Kost und Logis: Nieder mit den Hochkulturen

Nr. 14 –

Bettina Dyttrich wäre gern vor 10 000 Jahren anders abgebogen

Der älteste Schuh der Welt liegt im Historischen Museum Eriwan, Armenien. «Schuh» ist fast zu viel gesagt: Er besteht aus einem einzigen Stück Leder, über dem Rist zusammengenäht. Mit Stroh ausgestopft, liegt er, 5500 Jahre alt, in einer Vitrine. Ich versuche, mir vorzustellen, wer ihn getragen hat.

Schon als Kind haben mich frühgeschichtliche und ethnologische Sammlungen mehr fasziniert als das, was später kam und/oder als «zivilisiert» galt. Die aufs Wesentliche reduzierten Gebrauchsgegenstände der San in Namibia, ein gemalter Sternenhimmel auf einer sibirischen Trommel oder eine uralte Bärenskulptur aus Oregon berühren mich viel mehr als fast alle Kunst der sogenannten Hochkulturen, seien sie indisch, aztekisch oder römisch. Auch in der beeindruckenden archäologischen Sammlung von Eriwan bleibe ich in der Stein- und Bronzezeit stecken: bei Tier- und Menschenfiguren aus Stein und Ton, die in ihrer Reduktion an Kunst des 20. Jahrhunderts erinnern, bei den ersten Darstellungen von Erde, Sonne und Planeten. Dann folgen Streitwagen mit grossen, hölzernen Scheibenrädern, dann die erste «Hochkultur», das Reich Urartu: Grössenwahn, Zwangsarbeit und Krieg.

Ja, ich bin voreingenommen. Aber immer deutlicher zeigt sich, dass die alte Fortschrittsgeschichte grundfalsch ist: Die Menschen der frühen Reiche lebten viel schlechter als ihre VorfahrInnen, assen fast nur Getreide, litten an Mangelerscheinungen und schufteten wie die Ochsen. Das lässt sich an ihren Skeletten ablesen.

Der US-amerikanische Agrarspezialist James C. Scott hat mit «Against the Grain» ein sehr lesbares, eindringliches Plädoyer gegen die Fortschrittsgeschichte geschrieben. Er zeigt, wie fragil die frühen Reiche waren: Wer konnte, verliess sie, denn das Leben ohne ausbeutende Klasse war viel angenehmer. Eine von Scotts Thesen: Es ist kein Zufall, dass das Züchten von Nutztieren und das «Züchten» von Menschen – als SklavInnen und in der patriarchalen Familie – in der gleichen Epoche begann. Jäger, Sammlerinnen und frühe BäuerInnen hatten gar kein Interesse, möglichst viele zu sein. Die ersten Reiche brauchten hingegen Menschen als Soldaten und Zwangsarbeiterinnen. Sie führten Kriege weniger um Territorien als um Gefangene. Ja, sie waren ganz schön unsympathisch, diese «Hochkulturen». Dazu kamen noch die ganzen Krankheiten, die auf die Menschen übersprangen, weil sie erstmals eng mit Nutztieren zusammenlebten: ein Thema, das uns gerade wieder um die Ohren fliegt.

Die SiegerInnen schreiben die Geschichte – und betrügen sich selbst. 95 Prozent seiner Geschichte lebte der Homo sapiens in relativ egalitären, mobilen Kleingruppen. Die Sehnsucht danach ist geblieben – vielleicht erklärt das, warum sozialistische Ideen einfach nicht aussterben. Aber wie können wir die egalitäre Gesellschaft heute umsetzen, in einer von «Hochkulturen» beschädigten Welt?

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin und empfiehlt: Lest «Against the Grain»! Auf Deutsch ist es als «Die Mühlen der Zivilisation» im Suhrkamp-Verlag erschienen (siehe WOZ Nr. 42/2019 ).