Lorenz «Lori» Gerbig (1962–2019): Abschied von einem Unbeugsamen

Nr. 3 –

Berühmt wurden andere, er aber beglückte die Versprengten: Lori Gerbig gehörte zu den MusikerInnen, die in Zürich den Soundtrack zu einer Stadt im Wandel lieferten.

Er war unermüdlich, aber auch ungeduldig, und sein Leben gäbe einen guten Rock-’n’-Roll-Song her: Lori Gerbig alias Lourie Lorraine, hier 1992 in Brüssel. Foto: Richard M. Gerbig

Irgendwann lernte man sich eben kennen, in dieser postbewegten Stadt, in der Musik das Einzige war, was noch zählte. Lorenz «Lori» Gerbig spielte bei der Band When the Shit Hits the Fan, woran ich aber keine Erinnerung mehr habe, ausser einer Flexi-Disc, der ersten Aufnahme, auf der Lori zu hören ist. Ein paar Jahre später gab ich eine Single seiner Band Lizard Kid heraus. Wie es genau dazu kam, ist, wie so vieles aus jener Zeit, nicht rekonstruierbar. Wer die späten achtziger und die neunziger Jahre in Zürich verbracht hat, so viel hingegen ist gewiss, hat Lori in der einen oder anderen Formation auf der Bühne gesehen.

Er spielte gern und oft und überall. In bleibender Erinnerung ein Konzert im Schaufenster des damals ehrwürdigen Warenhauses Jelmoli. Die DrittjahresstiftInnen hatten es zu ihrem Lehrabschluss organisiert, der Hausdienst setzte dem Treiben mittels Abdrehens des Stroms ein rasches Ende. Doch fanden sich Aussensteckdosen, und so führte Lori das Konzert auf der Seidengasse fort. Mit dem Lieferwagen, der Anlage und Bier herbeigekarrt hatte, wurde die Strasse kurzerhand abgesperrt, an einem Donnerstag während des Abendverkaufs im Frühsommer. Nur ein Polizeieinsatz hätte Lori und seine Band vom Spielen abgehalten. Schön war das, und auch ein bisschen wild und anarchisch.

Lori war, was Musik betraf, begeistert, besessen, fanatisch. Auch wenn er in frühen Jahren einmal den neuen Schlagzeuger für seine Band The Axeman’s Jazz an der Bar rekrutierte, weil der optisch besser in die Band passte, und dabei grosszügig darüber hinwegsah, dass der junge Mann (heute Sänger der Seniles) gar nicht Schlagzeug spielte: Er hatte Ansprüche an sich, seine Musik und seine Mitmusiker. Was die oft wechselnden Besetzungen und Bandnamen teilweise erklärt. Er wollte nicht einfach andere kopieren oder einen bestimmten Stil spielen, er wollte etwas Eigenes entwickeln. Er kam vom Rock ’n’ Roll, liebte Bo Diddley, aber auch New Wave, Psychobilly und Punk. Später interessierte er sich für Highlife, einen westafrikanischen Stil, der sein Gitarrenspiel beeinflusste. Er spielte auf einer roten Gretsch, die zu stimmen auf der Bühne mitunter längere Zeit in Anspruch nahm, was Teil der Show wurde.

Express auf dem Töffli

Er war unermüdlich, aber auch ungeduldig, er hatte eine Krankheit, über die er nicht sprach. Die Ärzte hatten prophezeit, dass er das Erwachsenenalter nicht erreichen würde, und rieten davon ab, den Jungen eine Lehre machen zu lassen. Das Alter erreichte er, das Erwachsensein interessierte ihn weniger.

Lange Zeit arbeitete er als Expresspöstler, ein Job, der viel Freiheit liess. Expresspöstler auf ihren Mofas traf man ständig in der Stadt. Sie waren ungefähr das, was heute das Internet ist: Verbreiter von Nachrichten. Wo findet wann was statt? Wer macht was mit wem? Und vor allem: Wer spielt wann wo?

Verkannt, aber unbeirrt

Irgendwann wurde Lori in Zürich alles zu viel oder vielleicht auch zu wenig, er wanderte für ein paar Jahre nach Brüssel aus. In dieser Zeit veröffentlichte er als Lourie Lorraine 3 eine aufwendig gestaltete Doppelsingle. Das Innencover ziert ein Schwarzweissbild einer Strasse, in der Mitte Schienen und weit hinten ein Tram. Lori fotografierte viel und interessierte sich für Trams. Kein typisches Hobby für einen, der bei Los Buffos in einer Punkband spielte. Er passte in kein Schema, wodurch es ihm immer wieder gelang, Leute aus ganz verschiedenen Ecken zusammenzubringen. Als sich die Nachricht von seinem Tod verbreitete, berichteten Freunde wie David Langhard von Howlong Wolf oder der Produzent Dan Suter auf sozialen Medien, wie er ihnen musikalische Welten eröffnet, sie inspiriert und dazu gebracht habe, selber Musik zu machen.

Hier müsste nun der Teil der Geschichte folgen, in dem der junge Mann mit der lodernden Leidenschaft einen Hit landet, berühmt wird oder sich zumindest im Untergrund ein so treues Publikum erspielt, dass er fortan durch die Welt zieht, Musik macht und glücklich wird. Es kam anders. Nach zwei Singles unter dem Namen de Lorain’s Stray Bullets wurde es still um Lori. Er verschwand von der Bildfläche, musste die Gitarre an den Nagel hängen. Es ging nicht mehr. Gesundheitlich und auch sonst. Die Post wurde umstrukturiert, die ExpresspöstlerInnen mit ihren Mofas verschwanden aus dem Stadtbild. Lori wurde Velokurier, bis auch das nicht mehr ging. Er fotografierte weiterhin Trams, Baumaschinen und Hausabrisse, dokumentierte die Veränderung in seinem Quartier Schwamendingen.

Lori Lourie Lorraine gehörte definitiv zu den MusikerInnen, die Zürich mitgestaltet haben, die den Soundtrack lieferten zu einer sich wandelnden Stadt, die zusehends im Technorhythmus wogte und Gitarren müde belächelte. Er beglückte die Versprengten, die sich in Hinterhöfen und Kellerbars zusammenfanden. Einer jener unbeugsamen Helden, die verkannt, aber unbeirrt durch die Welt zogen und deren Lebensgeschichte einen guten Rock-’n’-Roll-Song hergäbe. Einen von der Sorte, wie Lorenz Gerbig sie auf seinen Singles hinterlassen hat. Er starb am 27. Dezember 2019 im Alter von 57 Jahren.