Literatur und Identität: Kann denn ein Autor nicht schwarz genug sein?

Nr. 4 –

Wer schreibt, der widerspricht der Festschreibung ethnischer Grenzen – und unterwandert Identitäten. Es wäre daher an der Zeit, den falschen Mythos von Authentizität aufzugeben.

«Die sichtbar gewordene Farbigkeit der Gesellschaft verhindert, dass wir Weisssein noch länger als normativ setzen»: PassantInnen im Zürcher Hauptbahnhof. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Die Schweiz ist endlich farbig und Weiss eine Hautfarbe unter anderen – und zwar dank des neuen Selbstbewusstseins der zweiten und dritten Generation von Menschen mit Migrationshintergrund, die an der Blindheit der Mehrheitsgesellschaft rütteln. Die dadurch sichtbar gewordene Farbigkeit der Gesellschaft verhindert, dass wir Weisssein noch länger als normativ setzen. Aus diesem Grund muss zurzeit vieles neu gesehen, gedacht und geschrieben werden. In der Sprachunsicherheit bilden sich diese Formen des Übergangs ab: Die Sprache schafft Realitäten und reagiert auf tektonische Verschiebungen im sozioethnischen Gesellschaftsgefüge.

Auch meine Geschichte als Farbiger findet nun Worte, die allgemein verstanden werden. Sie bleibt nicht mehr durch Scham – also falsch verinnerlichte Schuldgefühle – unausgesprochen. Schon als Kindergartenkind wurde mir beigebracht, dass ich nicht zu den Weissen gehöre, als mir ausgerechnet in der Sonntagsschule der erste Lausbub das N-Wort hinterherrief, nachdem er sein «Bätzeli» ins «Kässeli» geworfen und das «Negerli» dankbar mit dem Kopf genickt hatte.

Im Lauf der Schulzeit begegneten mir viele Formen schweizerischer Ausgrenzung, meist von einer komplexeren und gleichzeitig unterschwelligen Art. Gewisse Lehrer hätten mich statt im Gymnasium lieber in einem Handwerksberuf gesehen. Oder aber die Diskriminierung erfolgte mit einem freundlichen Kompliment, das meine in den Ferien erworbene Hautbräunung betraf.

Bis in die nuller Jahre blieb ich, wie alle anderen People of Color (POC) auch, mit diesem ethnischen Schatten allein und war immer mal wieder unsichtbar – «unsichtbar» im Sinne eines sozialen Phänomens, das in den Augen und im Kopf der weissen Mehrheitsgesellschaft hergestellt wird. «Der unsichtbare Mann» von Ralph Ellison, der in einem Kellerverlies mit über tausend Glühbirnen sein Leben verbringt, war mir als Doppelgänger stets auf den Fersen.

An der Blindheit rütteln

Trotz der neuen Sichtbarkeit fehlt es an den Schulen, in denen dreissig bis vierzig Prozent SchülerInnen mit Migrationshintergrund sitzen, weiterhin an einer Anpassung der Lehrpläne. Es gäbe also, angesichts dieser Ungleichzeitigkeit der Realitäten, viel zu tun.

Wie viele Klippen es aber in Initiativen zur kulturellen Partizipation gibt, habe ich unlängst mit einem eigenen Projekt erfahren. Als einer von fünf KuratorInnen für ein Experiment in kultureller Teilhabe in der Basler Kaserne brachte ich Texte von Reni Eddo-Lodge, Amina Abdulkadir, Khue Pham und aus eigener Feder zur Aufführung – und wählte dafür keine schwarze, sondern eine schweizerisch-serbische Schauspielerin und einen deutsch-schweizerischen Regisseur. Die gegen ein Mehrheitspublikum gesprochenen Sätze sollten gebrochen und gleichsam durch einen brechtschen Verfremdungseffekt verständlicher werden: Ich wollte, dass Hautfarbe als Zuschreibung und nicht als alleiniges Identitätsmerkmal erlebbar wird.

Diese Wahl führte zu einem Konflikt, in dessen Zentrum nicht die Texte standen, die von Fremdheit, Exklusion und Privilegien handelten. Zum Konflikt wurde einzig die Frage der Repräsentation: Darf oder kann eine weisse Schauspielerin, auch wenn sie serbischer Herkunft ist, überhaupt Texte von Schwarzen «verkörpern»? Triggert sie damit tief sitzende Traumata, oder werden die Texte gar «missbraucht», wenn sie nicht von jemandem gesprochen werden, der aus derselben Minderheit stammt wie die Autorin? Ich sah mich plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ich mir, als Schweizer Autor mit karibischem Hintergrund, «schwarze Kultur» angeeignet hätte. Ich war auf einmal nicht schwarz genug. Jemand warf mir in den Social Media «Passing» vor und meinte damit wohl, dass ich als Weisser durchgehen und die weisse Mehrheit bedienen würde. Ausgeblendet wurde in diesem Zusammenhang alles, was ich je über Hautfarbe, Rassismus und den paranoiden Raum zwischen den «Rassen» geschrieben hatte. Ich fühlte mich plötzlich so weiss, wie ich es nie gewesen war.

Nun geht es bei der Frage, wem ein Text gehört, nicht um persönliche Befindlichkeit. Unter anderem geht es auch um die Adressierung eines kulturellen Beitrags und darum, wie man ein Angebot zum Gespräch mit der weissen Mehrheit macht. Wenn Institutionen sich heute für Minderheiten öffnen, sollte es also nicht nur um deren Repräsentation gehen, sondern ebenso sehr um ihre Sichtweise auf die Mehrheitsgesellschaft. Denn die Gräben, die zwischen den Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft klaffen, sind nach wie vor tief. «Die emotionale Distanz ist die Folge eines Lebens», schreibt Reni Eddo-Lodge, «in dem sich jemand vollkommen unbewusst darüber ist, dass seine Hautfarbe die Norm darstellt und alle anderen davon abweichen.»

