Flüchtlinge in Libyen: In den Fängen der Milizen

Nr. 44 –

Bomben, Folter, Bürgerkrieg: Die in Libyen festsitzenden MigrantInnen erleben Unvorstellbares – während die Welt wegschaut.

  • Kein Entkommen: Immer wieder werden Flüchtlingsboote von der libyschen Küstenwache auf See abgefangen und die MigrantInnen zurück in die berüchtigten Camps gebracht, etwa ins Lager Trik al-Sikka in Tripolis. Andere leben auf der Strasse, wo sie kaum Hilfe erhalten.

Es war Ende April, als Nafisa Saed Musa und ihr Sohn Abdullah al-Taib aus dem Distrikt Ben Gaschir im Süden von Tripolis flohen – aus Furcht vor den Bomben. Der Krieg hatte die Stadt einige Wochen zuvor erreicht, als General Chalifa Haftar am 4. April eine Offensive gegen die Hauptstadt startete und damit gegen die Regierung der Nationalen Einheit (GNA) vorrückte – diejenige Regierung Libyens also, die von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wird und die von Premierminister Fajis al-Sarradsch in Tripolis geleitet wird.

Seit dieser Offensive hat sich der Krieg in Libyen tiefgreifend verändert. Es handelt sich nicht länger nur um einen Bürgerkrieg zwischen zwei konkurrierenden Regierungen, die sich seit Jahren schon bekämpfen, die eine mit Sitz in Tripolis, die andere mit Sitz in al-Baida im Nordosten des Landes. Vielmehr hat sich der Konflikt nun zu einem Stellvertreterkrieg entwickelt: Libyen ist reich an Ressourcen, das Land hat die neuntgrössten Ölreserven der Welt, und so diktieren inzwischen die widerstreitenden Interessen und Ziele der Golfstaaten, Russlands und Ägyptens massgeblich den Verlauf des Konflikts.

In den seither vergangenen sechs Monaten sind 120 000 Menschen vor den Kämpfen geflohen, es gab etwa 1000 Tote, darunter 100 ZivilistInnen. Erst vor zehn Tagen starben drei Mädchen in al-Farnadsch, einem dicht besiedelten Vorort von Tripolis, als Haftars Kampfflugzeuge diesen bombardierten und die Kinder während der Mittagszeit unter Schutt begruben.

Auf der Flucht entführt

Auch MigrantInnen wie Nafisa Saed Musa und ihr Sohn bezahlen den Preis dieses Konflikts; sie sind vor dem Krieg im Sudan geflohen und suchen einen Weg nach Europa. Nun aber sitzen sie in einem Land fest, aus dem immer weniger Wege hinausführen. Die Geschichten dieser MigrantInnen sind kaum zu ertragen, wie so vieles, was man in dem nordafrikanischen Land zu hören bekommt. Und es sind fast immer dieselben Schlagwörter, aus denen diese Erzählungen bestehen: Krieg, Tod, Flucht, Hoffnung und dann schliesslich Folter und Gefängnis.

Nafisa Saed Musa und Abdullah al-Taib hatten sich auf den Weg nach Libyen gemacht, nachdem ihr Dorf in Darfur bei einem Angriff der Dschandschawid-Miliz niedergebrannt worden war; Musas Mann und ihre beiden anderen Söhne waren dabei getötet worden. «Meine Mutter und ich sind von einer Stadt zur nächsten gezogen, doch der Krieg blieb uns ständig auf den Fersen», sagt Taib. In Libyen wurde der 27-Jährige von einer Gang, die Lösegeld erpressen wollte, gekidnappt. Zwei Monate lang wurde er festgehalten. Musa erzählt, wie andere Geflüchtete aus Darfur zusammenlegten, um das Lösegeld für ihren Sohn zu bezahlen. «Manche gaben zwanzig Dinar, andere fünfzig, bis wir das Geld beisammen hatten. Die anderen Leute aus Darfur wussten, dass ich nicht genug hatte – und dass er das einzige Kind ist, das mir geblieben ist», sagt die 44-Jährige.

