel liegt vier Fahrstunden südwestlich von Tunis. Auf einem abgelegenen Hof plant eine Gruppe Musikversessene rund um das Musiklabel Bookmaker Records (dem Pyrit und Lord Kesseli angehören), mehr als vierzig MusikerInnen und Veranstalter aus Tunesien und halb Europa zusammentreffen zu lassen – für einen künstlerischen Austausch und ein abschliessendes Festival. Resultieren sollen aus den Begegnungen ein Album, mehrere Kurzfilme und eine langfristige Perspektive: Sailing Stones, wie das ambitionierte Projekt heisst, ist Teil einer grösseren Idee. Sie treibt Youssef, Kopf von Bookmaker Records, seit Jahren um.

Aufgewachsen in Tunis, zog Youssef mit seiner Familie 2001 in einen Aussenbezirk von Paris. Das politische Klima unter Machthaber Ben Ali war für Oppositionelle wie Youssefs Vater zusehends bedrohlich geworden. In Paris studierte Youssef Film und gründete als leidenschaftlicher Fan verschrobener Rockmusik das Label Bookmaker Records. 2010, kurz bevor in Tunesien der Arabische Frühling ausbrach, freundete sich Youssef mit Azyz an. Auch er war von Tunis nach Paris übergesiedelt, er studierte dort Wirtschaft.

«Die Revolution gab uns einen Tritt, um eigene Projekte in Angriff zu nehmen», sagt Youssef. Viele NGOs wurden in dieser Zeit gegründet, um das Land vom engen moralischen Korsett zu befreien. Ein Korsett, das auch der einst blühenden alternativen Musikszene den Atem abgeschnürt hatte. «Eigentlich war es Hedonismus, als wir 2014 zum ersten Mal vier befreundete Bands einluden, mit uns in die Wüste zu fahren und dort aufzudrehen. Wir wollten einfach Livemusik hören, Bier trinken und mit Freunden zusammen sein.» Nach dem zweiten Durchlauf 2016 war Youssef überzeugt, Sailing Stones könne einen wichtigen Beitrag für die hiesige alternative Musikszene leisten. Dieser fehle es weder an KünstlerInnen noch BesucherInnen, sondern an Bühnen, die sie zusammenbringen.

«Dieser Ort gehört zu den wenigen im ganzen Land, an denen Rockkonzerte veranstaltet werden», sagt Hazem, als wir uns im Schatten seines breiten Rückens durch die überfüllte Bar Wax zwängen, einen von Mauern umzogenen Club am Stadtrand von Tunis. Es ist der erste Abend nach der 24-stündigen Überfahrt von Genua. Hazem, verbindlicher Blick, Dreitagebart, organisiert Fahrten und Unterkünfte für das Festival. Er sei ja eigentlich Vagabund, aber manchmal eben auch Zahnarzt und pendle darum seit Wochen zwischen den Welten: «Ich kann jetzt wirklich nicht auf den Plan schauen, ich habe meine Hand im Mund eines Patienten», zitiert er sich selbst und lacht sein rumpelndes Lachen.

Die Bar Wax ist an diesem Abend von Bekannten belagert, die von Youssef und Azyz während der letzten Jahre mit Sailing Stones angefixt wurden. Dazwischen wirbeln die beiden herum wie zwei Geburtstagskinder am eigenen Fest. Camille wird während der Residenz Kurzfilme drehen, Nadia arbeitet mit einem ganzen Team an einem szenografischen Konzept für das Festival, Batal hilft beim Aufbau. Aus der Schweiz sind zudem angereist: die Luzerner Musikerin mit Künstlerinnennamen Belia Winnewisser – sie wird später an diesem Abend die betörende Androhung eines Technosets spielen –, Julia – sie bloggt über das Festival – und Marcel, Grandmaster der Vernetzung. Atemlos reist der Programmator des Luzerner B-Sides-Festivals seit Jahren durch die Länder, um Kreativschaffende aufzuspüren, die in seinen Augen an einer sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltigeren Gesellschaft arbeiten. Er will sie zusammenbringen und zu KomplizInnen machen.

Dem Himmel den Mittelfinger zeigen

Und wie Komplizenschaft fühlt sich das auch an. Viele der Begegnungen, ob an diesem ersten Abend im «Wax» oder später in der Residenz, sind zwar aufregend, weil neu, aber auch seltsam vertraut. Die Umarmungen ein bisschen länger als nötig, die Unterhaltungen manchmal nur beiläufig, um zu betonen, dass man sich über Grundlegendes ohnehin einig ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir über Gleichstellung oder Umweltschutz reden, lässt mich für kurze Momente vergessen, welche Kräfte ihnen hier entgegenwirken: Wir treffen in diesen zwei Wochen kaum Frauen im öffentlichen Raum, und kaum ein Ort ist nicht komplett mit Müll übersät. «Viel zu tun», sagt Azyz einmal pragmatisch, als wir an einem Turm aus vergammelten Plastikkanistern am Feldrand vorbeifahren. 2014 kehrte er seinem Wirtschaftsstudium in Paris den Rücken, um ausserhalb von Tunis einen biologischen Landwirtschaftsbetrieb aufzubauen.

Ich denke an einen weiteren Fallstrick des Wortes «Kulturaustausch»: an diese mitschwingende Vorstellung, Kultur sei etwas, das sich hermetisch abriegeln lasse – am einfachsten entlang nationaler Grenzen. Einmal spreche ich Hazem auf dieses Wort an, das aus ihm einen Fremden machen will. Wir landen in einem Gespräch über die EU und die Rhetorik der europäischen Linken, die eingeklemmt scheint zwischen der Kritik an der rigiden Grenzpolitik und dem Feiern einer europäischen Identität als Bollwerk gegen den Nationalismus. Als Anarchist habe er ohnehin ein kompliziertes Verhältnis zu Grenzen, sagt Hazem. Auch darum setze er so viel Hoffnung in die Musik; in ihr könnten sie sich auflösen.

