Repression in Russland: Über die rote Linie hinaus

Nr. 47 –

Razzien, Strafverfahren, Rufmordkampagnen: Wenn NGOs versuchen, die Verbrechen unter Stalin aufzuarbeiten, geraten sie ins Visier der Justiz.

Staatlich sanktionierte Erinnerungskultur: Trauerwand für die Opfer sowjetischer Strafgefangenenlager im Zentrum Moskaus. Foto: Sergey Guneev, Sputnik

Historische Erinnerungsdebatten erleben in Russland einen regelrechten Boom – insbesondere die Repression unter dem Stalinismus schlägt zurzeit hohe Wellen. Diesbezüglich herrscht oft nur bedingt auf wissenschaftlichen Fakten gründender Meinungspluralismus. Im Kampf um die Deutungshoheit konkurrieren kirchliche, politische und zivilgesellschaftliche Kreise, deren Agenda von der kritischen Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen bis hin zu deren Leugnung reicht.

Indem die russische Führung vor zwei Jahren im Moskauer Stadtzentrum eine Trauerwand für die Opfer der sowjetischen Straflager (Gulag) eröffnete, gab sie ihrerseits eine Art Leitlinie vor. In die offizielle Gedenkkultur hat der Gulag damit zwar endgültig Einzug gehalten – die Benennung der Verantwortlichen gehört dabei jedoch nicht zum staatlich sanktionierten Bildungsauftrag.

Bussen für Gedenkstätte

Die kritische historische Aufarbeitung birgt indes durchaus reale Gefahren, insbesondere weit abseits der russischen Hauptstadt: So tauchte Ende Oktober in den Permer Büros der Menschenrechtsorganisation Memorial die Polizei auf. Unter Anleitung des Inlandsgeheimdiensts FSB durchsuchte sie das Büro und die Wohnung von Memorial-Chef Robert Latypow.

Die vordergründige Rechtfertigung der Razzia: Strafermittlungen, die im Sommer wegen illegaler Waldrodung in der teils nur schwer zugänglichen Taiga eingeleitet worden waren. Dass der geringe Sachschaden von 1150 Euro gleich den FSB auf den Plan ruft, legt jedoch die Vermutung nahe, dass den Staatsschutz weniger die Sorge um schwindende Waldbestände umtreibt – sondern vielmehr die Massregelung eines unbequemen Zeitgenossen.

Latypow organisiert seit Jahren Expeditionen in der Region Perm, wo Deportierte unter Stalin in sogenannten Sondersiedlungen ihr Leben fristen mussten. Damit hält Latypow die Erinnerungen an eine unrühmliche Epoche wach. 2016 stellten im längst nicht mehr bewohnten Ort Galjaschor, einst eine Sondersiedlung, die Nachkommen von 99 dort beigesetzten LitauerInnen eine Gedenktafel auf. Latypow bemühte sich hierfür um eine staatliche Anerkennung als Gedenkort – bislang vergeblich.

Im August begleiteten Freiwillige von Memorial eine Gruppe aus Litauen nach Galjaschor, um die Grabstätten von Unterholz und Unkraut zu befreien. Kurz darauf marschierte ein ganzer Trupp von staatlichen Behörden auf, darunter: das Umweltministerium, die Kriminalpolizei, das Migrationsamt. Insbesondere die litauischen TeilnehmerInnen gerieten ins Visier der Behörden – sie wurden zu Aussagen gedrängt und später abgestraft. Auch die NGO Memorial und ihr Chef Latypow erhielten Bussen – wegen «illegaler Besetzung eines Waldgrundstücks».

Am 30. Oktober, dem offiziellen Gedenktag für die Opfer politischer Repression, kritisierte Latypow an einer Kundgebung das rüde Vorgehen des FSB. Damit überschritt der Menschenrechtsaktivist womöglich eine rote Linie. Denn am nächsten Morgen folgten prompt die Razzien. Wobei der Durchsuchungsbefehl dafür offenbar derart übereilt ausgestellt worden war, dass darauf die Büroanschrift von Memorial fehlte.

Kompromittierende Vorwürfe

Nur zehn Tage später, am 9. November, folgte der nächste Schlag. Journalisten des – für seine russische Oppositionelle diffamierenden Beiträge berüchtigten – Fernsehsenders REN TV lauerten Latypow beim Memorial-Büro auf und bedrängten ihn hartnäckig mit Fragen zu Pädophilie. Sie behaupteten, bei ihm seien Fotos und Unterlagen sichergestellt worden, die einen solch schwerwiegenden Verdacht begründeten. «All das war eine Einschüchterungsaktion. Und gleichzeitig ging es um die Suche nach kompromittierendem Material», sagt Latypow. Für ein Verfahren gegen ihn fehlten nicht nur die Beweise – es wurde auch keine Strafanzeige eingereicht.

Latypows Fall erinnert mehr und mehr an die bereits über Jahre andauernde Rufmordkampagne gegen Juri Dmitrijew. Der mittlerweile 63-Jährige ist Historiker, Menschenrechtler und Vorsitzender von Memorial in Karelien. Er suchte unermüdlich nach Spuren von in den 1930er Jahren erschossenen Gefangenen und machte seit 1997 die Grabstätten von weit über 9000 Menschen ausfindig.

Der erste Prozess wegen Kinderpornografie gegen ihn endete im April 2018 mit einem Freispruch. Nun lautet die Anschuldigung in einem zweiten Verfahren inzwischen auf sexuellen Kindesmissbrauch – worauf eine Gefängnisstrafe von bis zu zwanzig Jahren steht. Die Verteidigung vermutet, dass die Grossmutter von Dmitrijews Pflegetochter auf Druck der Behörden die Strafanzeige eingereicht habe.

Wie Robert Latypow übte auch Juri Dmitrijew öffentlich immer wieder scharfe Kritik an den politischen Verhältnissen. Zudem läuft die historische Aufklärungsarbeit über die Staatsgewalt während des Stalinismus dem in Russland häufig anzutreffenden bedingungslos patriotischen Staatsverständnis zuwider. In diesen Fällen stehen also nicht die Belange oder das Wohl eines Kindes im Vordergrund, sondern die russische Geschichte – und das Verhindern von deren Aufarbeitung.