Wenn er seine Geschichte erzählt, zeigt Abdullah al-Taib die Narben unter den Ärmeln seines Hemds. Er lächelt nie. «Ich bin von dem Feuer in meinem Dorf, das meinen Vater und meine Brüder getötet hat, verschont geblieben, weil ich mit meinem Onkel auf dem Feld am Arbeiten war. Es ist nichts übrig geblieben: nichts vom Dorf, nichts von meiner Familie.» In Libyen war es eine bewaffnete Miliz aus Umm al-Aranib, die ihn entführte. Von dort aus wurde er in die gut zwei Autostunden entfernte Stadt Sebha gebracht. Monate der Folter verwandelten seinen Körper in eine Landkarte der Gewalt.

«Sie sagten zu mir: ‹Wenn du kein Geld hast, dann ruf deine Familie an, und lass dir Geld schicken. Wenn du keine Familie hast, kannst du wählen, ob du arbeiten oder kämpfen willst. Wer sich aber widersetzt, der stirbt.› Ich habe wirklich viele um mich herum sterben sehen», sagt Taib. «Ich werde nie vergessen, was ich dort erlebt habe.»

Nach Taibs Freilassung erreichten er und seine Mutter endlich Tripolis, wo sie sich zum Büro des UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, begaben, sich registrieren liessen und um internationalen Schutz ersuchten. Schliesslich fanden sie Unterschlupf bei einer sudanesischen Familie im nahe gelegenen Ben Gaschir. Einen Monat später begann der Krieg.

Nafisa Saed Musa schaut ihren Sohn an. «Alles, was ich mir wünsche, ist ein Leben in Würde. Und ich träume davon, dass mein Sohn Europa erreicht. Ich stelle mir dann vor, wie ich ihn dort arbeiten und lächeln sehe.» Nachdem sie zu Beginn der Offensive auf Tripolis aus Ben Gaschir geflohen waren, wurden sie in einer Schule in der Innenstadt untergebracht, gemeinsam mit sechzig anderen Familien. Die humanitäre Organisation Roter Halbmond kümmerte sich dort um die MigrantInnen. Musa und Taib hatten zwar nur wenig zu essen und zu trinken, aber zumindest ein Dach über dem Kopf.

Aber auch dort konnten die beiden wegen des neu entflammten Krieges nur ein paar Wochen bleiben. Der Besitzer entzog dem Roten Halbmond die Erlaubnis, das Gebäude zu benutzen; er beugte sich damit dem zunehmenden Groll vieler LibyerInnen, die argwöhnten, dass wegen der vielen MigrantInnen aus dem Ausland die innerlibyschen Flüchtlinge keine humanitäre Hilfe erhalten würden.

Was tut die Uno?

Seither leben diese Familien auf der Strasse. Manche haben zumindest Matratzen, andere nicht einmal das. Einige haben sich in einer Unterführung eingerichtet. Auch Musa und Taib schlafen nun dort, genauso wie zahlreiche Frauen und fünfzehn Kinder, von denen einige erst wenige Monate alt sind.

Asaad al-Dschafir, ein Mitarbeiter des libyschen Roten Halbmonds, versucht zu helfen, wo er kann – auch denen, die auf der Strasse leben. «Es ist eine unzumutbare Situation», sagt er. «Für die Männer ist es gefährlich, weil sie entführt und dazu gezwungen werden könnten, in den Milizen zu kämpfen. Und für die Frauen ist es gefährlich, weil sie entführt und vergewaltigt werden könnten.» Während er spricht, deutet Dschafir mit der Hand auf die dreckigen Matratzen auf dem Boden und die Eimer mit Schmutzwasser, die die nichtexistenten sanitären Anlagen ersetzen sollen. Manchmal gehen die Menschen hier in die Moschee, um den Waschraum dort zu benutzen – zumindest ihre Kinder können sie dort sauber machen.

Asaad al-Dschafir sagt, dass er die Vereinten Nationen seit Monaten um Hilfe ersuche, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. «Die Vereinten Nationen stehen in der Verantwortung. Man hört Uno-Vertreter, die im Fernsehen erklären, dass sie nicht länger die Menschen im Meer sterben sehen möchten. Ich frage mich allerdings, wo der Unterschied liegt, wenn sie nicht im Meer, sondern mitten auf der Strasse sterben», sagt er. Die Uno betone gerne die Bedeutung der Menschenrechte. «Hier haben Sie die Menschen, wo aber sind ihre Rechte?» Das Registrierungsbüro des UNHCR liegt auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Die Familien schlafen in der unmittelbaren Nähe des Büros, damit sie dort öfter um Auskunft und Hilfe bitten können.

