Zivilisation: Die grosse Freiheit bei den «Barbaren»

Nr. 42 –

Ein Buch schreibt die Frühgeschichte der Staatenbildung neu: Damals profitierte vor allem die Oberschicht, während die Bevölkerung stets versucht war, zu staatslosen NomadInnen zu werden.

War die Herausbildung der ersten Staaten ein Fluch oder ein Segen? In seinem Buch «Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten» zieht der 82-jährige US-Politologe und Agrarwissenschaftler James C. Scott eine überwiegend negative Bilanz. Den grössten Teil ihrer Existenz war die in kleinen Gruppen umherschweifende Menschheit auch ohne Herrschaftszentren ganz gut über die Runden gekommen. Wildtiere jagen und eine grosse Zahl von Naturprodukten ernten – beides übrigens keineswegs vom Zufall abhängige, sondern durchaus planvolle Tätigkeiten – boten die Grundlage für ein auskömmliches Leben, das viel Raum liess für Spiel und andere Formen der Geselligkeit.

Im Licht neuerer archäologischer Erkenntnisse, auf die sich Scott stützt, verlieren bislang weitverbreitete Annahmen über die erste Phase der Staatsentwicklung an Plausibilität. So ist mittlerweile widerlegt, dass feste Wohnsitze als Folge der Bewirtschaftung von Getreidefeldern eingerichtet wurden. In Feuchtgebieten am Rand saisonaler Wanderwege von Vögeln, Fischen und Wild im Süden Mesopotamiens – dem heutigen Irak – war die Sesshaftigkeit verbreitet, lange bevor die ersten BäuerInnen Landwirtschaft betrieben. Ebenso irrig ist die Vorstellung, dass der Staat entsteht, sobald mit Landwirtschaft und sesshafter Bevölkerung die Grundvoraussetzungen dafür vorhanden sind.

Mauern ums Volk bauen

Während sich erste Kulturpflanzen und sesshafte Gemeinschaften schon vor 12 000 Jahren nachweisen lassen, mussten noch mehrere Tausend Jahre vergehen, bis um 3100 v. Chr. im mesopotamischen Schwemmland zwischen Euphrat und Tigris die ersten kleinen Staaten entstanden. Auf deren Territorium änderten sich die Lebensumstände für die Mehrzahl der Menschen dramatisch – und zwar nicht zum Besseren. Die Getreidewirtschaft bedeutete härtere Arbeit, eine eintönigere Kost und zudem ein grösseres Risiko, unter Mangelernährung zu leiden.

Die Ansiedlung vieler Menschen und Tiere führte zu tödlichen Epidemien, die frühe Staaten immer wieder zum Verschwinden brachten. Trotzdem förderten viele Staaten diese Art der Bewirtschaftung weiter. Denn der Getreideanbau bildete die Grundlage für eine regelmässige und von den Behörden gut kalkulierbare Erhebung von Steuern. Ausserdem liess sich die an einem Ort konzentrierte Bevölkerung leichter kontrollieren.

Zunächst war der Staat fast nur für die Elite, aber kaum für die Untertanen von Vorteil. Da es der überwiegenden Mehrzahl der Menschen im Durchschnitt schlechter ging als zuvor, war es keineswegs ungewöhnlich, dass die Untertanen des frühen Staates die Landwirtschaft aufgaben und sich von den Zentren entfernten, um den Steuereintreibern und dem militärischen Zwangsdienst zu entgehen. In die Grenzregionen auszuweichen, bot einen weniger gefährlichen Ausweg aus der Knechtschaft als die Rebellion. Scott spricht von einer freiwilligen «Selbstnomadisierung», die zur Folge hatte, dass es sich bei einem Grossteil der an den Rändern lebenden Nomaden weniger um zurückgebliebene «Wilde» als um politische oder Wirtschaftsflüchtlinge handelte.

Herrschaft der Elite

Der Oberschicht war diese Abwanderung ein Dorn im Auge. Sie lebte von der Arbeit der GetreidebäuerInnen, erwarb Luxusprodukte, die HändlerInnen von weit her heranschafften. Schwand die Bevölkerung, so drohte ein Verlust demografischer und militärischer Stärke und somit der Grundlage für die Herrschaft der Elite. In den von ihr angezettelten Kriegen ging es weniger darum, Territorien zu erobern, als darum, Gefangene zu machen, die als Arbeitskräfte auf den Feldern oder im Rahmen von Grossbauprojekten ausgebeutet werden konnten. Der sumerische König Sulgi liess eine 250 Kilometer lange Landbefestigung zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat errichten, um seine UntertanInnen an der Flucht zu hindern. Die Mauern, die chinesische Herrscher an ihren Grenzen errichten liessen, dienten offiziell dazu, die Angriffe räuberischer Nomaden abzuhalten. Ebenso wichtig war indes eine andere Funktion: Sie sollten die von ihnen eingeschlossene Bevölkerung davon abhalten, zu den «Barbaren» überzulaufen.

Im letzten Kapitel seines Buchs legt Scott den Gedanken nahe, dass es sich bei staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften keineswegs um verschiedene Stufen eines Zivilisationsprozesses handelte. Die Gemeinwesen der Staatsflüchtlinge grenzten sich bewusst von den benachbarten Staaten ab und unterhielten zudem Handelsbeziehungen, die für beide Seiten gewinnbringend waren.

Auf diese Weise wurden die frühen Herrschaftszentren und die benachbarten staatslosen Gesellschaften so etwas wie «heimliche Zwillinge», die in einer Art von Ko-Evolution miteinander verbunden waren. Wer ihr konfliktreiches Zusammenspiel in den Blick nimmt, so legt es Scotts glänzend geschriebene Untersuchung nahe, vermag ein realistischeres Bild weiter Teile der Geschichte zu zeichnen.

James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. 328 Seiten. 47 Franken