Von oben herab: Tempo giusto

Nr. 47 –

Stefan Gärtner über Verkehr nach Berner Art

Dass die Schweiz nicht für Überraschungen gut wäre, wird man schon mit Blick aufs überraschend früh eingeführte Frauenwahlrecht oder das überraschende «Nein» Ruedi Widmers auf die Frage, ob er noch eine Stange wünsche (19. 10. 2019, 4.32 Uhr), verneinen. Überraschend hat jetzt die Studie eines Onlineersatzteilhändlers ergeben, dass Bern die viertautofreundlichste Stadt der Welt sei – also die Stadt, die am viertfreundlichsten zum Auto ist, nicht am freundlichsten zum Viertauto –, zwar hinter Calgary, aber vor Zürich, Basel, Genf sowie, noch überraschender, jeder Stadt in den USA.

Und das trotz des verkehrspolitischen Bolschewismus, den Bern sich erlaubt, wie der «Bund» weiss, der eine «Tempo-30-Offensive» bekrittelt, in deren Zuge die Stadt «in mindestens einem Fall» das «rechtsordentliche Verfahren verletzt» habe: «Auf einem Abschnitt der Bümpliz- und der Bottigenstrasse hat die Stadt im Februar per Verfügung eine Tempo-30-Zone eingeführt, obwohl gegen diese eine Beschwerde beim Regierungsstatthalteramt hängig war. Die entsprechenden Markierungen hat die Stadt erst entfernt, nachdem Tempo-30-Gegner beim Regierungsstatthalter interveniert hatten. Dem ‹Bund› sind zudem noch weitere Fälle zugetragen worden, wonach es die Stadtbehörden bei anderen Verkehrsmassnahmen mit der Bewilligung ebenfalls nicht so genau genommen haben sollen.»

Und etwas in der Schweiz nicht so genau nehmen ist noch mal was anderes als in Mumbai, das im Autofreundlichkeitsranking deshalb auch verdient auf dem 100. und letzten Platz gelandet ist, und beweist die Schweiz, jenseits von Käse, WOZ und Widmer, einmal Weltniveau, kommen gleich die Bedenkenträger und Klimaspinnerinnen und führen rechtsunordentlich Tempo-30-Zonen ein. Dabei reicht Tempo 30 nicht einmal, um einen Erwachsenen verlässlich krankenhausreif zu fahren, da muss man schon auf spielende Kinder oder wenigstens eine Oma hoffen, während bei 50 klar ist, wer am längeren Schalthebel sitzt. In der Stadt, in der ich wohne, strebt der frisch gewählte Oberbürgermeister eine autofreie Innenstadt an – dass Hannover damit beim nächsten Autobereitschaftsentscheid chancenlos sein wird, ist dem Politiker von den linksfaschistischen Grünen natürlich jene Wurst, die er ebenfalls bald verbieten wird.

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass man nicht mehr sagen und spachteln darf, was man will, soll man auch nicht mehr nach Gusto parken: «Ebenso nervig wie die flächendeckende Einführung von Tempo 30 ist für die Bürgerlichen und die Gewerbler die Aufhebung von Parkplätzen. Mit der Unterstützung der Behörden kann nun aber seit rund einem Jahr bei der Stadt die Umwandlung von Parkplätzen in Orte zum Verweilen beantragt werden» (ebd.). So lässt sich weder ein vierter Platz noch ein pulsierendes Wirtschaftsleben verteidigen, das ja auf die lückenlose Bebrummbarkeit des Planeten angewiesen ist. Um die Kleinstadt meiner Kindheit herum führt seit zehn Jahren die Umgehungsstrasse, die die Gewerbler nie wollten, und seither steigt keine Truckerin mehr aus ihrem Vierzigtonner, um auf der Durchreise zwischen Fachwerk einen Kaffee zu trinken. Ruhe, Sicher- und Abgasfreiheit in einem Städtchen, aus dem ich heute um gewiss ein Prozent weniger dringend wegwollen würde als damals, wurden da allzu teuer erkauft.

Dass, wie die Berner Verkehrsdirektorin Ursula Wyss (SP) triumphiert, «die Wahrnehmung der Autolobby in und um Bern» falsch sei und nämlich alles zum Besten und Schnellsten bestellt, ist freilich genauso verkehrt, denn da kann sich die Schweiz, zur Freude von «Bund», Gewerbe und Bürgerlichen, von den Niederlanden noch was abgucken: Dort haben sie jetzt einfach so Tempo 100 eingeführt.

Und mehr, so finden wir, ist auch nicht nötig; man will ja an den Geschäften nicht vorbeifahren.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.