Jeden Morgen reihen sich wieder Frauen vor dem UNHCR-Büro auf, um ihre Hilfsgesuche vorzutragen – und kehren doch jedes Mal aufs Neue mit leeren Händen zurück. Und das, obwohl sie Angst haben müssen, bei einem Luftangriff getötet zu werden.

Dschafir betont: «In Tripolis gibt es inzwischen keinen Ort mehr, an dem man sich vor Bomben sicher fühlen kann. Die Leute haben sich entschieden, hier zu leben, weil in nur fünfzig Metern Entfernung eine Militärbasis liegt. Sie glauben, deswegen vor den Milizen in Sicherheit zu sein. Dabei sind die Militärbasen die primären Ziele, die Haftar bombardieren lässt.»

In den vergangenen, gewalttätigen Monaten in Tripolis haben humanitäre Organisationen immer wieder eindringlich darauf hingewiesen, dass rund 6000 Geflüchtete in Lagern untergebracht sind, die sich in unmittelbarer Nähe zur Front befinden. Laut einer Erklärung des UNHCR wurden am 8. Mai bei einem Bombenangriff in der Nähe eines Lagers mit über 500 MigrantInnen zwei Menschen verletzt. Auch Ende April gab es Meldungen, dass ein Flüchtlingscamp attackiert worden war. Der schwerwiegendste Angriff ereignete sich am 2. Juli in Tadschura bei Tripolis, als ein Luftschlag ein Lager traf, in dem laut UNHRC gut 600 Menschen eingesperrt waren. Mindestens 53 Personen wurden beim Angriff getötet und 130 verletzt.

Nur sieben Kilometer zur Front

Muhammad Balewa, der eigentlich anders heisst, war aus Ghana geflüchtet und in Tadschura interniert. Er überlebte das Bombardement und hielt sich danach versteckt, um nicht in die Hände der Milizen zu geraten. Vor drei Wochen versuchte er, das Mittelmeer zu überqueren. Aber das Boot wurde von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht. Jetzt befindet er sich im Flüchtlingslager Trik al-Sikka in Tripolis.

Trik al-Sikka ist eines der Lager, das nominell vom libyschen Innenministerium verwaltet wird. Doch die Grenze zwischen Legalität und Illegalität ist fliessend, sodass unklar ist, wie viele Lager tatsächlich von der Regierung verwaltet werden und wie viele in den Händen der Milizen sind. Neben den offiziellen Lagern gibt es zudem Dutzende Einrichtungen, die direkt von Schleppern betrieben werden. Um diese geht es besonders häufig, wenn MigrantInnen Fälle von Folter und Erpressung schildern. Muhammad Balewa musste solche Misshandlungen monatelang erdulden, sowohl in legalen wie in illegalen Lagern, sowohl an der Südgrenze Libyens wie auch in der Wüste und in der Küstenregion.

In Tadschura beobachtete er, wie die Milizen ungestört das Lager betreten konnten, obwohl es eine staatliche Einrichtung ist. «Die Wärter waren eingeschüchtert oder hatten Vereinbarungen mit den Milizen getroffen. Oft haben sie den Milizionären nachts die Türen geöffnet, und diese haben dann Migranten verschleppt, zu Sklavenarbeit gezwungen und als Druckmittel benutzt, um Lösegeld zu erpressen», erzählt er. Balewa trägt immer noch dieselben Kleider wie in der Nacht, als er von der Küstenwache aufgegriffen wurde. An seinen Hosen und seinem Sweatshirt sieht man noch die Spuren des Meersalzes. Drei Wochen sind seither vergangen, er hat seine Schuhe auf See verloren und läuft barfuss.

Im Flüchtlingslager Trik al-Sikka befinden sich ungefähr 300 Menschen, fast alle in dem Bereich, der für Männer vorgesehen ist. Dieser ist faktisch ein Käfig: Um hineinzugelangen, muss man durch zwei Tore mit Vorhängeschlössern hindurch, und überall sind Drahtzäune. Ein Mann aus Marokko steht auf und grüsst mit den Worten: «Willkommen in der Hölle.» Es gibt sechs Toiletten, alle sind verstopft. Auf dem Boden liegen Kranke, um die sich niemand kümmert, und auch ein Junge, der seine Beine nicht bewegen kann.