Der Ort, wo dies geschehen soll und wird, liegt zwanzig Autominuten ausserhalb der ländlichen 10 000-Seelen-Ortschaft Dahmani. Am Ende eines gerade noch befahrbaren Pfades, umgeben von Hügelketten, wohnt und arbeitet der Maler Amar. Er verstehe diesen Ort als Kulturreservat, wo Ideen uneingeschränkt blühen könnten, sagt er bei unserer Ankunft. Seine Augen und der weisse Bart strahlen im braun gebrannten Gesicht. Die «Grotte von Althiburos», wie der Ort in Anlehnung an eine nahe gelegene Ruinenstadt heisst, erinnert an eine Alp im Tessin. Eng versammelte Hütten aus Stein, spartanisch eingerichtet, wenige Stromquellen, kaum fliessend Wasser. Oberhalb der Hütten führt ein in den Stein geschlagener, schmaler Tunnel in einen unterirdischen Raum, die eigentliche Grotte. Sie dient als öffentlicher Ausstellungsraum; hier hängen Malereien und Fotografien lokaler KünstlerInnen. Tritt man wieder nach draussen, entdeckt man am gegenüberliegenden Hügel ein riesiges NO, das Amar mit Steinen in die Wiese gezeichnet hat. «Gegen alle schlechten Stimmungen», wie er sagt. Gegen Rassismus, Sexismus, Terrorismus. Es sei aber noch nicht fertig. Im O soll dereinst eine Skulptur stehen, die dem Himmel den Mittelfinger zeigt.

In den folgenden Tagen wird hier die wunderbarste kreative Anarchie ausbrechen. Die Elektronicafraktion um Belia Winnewisser, Bit-Tuner und Pyrit schliesst sich bald mit dem tunesischen Soundtüftler Oussema zusammen, um sich in der Grotte zu verschanzen und diese mit dichten Ambientwolken einzunebeln. «Wie ein Fiebertraum in Zeitlupe», sagt jemand nach einem Besuch. Auch die Hütten verwandeln sich in veritable Proberäume. Rund um die wenigen Steckdosen bilden sich Kreise aus Gitarren- und Bassverstärkern, Synthesizern und Schlagzeug. Täglich stossen weitere MusikerInnen und Bands hinzu, sie bringen neue Instrumente und Einflüsse. Manche von ihnen kennen sich seit Jahren, ohne sich je getroffen zu haben. Es fehlten die Bühnen. Ammar 808 ist hier, der vielleicht prominenteste Lobbyist der alternativen tunesischen Musikszene. Mit dem durchtanzbaren Tribal-Pop-Album «Maghreb United» hat der mittlerweile in Belgien lebende Produzent 2018 die Utopie offener Grenzen zwischen Marokko, Algerien und Tunesien formuliert.

Auch die Band 10–20 Project aus Monastir lehnt sich mit ihrem introvertierten Stoner Rock gegen Grenzen auf; sie entwischt in die eigene Gedankenwelt. Der Name der eben erst formierten Band sei eine Referenz auf den Haschischpreis, der mit der Revolution von zehn auf zwanzig Dinar anstieg, wie mir Gitarrist Marwen erklärt. (Der Preis sollte nicht verhindern, dass Haschisch ungehindert zirkuliert. Schon gar nicht in einem Kulturreservat.)

Der Loop lockt

Nach zwei Tagen ist die Residenz ein Selbstläufer. Manchmal reichen ein paar repetitive Schläge auf einem Perkussionsinstrument, um Personen weg von Gesprächen, hin zu den Instrumenten und hinein in einen Loop zu locken. Wo immer man hingeht, fliesst Musik aus den Hütten und verdampft über den Dächern, alles irgendwie ziellos, aber nur selten beliebig. Ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit, bevor Musik in meinem Kopf mit Stolz und Erwartungen verdrahtet wurde. Die Grenzen zwischen Bands und Genres sind schnell aufgehoben, die Kommunikation an die Musik delegiert. Musik kenne keine Grenzen, heisst diese tausendfach gehörte Floskel, deren Inhalt ich nie anzweifelte, aber vielleicht zum ersten Mal wirklich nachempfinde. Das ursprüngliche Ziel des Aufenthalts, am Ende mit Albumaufnahmen dazustehen, gerät aus dem Fokus. Vielleicht verleitet uns diese archaische Umgebung dazu, nicht mehr zu tun, als Momente zu provozieren und wieder verstreichen zu lassen.

So widerstandslos die musikalischen Ansätze ineinandergreifen, so schwierig gestaltet sich die Planung des Festivals. Das Wetter schlägt eine Kapriole nach der anderen und wird verhindern, dass die Konzerte wie geplant auf Amars Anwesen stattfinden. Es ist der kollektiven Anstrengung der OrganisatorInnen zu verdanken, dass sich ein lokaler Alkoholbaron drei Tage vor Festivalstart davon überzeugen lässt, sein Ferienresort zur Verfügung zu stellen. Die Bühne wird stehen, bevor die ersten der rund 300 BesucherInnen eintreffen.

Donat Kaufmann ist Sänger und Gitarrist der Band One Sentence Supervisor und freier WOZ-Autor.

Erste Tracks des «Sailing Stones Tapes» sind auf der Projektwebsite zu finden: www.sailing-stones.com.