Frankreich vor den Wahlen: In grausiger Erinnerung
Vor zehn Jahren verübte der 24-jährige Dschihadist Mohamed Merah eine blutige Anschlagsserie, im Zuge derer er sieben Menschen erschoss. Um Frankreich heute zu verstehen, drängt sich die Frage auf: Wie hat der Fall Merah das Land verändert?
Das Wiederaufflammen des islamistischen Terrorismus in Frankreich blieb zunächst unbemerkt. Seit mehr als sechzehn Jahren hatte das Land keine Attentate dieser Natur mehr gekannt, als am 11. März 2012 in Toulouse ein Unteroffizier durch einen Kopfschuss getötet wurde. Die Polizei hielt zunächst einen persönlich motivierten Racheakt für plausibel. Vier Tage später wurden in Montauban, ebenfalls im Süden des Landes, vor etlichen Zeug:innen zwei Soldaten erschossen, ein weiterer überlebte querschnittgelähmt. Abermals trug der Mörder einen Motorradhelm und flüchtete auf einem Motorroller.
Da alle vier Opfer dunkelhäutig waren, fokussierten sich die Ermittler:innen auf die rechtsextreme Szene. Am 19. März erreichte der Schrecken seinen Höhepunkt: Derselbe Täter erschoss vor und in einer jüdischen Schule von Toulouse einen Lehrer, seine beiden Söhne sowie ein kleines Mädchen und verletzte einen fliehenden Jugendlichen schwer. Die ermordeten Kinder waren drei, sechs und acht Jahre alt.
Doch erst als die Ermittler:innen den Todesschützen identifizierten und am 21. März in seiner Toulouser Wohnung umstellten, wurde klar, dass man es mit einem Dschihadisten zu tun hatte. Während der 32-stündigen Belagerung prahlte der 24-jährige Mohamed Merah, er sei zum «Gotteskrieger» ausgebildet und durch seinen Instruktor angewiesen worden, Anschläge in Paris auszuführen – was auch als Nächstes geplant gewesen sei. Nunmehr gedenke er mit der Waffe in der Hand zu sterben, wofür er in den Himmel kommen werde. Am 22. März wurde Merah, bei einem Ausbruchversuch um sich schiessend, getötet. In einem Brief hatte er frohlockt, er habe «Allahs Feinden den Schrecken ins Herz» eingeflösst.
Die These des «einsamen Wolfs»
Der Name Merah ist in Frankreich noch den meisten in grausiger Erinnerung. Im Ausland hingegen dürfte der Fall weitgehend vergessen sein. Dabei lässt sich an ihm ein Gutteil der Entwicklungen und Diskussionen der letzten zehn Jahre festmachen. Zum Beispiel die Polemik um die These des «einsamen Wolfs». Kurz nach Merahs Tod hatte der damalige Innenminister den Attentäter zum «loup solitaire» erklärt, der aus eigenem Antrieb und ohne Hilfe von aussen gehandelt habe. Dabei ging es vor allem darum, eigene Verfehlungen zu kaschieren. Unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy waren 2008 die beiden wichtigsten Inlandsnachrichtendienste zusammengelegt worden, um ein «FBI à la française» zu bilden. Der Fall Merah illustriert die Kollateralschäden der ebenso schlecht durchdachten wie umgesetzten «Reform».
2006 war der damals minderjährige Mohamed Merah erstmals auf dem Radar eines Nachrichtendiensts aufgetaucht, als er mit seinem Mentor Sabri Essid das Dorf Artigat besuchte, wo Olivier Corel eine Art Dschihadistenkommune gegründet hatte. Im Lauf der Jahre suchte Merah bei Kurzreisen nach Ägypten, in den Libanon, nach Syrien und vermutlich auch nach Palästina den Kontakt mit Gleichgesinnten. Im Oktober 2011 wurde er an der afghanisch-pakistanischen Grenze gesichtet, in Begleitung eines Mitglieds der al-Kaida nahestehenden Gruppe Jund al-Khilafah (die Soldaten des Kalifats), die sich fünf Monate später zu den Massakern von Toulouse und Montauban bekannte. Abgehört und beschattet, sollte Merah auf Wunsch der regionalen französischen Nachrichtendienste, die ihn als «hochgradig gefährlich» einstuften, zum Objekt einer Justizuntersuchung werden. Doch Ende 2011 ordnete die Zentrale in Paris die Einstellung der Überwachung an. 2013 gab der damalige Innenminister zu, die Behandlung des Falls habe «eine Lücke, einen Irrtum und einen Fehler» offenbart.
