Erinnerungspolitik: Ein Stück Würde zurückgeben
Auf der ganzen Welt verlesen Tausende Menschen jedes Jahr öffentlich die Namen von Stalinismusopfern. Zum ersten Mal auch in Bern – mit einem Fokus auf Schweizer:innen, die vom Sowjetregime ermordet wurden.

Es ist ein kleines Grüppchen, das sich an diesem neblig-kalten Samstag Anfang November auf dem Waisenhausplatz in Bern versammelt hat. Etwas verloren stehen die rund dreissig Leute, nicht wenige haben das Pensionsalter überschritten, in einem weiten Bogen um fünfzehn rote Grabkerzen herum, die fein säuberlich auf dem Asphalt aufgereiht sind. Zwei halten ein Transparent in die Höhe: «Putin kriminell, Ukraine frei!», steht drauf. Und: «Menschenrechte für Russen!»
Das Treffen initiiert hat die Schweizer Sektion von Memorial, der renommiertesten Menschenrechtsorganisation in Russland. Sie ist so etwas wie das historische Gedächtnis eines Landes, das sich seiner gewaltvollen Vergangenheit nie offiziell gestellt hat. Ende Dezember 2021 – nur wenige Wochen bevor das Regime von Wladimir Putin die gesamte Ukraine angriff – hatten Gerichte in Moskau den Dachverband Memorial International sowie das gleichnamige Menschenrechtszentrum aufgelöst. Seither führen Ableger quer durch Europa die Arbeit fort: Sie bemühen sich um eine würdevolle Erinnerung an die Opfer des Stalinismus – und kämpfen für jene, deren Würde vom heutigen Regime verletzt wird.
Gedenken an 130 Orten
Wie viele Menschen dem sowjetischen Staatsterror zwischen 1917 und 1991 zum Opfer gefallen sind, weiss niemand genau. Memorial, das in den mehr als drei Jahrzehnten seines Bestehens ein umfangreiches Archiv aus Oral-History-Zeugnissen, Opferlisten und Täter:innenhinweisen aufgebaut hat, geht von über elf Millionen Verfolgten auf dem gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion aus, von denen rund eine Million hingerichtet wurden. Wie aber lässt sich eine Erinnerung schaffen, die neben dem Ausmass des Verbrechens auch dem einzelnen Schicksal gerecht wird?
Eines der ambitioniertesten Projekte von Memorial – und der Grund für die Zusammenkunft in Bern – ist die Aktion «Rückgabe der Namen». Jahr um Jahr verlesen Tausende Menschen in russischen und anderen Städten Ende Oktober öffentlich die Namen der zahlreichen Opfer des Grossen Terrors. Die grösste Zeremonie fand jeweils an einem Gedenkstein vor dem Hauptquartier des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB in Moskau statt – bis sie vor vier Jahren verboten wurde. Seither geht das Gedenken in Russland im Verborgenen oder online weiter. Immer wichtiger werden zudem die Aktionen in anderen Ländern, dieses Jahr sollen es über 130 gewesen sein – in Seoul und Sydney, Jerewan, Miami und Vilnius. Die Veranstaltung in Bern ist die erste in der Schweiz.
Die fünfzehn Kerzen auf dem Waisenhausplatz sind Schweizer Opfern des Stalinismus gewidmet. Wie viele es insgesamt waren, ist nicht bekannt, eine Suche in der Memorial-Datenbank ergibt aber 86 Treffer. Einige davon, so schätzen Historiker:innen, sind schon während der Zarenzeit aus ökonomischen Gründen nach Russland ausgewandert, andere fühlten sich nach der Russischen Revolution als Kommunist:innen von der Sowjetunion angezogen.
Einen Namen nach dem anderen lesen die Anwesenden vor, zwei bis vier pro Person. Alter und Beruf, Zeitpunkt von Verhaftung, Hinrichtung, schliesslich Rehabilitierung. Mehr lässt sich über die Ermordeten kaum herausfinden. «Sergej Iwanowitsch Haldi, geboren in Bessarabien, 34 Jahre alt. Antisowjetischer Agitation beschuldigt, 1935 verhaftet und ins Lager gesteckt, wo er erneut Repression erfuhr und am 4. Mai 1935 durch die Kugel starb. 1955 rehabilitiert.»