Am Ende des Raumes betet jemand, die anderen liegen ausgestreckt auf dreckigen Matratzen, schlagen die Zeit tot und rufen laut, wenn sie in der Ferne eine Bombe detonieren hören. Die Front ist nur sieben Kilometer entfernt.

Muhammad Balewa hat den Blick einer Person, die dem Tod schon ganz nahe war und die trotzdem noch am Leben ist. In seinen Augen glühen gleichzeitig Furcht und Stärke. Und die Erinnerung an seine Frau und die Kinder. «Ich habe sie das letzte Mal in der Nacht gesprochen, als ich versucht habe, übers Mittelmeer zu gelangen», erzählt er. «Als mich die Küstenwache hierhergebracht hat, haben mir die Soldaten meinen letzten kleinen Rest an Geld und mein Telefon genommen. Meine Frau weiss nicht, wo ich bin – und dass ich überhaupt noch lebe.»

Ein schmutziges Geschäft

Vor sechs Monaten ernannte die Regierung der Nationalen Einheit Mabruk Abdulhafid zum Direktor des Ministeriums zur Bekämpfung der illegalen Migration (DCIM). Abdulhafid soll die Institution reformieren, sein Vorgänger war in einen Bestechungsskandal verwickelt. Doch Abdulhafid befindet sich in einer schwierigen Lage: Sich in den libyschen Menschenhandel einzumischen, bedeutet, sich mit mächtigen Stämmen und Clans anzulegen. «Wir glauben, dass sich in den neun Lagern, die formal unter unserer Kontrolle stehen, etwa 6000 Menschen aufhalten. Zugleich gibt es geschätzte 700 000 illegale Immigranten in Libyen», sagt er in seinem Büro in Tripolis. «Es gibt Lager ausserhalb unserer Kontrolle, sowohl im Osten wie im Westen des Landes. Ich versuche, das zu ändern. Wir haben bereits drei Lager geschlossen, nach den Bombardements etwa diejenigen in Tadschura. Diese befanden sich tatsächlich in der Hand bewaffneter Gruppen.» Nun wolle er das Lager in Zawiya ins Visier nehmen. Das sei allerdings schwierig: «In der Region überschneiden sich viele verschiedene wirtschaftliche Interessen.»

Tatsächlich kontrolliert die Miliz, die in Sawija – gut fünfzig Kilometer westlich von Tripolis – das Flüchtlingslager betreibt, dort auch den Menschenhandel und die örtliche Küstenwache, wie aus einem Bericht der Uno von 2017 hervorgeht. Dieser zeigt zudem auf, wie das schmutzige Geschäft funktioniert: Der Clan kontrolliert über die Küstenwache, wer das Meer passieren darf und wer nicht. Nur die vom Clan zugelassenen Boote dürfen in Richtung Europa fahren, alle anderen Flüchtenden werden abgefangen und in ein Lager gebracht, das ebenfalls in der Hand der Miliz ist. Das Geschäft mit der Internierung und das Geschäft mit den Booten sind demnach zwei Seiten derselben Medaille. Dies ist bezeichnend für das Abkommen, das Italien und Europa 2017 mit Libyen geschlossen haben und das die libysche Regierung mit Geldern versorgen sollte, um sowohl die Küstenwache zu stärken als auch die Bedingungen in den Lagern zu verbessern.

Hochschwanger und allein

Auch Naima Fadihallah war in Ben Gaschir, als der Krieg begann; ihre Tochter wurde sechs Tage nach dem Start der Offensive geboren. Zur selben Zeit wurde ihr Mann zum zweiten Mal von den Milizen gekidnappt. Das erste Mal war er nach Sebha verschleppt worden, wo er Zwangsarbeit verrichten musste, bis seine Familie im Sudan einen Weg gefunden hatte, das Lösegeld zu bezahlen.

Nun ist Fadihallah wieder allein und lebt wie die anderen Familien auf der Strasse; gemeinsam mit ihrer Tochter, die inzwischen sechs Monate alt ist. «Ich habe Angst. Es gibt keinen Ort, wo wir hingehen könnten. Ich gehe jeden Tag zum Büro des UNHRC und sage, dass ich Hilfe brauche. Ebenso gehe ich zur Polizei und zur Internationalen Organisation für Migration. Ich will wissen, ob mein Mann in einem Lager ist. Ich hoffe, er lebt und wird nicht gezwungen, für die Milizen zu kämpfen.»