Die Bezeichnung «einsamer Wolf» trifft auf Mohamed Merah schon deshalb nicht zu, weil er von Anhänger:innen des Dschihadismus umgeben war. Bereits seine eigene Familie liefert augenfällige Beispiele – aber auch den Beweis, dass es keine Vorbestimmung gibt. Der künftige Terrorist und seine vier Geschwister hatten unter einer schwer dysfunktionalen, von Gewalt geprägten Erziehung gelitten. Einziger «Wert» sei «der Hass auf Juden und Christen, auf Frankreich, auf alles, was nicht muslimisch ist», gewesen, so der ältere Bruder Abdelghani. Dieser brach 2003 mit der Familie, als der dritte Bruder, Abdelkader, ihn bei einem Streit über die jüdischen Wurzeln seiner Frau mit dem Messer schwer verletzte. 2012 warnte er mit einem Buch, «Mon frère, ce terroriste», 2017 mit einem Protestmarsch von Marseille nach Paris vor der Gefahr des Islamismus.
Auch Aïcha Merah distanzierte sich früh vom rabiaten Fundamentalismus der Mutter, der Schwester Souad und der beiden Brüder Mohamed und Abdelkader. Erstere hingegen jubelte nach den Massakern in Toulouse und Montauban, ihr Jüngster habe «Frankreich in die Knie gezwungen». Die Zweite wanderte 2014 kurz vor der Ausrufung des «Kalifats» in die durch die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) besetzten Gebiete aus. Abdelkader wiederum wurde 2019 wegen Beihilfe an den Morden des jüngeren Bruders zu dreissig Jahren Gefängnishaft verurteilt.
Dschihadistische Kommune
Der Fall Merah geht indes weit über den Familienkreis hinaus. Er ist emblematisch für eine interne Entwicklung der französischen Dschihadist:innenszene, der grössten des Kontinents (sie stellte zwischen 2012 und 2018 rund 2000 der geschätzt 5000 europäischen IS-Kämpfer:innen). Der Toulouser Grossraum bildet die Hochburg dieser Szene, einzig vergleichbar mit der Gemeinde Molenbeek-Saint-Jean im Nachbarland Belgien. Den Grundstein dafür legte 1985 Olivier Corel, ein gebürtiger Syrer, der mit afghanischen Dschihadisten gegen die sowjetischen Besetzer:innen gekämpft hatte. Im ländlichen Artigat südlich von Toulouse gründete er eine offiziell der Herstellung von Töpferwaren gewidmete Genossenschaft. Im Lauf der Jahre empfing diese nicht nur Islamisten aus Afghanistan, Algerien, Pakistan, Saudi-Arabien und Syrien, sondern auch die Crème de la Crème des französischen Dschihadismus.
Zu den Schülern des «weissen Emirs» zählten unter anderem die Brüder Clain, zwei Konvertiten aus Toulouse, die die Pariser Anschläge vom 13. November 2015 mitplanten, Thomas Barnouin, ein Konvertit aus Albi, der zu den einflussreichsten Ideologen des IS zählt, sowie Mohamed Merahs Mentor Sabri Essid. Letzterer erlangte schauerliche Berühmtheit, als er 2015 seinen zwölfjährigen Stiefsohn vor laufender Kamera eine israelische IS-Geisel erschiessen liess. Von Berufs wegen ein Dealer aus dem Toulouser Problemviertel Les Izards, schloss Essid die kriminelle Szene mit der fundamentalistischen kurz.
Gewaltbereitschaft und islamistischer Eifer ergeben addiert Dschihadismus. So ist es kein Zufall, dass der erste französische «Gotteskrieger», der 2006 im Irak fiel, aus Les Izards stammte – wie auch die Merahs. Ehemalige Mitglieder der algerischen Groupes islamiques armés hatten der lokalen Islamist:innenszene bereits ihre kämpferische Grundfarbe gegeben; sie waren in ihrer Heimat am Ende des Bürgerkriegs 1999 aus der Haft entlassen worden und hatten sich in Toulouse niedergelassen. Abdelkader und Mohamed Merah bewegten sich in diesen Kreisen wie Fische im Wasser – ihre Mutter heiratete 2011 in zweiter Ehe Essids Vater.