Der glamouröse Auftritt einer schwarzen Dragqueen garantiert allein nicht, dass eine kosovarische Reinigungsfrau besser bezahlt und behandelt wird. Die mit richtigen Absichten in die Theater geholten POC-SchauspielerInnen können bestenfalls das Bewusstsein für die Ausgrenzung eritreischer Geflüchteter herstellen. Dabei wäre endlich eine wirkliche gesellschaftliche Diskussion über die Realitäten nötig, mit denen sich nichtweisse Menschen in diesem Land konfrontiert sehen. Und über die versteckten Privilegien, die unbewussten Vorurteile und die nach wie vor automatisierten Ausgrenzungen. Die Debatte darf nicht beim Streit um «Mohrenköpfe» oder rassistische Logos von Fasnachtscliquen aufhören.

Schreiben heisst widersprechen

Die Gesellschaft zerfällt in immer kleinere Segmente, was zuweilen eine Opferkonkurrenz zur Folge hat. Die Literatur einer Minderheit kann eine bestimmte Community ermutigen. Aber den Anspruch, das Bewusstsein aller zu schärfen und schliesslich zu verändern – das zeigt die eindrückliche Geschichte der feministischen Emanzipationsbewegung –, kann sie nur einlösen, wenn sie diese Partikularisierung aufhebt. Es muss ein Anspruch der Literatur bleiben, für ungerechte Verhältnisse eine Öffentlichkeit zu erzeugen. Umgekehrt verhindert die alleinige Inanspruchnahme von Kunstwerken oder Texten durch eine Community, sosehr sie vor dem Hintergrund des Missbrauchs durch die Mehrheitsgesellschaft verständlich sein mag, diese kritische Öffentlichkeit.

«Sind meine Kinder, deren Vater weiss ist, ‹zu weiss›, um sich mit schwarzem Leid auseinanderzusetzen? Wie schwarz ist schwarz genug?», fragt sich Zadie Smith, Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines weissen Vaters. Hinter dem Vorwurf, sich den Schmerz der «anderen» anzueignen, steht die implizite Annahme, es gäbe ethnische Voraussetzungen, wer worüber reden darf. Das läuft letztlich auf den Wunsch hinaus, die Welt in Ethnien aufzuteilen. Aber die Gesellschaft lässt sich weder in «schwarz» oder «weiss» noch in Ethnien aufteilen, denn sie wird immer gemischt sein. Ganz entgegen dem Mythos der Authentizität, der besagt, dass ein Text nur dann authentisch ist, wenn er durch die Biografie oder die Hautfarbe des Autors oder der Autorin beglaubigt wird. Folgte man nämlich diesem Mythos, gäbe es gar keine Literatur, weder eine «Madame Bovary» (Gustave Flaubert) noch eine «Mutter Courage» (Bertolt Brecht).

Auch nicht jede Meinung eines Betroffenen ist absolut wahr. Besteht denn nicht gerade die Literatur in einem Spiel der Identitäten? Schon als Schriftsteller bin ich nie ganz mit mir selber identisch. Um schreiben zu können, muss ich in andere Leben migrieren und muss mich, wie in meinem letzten Roman, als männlicher Autor auch in eine weibliche Figur einfühlen. Meine Texte sind dann in der Mehrheitsgesellschaft angekommen, wenn sie eine «weisse» LeserIn über ihre ethnische Identität hinauszuführen vermögen. Dann wird ein Text zum Angebot, die eigene Zugehörigkeit infrage zu stellen, und lädt zur Identifikation mit dem Fremden ein.

Literatur ist der Widerspruch gegen die Festschreibung ethnischer Grenzen und ein Ausdruck dessen, was nie ganz mit sich selber identisch ist. Sie unterwandert also fixe Identitäten. Es wäre die falsche Strategie, im Kampf um Anerkennung und gleiche Rechte politische und soziale Teilhabe aufzugeben. Statt an der Tabuisierung der eigenen Verletzungen mitzuwirken, kann die Literatur die strukturell-gesellschaftlichen Ursachen dieser Traumata blosslegen. Ihr Ziel muss bleiben, mit ästhetischen Mitteln die Gesellschaft als Ganzes zu bewegen, indem sie ein Bewusstsein für Minderheiten bei allen fördert, ohne neue Exklusionen zu schaffen.

Schriftsteller und Essayist

Der Schriftsteller Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken AG als Sohn eines Trinidaders indischer Herkunft und einer Schweizerin geboren. An der Universität Basel studierte er Germanistik, Philosophie und Ethnologie, unterbrochen von mehreren Auslandsreisen und längeren Aufenthalten in Frankreich. 1982 veröffentlichte er mit dem Roman «Die verborgenen Gärten» sein literarisches Debüt beim Münchner Carl-Hanser-Verlag. Es folgten zahlreiche weitere Romanveröffentlichungen; dazu betätigt sich Dean immer wieder als Essayist, wiederholt auch in der WOZ.

Im vergangenen Jahr publizierte Dean sein jüngstes Buch: «Warum wir zusammen sind». Der bei Jung und Jung erschienene Beziehungsroman erzählt von Irma und Marc, die seit zwanzig Jahren verheiratet sind; die Ehe gerät aber in eine Krise, als sich herausstellt, dass ihr gemeinsamer Sohn eine Affäre mit Irmas bester Freundin hat.

Dean lebt mit seiner Familie in Basel und arbeitet in Muttenz als Gymnasiallehrer mit Teilzeitpensum.