Dann wiegt sie ihr kleines Kind in den Armen und blickt zu einer Frau, die in der Nähe sitzt: Auch sie ist allein und hochschwanger. Naima Fadihallah sagt: «Wir wissen, dass uns niemand helfen wird. Aber bitte helft uns.»

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Hackbarth.

Aus dem Lager ins Ungewisse

Im September gab die Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR bekannt, dass sie mit der Regierung Ruandas ein Abkommen zur Übernahme von Geflüchteten aus den libyschen Auffanglagern unterzeichnet hat. Über hundert Personen, die als besonders verletzlich eingestuft wurden, sind seither in den ostafrikanischen Staat ausgeflogen worden. Dort sollen sie entweder ein Aufenthaltsrecht erhalten oder in ein anderes Land – nach Möglichkeit das Heimatland – transferiert werden. Ruanda wird seit zwanzig Jahren vom zunehmend autoritär agierenden Präsidenten Paul Kagame regiert.

Das Abkommen knüpft an den von Uno und EU finanzierten Notfalltransitmechanismus an, in dessen Rahmen seit 2017 fast 3000 Personen von Libyen in den Sahelstaat Niger gebracht worden waren. Die Praxis wird von Flüchtlingsorganisationen kritisiert: Der Transit drohe «für viele zur Endstation zu werden», schreibt etwa die deutsche NGO Pro Asyl.

EU-Flüchtlingspolitik : Pushbacks vor Malta

Mehrere Ereignisse in diesem Monat lassen erkennen, wie düster sich die Situation auf dem Mittelmeer derzeit für jene präsentiert, die vor den dramatischen Zuständen in Libyen fliehen. Zum einen haben die AktivistInnen von Alarmphone, der zivilen Koordinationsstelle für Seenotrettung, einen Fall von vorletzter Woche publik gemacht: Die maltesische Rettungsleitstelle unterliess die Hilfeleistung für ein Boot mit etwa fünfzig Personen an Bord, nachdem dieses in Seenot geraten war. Das veröffentlichte Transkript des Telefongesprächs mit der maltesischen Behörde lässt darauf schliessen, dass die Rettung der Menschen über Stunden verschleppt wurde, obwohl sich das Boot klar in der Such- und Rettungszone (SAR-Zone) Maltas befand. Stattdessen wurden die Flüchtenden von einem Schiff der libyschen Küstenwache aufgegriffen. Das Vorgehen der maltesischen Behörden wurde mittlerweile von mehreren RechtsexpertInnen scharf verurteilt. Der UNHCR-Sonderbeauftragte Vincent Cochetel liess verlauten, dass es Hinweise auf eine Absprache Maltas mit der libyschen Behörde gegeben habe. Beweise dafür, dass das Vorgehen System habe, gebe es derzeit aber nicht. Die Rettungsorganisation Sea Watch hingegen berichtete, dass ähnliche Situationen schon mehrfach beobachtet worden seien.

Wie sehr die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer unter Druck steht, zeigt zum anderen ein schockierender Fall vom letzten Samstag: Von Schnellbooten der EU-finanzierten sogenannten libyschen Küstenwache aus seien Warnschüsse auf ihr Rettungsschiff Alan Kurdi abgegeben worden, berichtete die Rettungsorganisation Sea Eye. Die Crew habe sich gerade mitten in einem Rettungseinsatz befunden.

Nur kurz davor, am Donnerstag, hat das EU-Parlament einen Vorstoss abgelehnt, gemäss dem endlich wieder europäische Such- und Rettungsoperationen hätten lanciert werden sollen. Verantwortlich für den knappen negativen Entscheid waren die Fraktionen der bürgerlichen Volks- und der Rechtsaussenparteien. Er zeigt auf, wie es um ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber jenen Menschen steht, die der libyschen Hölle zu entkommen versuchen. Schon jetzt ist 2019 das sechste Jahr in Folge, in dem mindestens tausend Menschen bei der Flucht übers Mittelmeer ums Leben kamen.

Raphael Albisser