Jemand anderes tritt ans Mikrofon. «Iwan Iwanowitsch Hofstetter», liest er vor. «Geboren in Speicher in Appenzell-Ausserrhoden, 36 Jahre alt, Zootechniker im landwirtschaftlichen Grossbetrieb Wasjkino. Beschuldigt, auf Anweisung der deutschen Gegenspionage eine konterrevolutionäre Organisation gegründet zu haben, erschossen am 9. August 1938 in Moskau. 1958 rehabilitiert.» Auch eine Frau findet sich auf der Liste: «Anna Germanowa Walter, 45 Jahre alt, Malerin in einer Baumwollfabrik. Der Spionage beschuldigt, erschossen am 8. Oktober 1938. Rehabilitiert am 16. Januar 1989.» Während feierlich weitere Namen vorgetragen werden, ruft ein vorbeifahrender Lastwagenfahrer, die Faust aus dem Fenster gereckt: «Free Ukraine!»
Gegründet haben die hiesige Memorial-Sektion im Sommer 2023 ein paar Slawistinnen, Historiker und andere Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Schweizer Städten, seinen Sitz hat der Verein mit inzwischen 250 Mitgliedern in Genf. «Nach der Auflösung von Memorial und Russlands Einmarsch in die Ukraine sah ich es als meine bürgerliche Pflicht an, meine Zeit im Ruhestand der Sache von Memorial zu widmen», sagt Patrick Sériot, emeritierter Slawistikprofessor an der Universität Lausanne und Vereinsvorsitzender, kurz vor Beginn der Aktion.
Neben dem Erinnern an die Verbrechen des Stalinismus gehe es ihm darum, sich für die Menschenrechte in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion einzusetzen und beim «Aufdecken der Lügen des Putin-Regimes» zu helfen, so der 75-Jährige. Sériot gibt sein Wissen als Slawist an Schulklassen weiter, organisiert Tagungen und Vorträge – und führt Memorial-Aktionen wie die «Rückgabe der Namen» in der Schweiz weiter.
«Die Möglichkeit, etwas zu tun»
Ein paar Tage zuvor findet Elena Schemkowa, die als Geschäftsführerin von Memorial viel unterwegs ist und auch jetzt gerade vom Flughafen kommt, Zeit für einen Videocall, um von den Anfängen der «Rückgabe der Namen» zu erzählen – einer Aktion, die es ohne sie gar nicht geben würde. «2005, im Zuge der pompösen Feierlichkeiten zum Jubiläum des sowjetischen Sieges über Nazideutschland, wurde uns klar, dass das Regime einen Angriff auf die Erinnerung plant», sagt die studierte Mathematikerin. Statt um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte sei es dem Regime um den Aufbau einer Mythologie gegangen. Das habe sich auch am 30. Oktober gezeigt: Der «Tag für die Opfer politischer Repression in der Sowjetunion» ist das einzige offizielle Gedenkdatum, das die Zivilgesellschaft der Staatsmacht abgetrotzt hat. Über die Jahre habe diese das Gedenken zunehmend monopolisiert – und die Zivilgesellschaft immer weiter an den Rand gedrängt.
«Neben dem Kampf gegen diese Vereinnahmung wollten wir auch eine Form finden, um die individuellen Schicksale hinter den Zahlen sichtbar zu machen», erinnert sich die 64-Jährige. So entstand die «Rückgabe der Namen», die jeweils am Vorabend des Gedenktags stattfindet. Als Vorbild hätten ihr die «Stolpersteine» gedient, mit denen in deutschen Städten der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird.
2007, als die «Rückgabe der Namen» erstmals in Moskau durchgeführt wurde, hätten sie Angst gehabt, dass niemand auftaucht; schnell aber sei die Aktion so erfolgreich geworden, dass die Leute stundenlang mit Blumen und Kerzen in der Kälte Schlange gestanden hätten, um mitzumachen. «Das vielleicht Wichtigste daran ist, dass wir den Leuten eine Form der Teilnahme anbieten», sagt Schemkowa, die Russland nach Beginn der Vollinvasion der Ukraine verlassen musste und heute in Deutschland lebt. Viele würden Bitterkeit und Trauer verspüren, eine Verpflichtung gegenüber den Toten, vielleicht auch Scham oder ein Gefühl der Schuld. «Ich glaube, dass gerade Menschen, die sich nicht trauen, offen zu demonstrieren, froh sind, etwas tun zu können.»
