Kino: Islamismus als Alibi

Nr. 39 –

Warum ziehen junge Männer in den Dschihad? Das wollen die neuen Filme von André Téchiné und den Gebrüdern Dardenne verstehen – und bleiben dabei doch in einem Zirkelschluss hängen.

Und plötzlich wird Alex (Kacey Mottet Klein) zum Gotteskrieger: Das lässt neben seiner Grossmutter Muriel (Catherine Deneuve) auch das Publikum etwas ratlos zurück. Still: Xenix Film

Der Krieg in Syrien wird nicht zuletzt damit in die Geschichte eingehen, dass er ausländische Kämpfer angezogen hat wie kaum ein Konflikt der jüngeren Vergangenheit. Junge Männer aus aller Welt schlossen sich den verschiedenen Fronten des Krieges an, für oder gegen Assad, oder auch den für ihre Autonomie kämpfenden KurdInnen – ins kulturelle Bewusstsein aber haben es davon nur diejenigen geschafft, die zum Islamischen Staat (IS) gegangen sind.

Aus ihnen ist mittlerweile eine in Filmen und Erzählungen wiederkehrende Figur geworden. Mit den Mitteln der Fiktion versucht man, sie zu verstehen. Genau das könnte als Absichtserklärung über Filmen wie André Téchinés «L’Adieu à la nuit» stehen, der nun in der Schweiz anläuft, oder «Le Jeune Ahmed» von den Dardenne-Brüdern, der im Dezember folgt. Tatsächlich lassen sich die Filme besser umgekehrt lesen: als Musterbeispiele dafür, wie Filmemacher diese jungen Männer – und in Ausnahmefällen Frauen – begreifen, aber eben auch benutzen.

Das beginnt mit der implizierten Annahme, dass die Tat an sich unverständlich ist. Warum sollte ein junger Mann wie Alex (Kacey Mottet Klein) seine Heimat Frankreich verlassen wollen, um sich unter die islamistischen Gotteskrieger zu mischen? Téchiné setzt in seinem Film die Schwelle der Unverständlichkeit sogar noch etwas höher, da er Alex als jungen, weissen Mann zeigt, der keinerlei familiäre Bindungen an den arabischen Kulturraum oder den Islam hat.

Soll sie das Schwein erschiessen?

Wie um diesen Punkt zu verstärken, steht im Zentrum des Films auch nicht Alex selbst, sondern Catherine Deneuve als dessen Grossmutter Muriel. Die Besitzerin eines Pferdehofs wird gleich in der ersten Szene als souveräne Hüterin ihres Guts vorgestellt, als sie mit ihrem Vorarbeiter darüber berät, wie mit dem Wildschwein zu verfahren sei, das im Kirschgarten Schaden angerichtet hat. Den Zaun verstärken oder das Schwein erschiessen? Man begreift sofort, dass die Dame trotz ihres Alters zu entschlossenem Handeln fähig ist.

Die Szene ist in mehrfacher Hinsicht prophetisch, auch weil sich der Blick der beiden schliesslich gen Himmel wendet, wo die Sonne kurz verdunkelt wird. Denn Muriels Freude darüber, dass ihr Enkel Alex zu Besuch kommt, wird sich bald trüben, als sie befremdende Entdeckungen macht. Eine davon ist, dass er zum Islam übergetreten ist, ohne es ihr zu sagen. Die nächste, dass er Schecks von ihr gefälscht hat – und das nicht etwa, um die angekündigte Reise zum Vater nach Kanada zu finanzieren, sondern um nach Syrien zu kommen. Aber Muriel schreckt vor dezidierten Massnahmen nicht zurück, um das zu verhindern.

Interessanter als zu spekulieren, ob ihr die «Rettung» des Enkels gelingen wird, ist die Frage, was der Film als mögliche Motivationen für Alex’ Radikalisierung so auslegt. Da gibt es die etwas stereotyp gesetzte ödipale Struktur: Alex leidet noch immer unter dem verfrühten Tod seiner Mutter, der dazu führte, dass er bei der Grossmutter aufwuchs, als sich der Vater nach Kanada davonmachte. Hinzu kommt die nicht minder klassische Verführung durch die Freundin Lila (Oulaya Amamra), die aus einer algerischen Familie stammt. Sie arbeitet auch auf Muriels Hof, hat sich aber heimlich radikalisiert und predigt im Internet den Dschihad. An einer Stelle darf Lila immerhin ihren Job in der Altenpflege als Auslöser ihrer Konversion anführen: Wie der Westen mit seinen SeniorInnen umgeht, findet sie menschenverachtend.

Das radikal Andere

Alex und Lila wiederum stehen beide unter dem Einfluss von Bilal (Stéphane Bak), der die «Befreiung durch Regeln»-Rhetorik des Fundamentalismus am besten draufhat und über dessen Motivation der Film keine Hinweise gibt ausser der Suggestion eines Aussenseitertums aufgrund schwarzer Hautfarbe. Sosehr also der Film vorgibt, verstehen zu wollen, beharrt er doch gleichzeitig darauf, den islamischen Fundamentalismus als das radikal Andere auszugeben, als Fluchtpunkt für Verstörte und Ausgegrenzte. Der springende Punkt ist dabei nicht, dass diese Annahme grundfalsch wäre, sondern dass Filme wie «L’Adieu à la nuit» sie als Zirkelschluss wiederholen: Verstehenwollen verkommt zum blossen Vorwand des Filmemachens.

Dass an diesem Verdacht etwas dran ist, belegt auch «Le Jeune Ahmed», der neue Film der Dardennes. Mit ihrem typischen Handkamerastil folgen die belgischen Regisseure darin dem dreizehnjährigen Ahmed, der sich unter dem Einfluss eines lokalen Imams radikalisiert hat. Seine Mutter wie auch seine Lehrerin müssen erleben, wie der Junge, den sie bis vor kurzem noch als freundlich und anhänglich kannten, sie scharf zu kritisieren beginnt: die Mutter für ihre Kleidung und ihren Alkoholkonsum, die Lehrerin für ihren Umgang mit Ungläubigen, für die Ahmed sie bald aufs Schlimmste bestrafen zu müssen glaubt.

In seiner Dramaturgie folgt «Le Jeune Ahmed» exakt dem aus Filmen wie «L’Enfant» vertrauten Bogen von Krise und Wiedergutmachung. Er ist unverkennbar ein Dardenne-Film. Über die Gründe von Ahmeds Radikalisierung erfährt man so gut wie nichts, sie bleibt ein reines Alibi.

«L’Adieu à la nuit» läuft jetzt im Kino. «Le Jeune Ahmed» folgt am 5. Dezember 2019.

L’Adieu à la nuit. Regie: André Téchiné. Frankreich 2019

Le Jeune Ahmed. Jean-Pierre Dardenne und Luc Dardenne. Frankreich/Belgien 2019