«Guantánamo à la française»
Die Bedeutung von Merahs Anschlägen ist kaum zu überschätzen. Ihr Verlauf sowie die Reaktionen auf sie weisen Muster auf, die sich bei fast allen nachfolgenden Attacken wiederfinden. So der Reflex von Politiker:innen, bei jedem neuen Attentat die legislative Schraube anzuziehen. Von der seinerzeit erhobenen Forderung, die Rechtfertigung von Terrorakten unter Strafe zu stellen, haben sich manche im bürgerlichen und rechtsextremen Lager zur vorbeugenden Einsperrung ganzer Bevölkerungskategorien gesteigert – oder gar zur Schaffung eines «Guantánamo à la française», wie dies Éric Zemmour, der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat für die Wahlen im April, vorschlägt. Dass das nach dem 13. November 2015 ausgerufene Notstandsrecht 102 Wochen lang in Kraft blieb, zahlreiche Missbräuche zeitigte – etwa das Verbot von Umweltschutzdemonstrationen – und schliesslich zu einem Grossteil ins reguläre Recht übernommen wurde, geisselten nicht nur Menschenrechtler:innen.
Ständig wiederkehrend ist auch die Formulierung von Erklärungsmustern, die wie Passepartouts sämtliche Türen des Dschihadismus entriegeln sollen. Als Denkansätze bemüht wurden so die sektiererische Vereinnahmung, der Einfluss gewalthaltiger Videospiele, das Gefängnis als Rekrutierungsfeld, die kriminogene Atmosphäre von (Vor-)Städten, nicht zu vergessen die berühmte Kontroverse zwischen den Forschern Gilles Kepel («Radikalisierung des Islam») und Olivier Roy («Islamisierung der Radikalität»). Aus zeitlicher Distanz lässt sich festhalten, dass manche Theorien die Bewährungsprobe der Empirie besser bestanden haben als andere. Doch kennt jede Regel Ausnahmen: Zwischen Schwarz und Weiss finden sich zahllose Nuancen.
Ein Sensorium für derlei Schattierungen wünschten sich Gerichtsberichterstatter:innen auch bei den Prozessen, die mangels der bei ihren Anschlägen fast immer ums Leben gekommenen Haupttäter gegen (mutmassliche) Helfer:innen geführt werden. Die beiden Verfahren gegen Abdelkader Merah (2017 und zweitinstanzlich 2019) waren nicht nur die ersten ihrer Art, sondern auch Musterbeispiele für hohe Strafen bei geringer Beweislast. Kritiker:innen sprachen von «Stellvertreterprozessen», mittels derer ein Exempel statuiert werden solle.
Letztlich war Merahs Mordserie auch hinsichtlich der Wahl der Opfer richtungsweisend. Mehdi Nemmouche etwa, ein in Französisch-Flandern aufgewachsener IS-Scherge (und erklärter Bewunderer des Toulouser Terroristen), erschoss 2014 vier Personen im Jüdischen Museum von Belgien. Und auch bei der dreitägigen Anschlagserie von Januar 2015 wurden neben zwölf Personen im und um den Redaktionssitz des Pariser Satireblatts «Charlie Hebdo» vier Menschen in einem jüdischen Supermarkt ermordet. Eine Polizistin, die am zweiten Tag dieser Attacken in einer Vorstadt den Tod fand, gehört neben den «gotteslästerlichen» Journalist:innen und den jüdischen «Erzfeinden» einer dritten Kategorie an: jener der (bewaffneten) Vertreter:innen der Staatsgewalt. Nicht von ungefähr hatte Merah Uniformträger zum Ziel erkoren – spezifischer: nichtweisse Militärangehörige, die in seinen Augen Verräter waren. Seit 2012 sind in Frankreich 9 Polizist:innen und Soldaten durch Dschihadisten ermordet und 28 weitere verletzt worden.
Attacken auf Vertreter:innen der Ordnungskräfte gehorchen dem Wahlspruch der Dschihadisten: «Loyalität und Lossagung». Hatten sich Frankreichs «Gotteskrieger» im vergangenen Jahrzehnt gewaltsam von ihren «Feinden» (die zugleich Mitbürger:innen sind) loszureissen versucht, dürften sie im laufenden Dezennium vor allem die Treuebande zu ihren «Freunden» fester knüpfen. Hugo Micheron, Autor des Standardwerks «Le Jihadisme français», verzeichnet eine Abwendung von den allzu blutigen Methoden des IS. Mässigung der Eiferer, «Konversion» von Kleinkriminellen und Ausbildung der nachfolgenden Generationen in Privatschulen lauten nunmehr die Losungen der rund 500 «Gotteskrieger», die in Frankreichs Gefängnissen ihrer Haftentlassung in den nächsten Jahren entgegensehen.
Das Endziel ist freilich unverändert: von 2000 auf sechs Millionen Anhänger:innen anzuwachsen (Letzteres die geschätzte Zahl der Muslim:innen im Land), um die Republik von innen auszuhöhlen und ihre demokratischen Rechtsprinzipien durch die Scharia zu ersetzen.