Zwar helfe Memorial jeweils bei der Organisation, die Initiative aber müsse von den Leuten vor Ort ausgehen. «Solange sich in der Schweiz niemand findet, der an einen bestimmten Ort gehen und bestimmte Namen verlesen will, geschieht auch nichts», resümiert die Menschenrechtlerin.
Am Nachmittag nach der «Rückgabe der Namen» streicht der Bremer Historiker Wolfgang Eichwede, dessen Forschungsstelle eines der weltweit grössten Archive von im «Samisdat» (Selbstverlag) publizierten Schriften in der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks beherbergt, an einer Konferenz die geschichtspolitische Bedeutung von Memorial heraus. Er erinnere sich noch gut an die spätsowjetischen Aufbruchsjahre, als die Leute von Memorial ein Denkmal für Stalinismusopfer initiiert hätten und daraus eine ganz neue Gesprächskultur entstanden sei. «Am meisten bewegt hat mich, dass es sich um eine Initiative von unten handelte, den Versuch einer gesellschaftlichen Selbstkorrektur», so der Wissenschaftler.
Memorial, das wird auch in Eichwedes Worten klar, war nicht nur die grösste soziale Bewegung der Perestroika-Jahre – was für sich genommen schon viel wäre. Bedeutender könnte die Organisation auch deshalb nicht sein, weil sie das Verständnis der sowjetischen Geschichte als Schlüssel nutzt, um Russlands Gegenwart zu begreifen.
Chronist der Verbrechen
Seit Anfang der Neunziger kämpft das Memorial-Menschenrechtszentrum in Moskau gegen diese Gegenwart an. Es unterstützt politische Gefangene und Geflüchtete, schickt aber auch Beobachter:innen in Kriegsgebiete. Praktisch in jeder Konfliktzone des postsowjetischen Raums war Memorial aktiv – oft gerieten die Mitarbeiter:innen selbst ins Visier: 2009 etwa wurde die Anwältin Natalija Estemirowa in Tschetschenien ermordet. Je repressiver das Putin-Regime mit den Jahren wurde, desto mehr Druck übte es auch auf Memorial als den Chronisten seiner Verbrechen aus – bis zur Schliessung des Zentrums 2021. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Repression ein neues Höchstmass erreicht.
Gemeinsam mit Geschäftsführerin Elena Schemkowa ist am Samstag auch Oleg Orlow nach Bern gekommen, der Leiter des liquidierten Menschenrechtszentrums und ebenfalls ein Urgestein der Bewegung. Von Februar bis August sass Orlow im Straflager, weil er sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte. Im Sommer kam er bei einem spektakulären Gefangenenaustausch mit dem Westen frei, seither lebt er im Berliner Exil. Auch Schemkowa und Orlow verlesen Namen von Repressionsopfern. Während sie an Leute erinnert, die einst im selben Moskauer Wohnblock lebten wie sie, rezitiert er die Biografien jener, die in der Kolonie umkamen, in der er seine Haft verbüsste.
Nach knapp einer halben Stunde ist die Aktion auf dem Waisenhausplatz vorbei, wird das Transparent eingerollt, werden die Kerzen eingesammelt. Die «Rückgabe der Namen», das wird an diesem Tag deutlich, ist nicht nur ein Akt des Widerstands gegen den Versuch der Staatsmacht, die Opfer der Vergangenheit aus der kollektiven Erinnerung zu löschen. Es ist auch ein Akt der Solidarität mit den Unterdrückten von heute.
Wie erging es Oleg Orlow im Straflager? Und wie bereiten er und seine Mitstreiter:innen sich auf ein Russland nach Putin vor? Ein ausführliches Interview mit dem prominenten Menschenrechtler lesen Sie in einer der kommenden WOZ-Ausgaben.